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Sport

Die geheime Welt iranischer Jiu Jitsu-Kämpferinnen

MMA-Stars wie Ronda Rousey haben Kampfsportarten zwar zu wachsender Beliebtheit verholfen, aber es gibt einen Ort, wo Frauen nicht auf der Matte stehen dürfen: im Iran. Zumindest offiziell.
Photo by Felix Hug via Stocksy

Leila* war 12 Jahre alt, als sie ihr Heimatland, den Iran, das erste Mal verließ. Sie verbrachte 15 Jahre in Großbritannien, bevor sie als erwachsene Frau Mitte 20 wieder zurückkehrte—nur dieses Mal hatte sie das Jiu-Jitsu-Fieber gepackt.

Leila hatte sie sich in die brasilianische Sportart verliebt, eine der schnellst wachsenden Kampf- und Wettbewerbssportarten der Welt. Ihre Popularität hat die Sportart zum Teil auch dem weltweiten Erfolg der UFC (Ultimate Fighting Championship) zu verdanken.

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BJJ ist eine Kampf- und Kraftsportart, ähnlich dem Olympischen Ringen oder Judo, bei der die Gliedmaßen und der Torso des Gegners durch den Einsatz verschiedener Umklammerungstechniken unter Kontrolle gebracht wird. Ziel ist es, den Gegner durch Würge- und Gelenkhebeltechniken zum Aufgeben zu zwingen.

Während dem Sparring—auch „Rollen" genannt—werden die Trainingspartner unweigerlich in die intimsten Positionen verwickelt, was—wie man sich vorstellen kann—in einem Land mit einer der strengsten Geschlechtertrennungen der Welt ein ziemliches Problem darstellt.

„Frauen dürfen den Männern noch nicht einmal beim Training zusehen", sagt Leila, der es nichts ausmacht mit ihren männlichen Kollegen auf der Matte zu stehen.

Nach der Islamischen Revolution 1979 führte der Ayatollah Ruhollah Khomeini die allumfassenden Gesetze der Scharia ein, welche auch eine Litanei an Regeln mit sich brachte, die festlegen, wie sich Männer und Frauen in der Öffentlichkeit zu verhalten haben. Für Leila ist das tägliche Kampfsporttraining auch ohne die Furcht vor staatlich verordneten Todesstrafen und Sanktionen schon aufreibend genug.

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„Sexismus existiert einfach überall. Es ist mir egal, ob ich mich verhüllen muss, aber die Art und Weise, wie sie dich ansehen, wie sie dich behandeln … Hier kann ich als Frau nicht tun und lassen, was mir gefällt", erklärt mir Leila während unseres Telefonats. Die Verbindung aus Teheran ist schlecht und die Leitung knistert.

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Und auch umgekehrt wird der körperbetonte Sport als viel zu sündhaft und verführerisch angesehen, als dass iranische Kampfsportler überhaupt darüber nachdenken, geschweige denn es wagen könnten mit einer Frau zu trainieren.

Männer und Frauen kommen sich beim Training und beim Kampf oft ziemlich nahe. Foto: Leila

„Generell verleiht Jiu Jitsu sowohl Frauen als auch Männern das Selbstbewusstsein jeder Lebenssituation begegnen zu können", sagt Rober Gracie, der Enkel des Gründers dieser Kampfsportart und mit zehn Weltmeisterschaftstiteln auch der bei Weitem erfolgreichste Kämpfer aller Zeiten.

Wir sprechen miteinander, während er gerade eine Unterrichtsstunde an der berühmten Roger Gracie Academy im Westen Londons beendet. „Manche nutzen es als Training, andere nutzen es als Sport und wieder andere nutzen es zur Selbstverteidigung. Wir haben eine Schülerin hier, die vor ein paar Wochen von zwei großen Typen auf der Straße angegriffen wurde", erklärt er. „Sie haben versucht, sie auszurauben, warfen sie auf den Boden und versuchten sie festzuhalten. Aber sie konnte sich erfolgreich verteidigen und entkam den beiden großen Typen."

„Egal wie unheimlich eine Situation ist", fügt er hinzu, „du weißt immer, dass es einen Ausweg gibt."

Im Kampfsport zählt nicht Größe oder Stärke, der Schlüssel zum Erfolg liegt in überlegener Technik. Das macht ihn gerade auch für Frauen interessant—und führt dazu, dass Sportlerinnen wie die olympische Judokämpferin Ronda Rousey und Miesha Tate, die aktuelle Gewinnerin im Batamgewicht der UFC, sich vor ihren männlichen Kollegen beileibe nicht verstecken müssen.

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Dennoch haben die internationalen Sanktionen gegen den Iran den Durchbruch der BJJ-Szene in den Ländern im Mittleren Osten verhindert, da sich viele Lehrer lieber in Brasilien, den USA, Europa oder Ostasien niedergelassen haben. In den Vereinigten Arabischen Emiraten, nur ein paar Kilometer weiter über den persischen Golf, wurde BJJ dank der Unterstützung von Sheikh Tahnoon bin Zayed zu einem inoffiziellen Nationalsport—obwohl die Sportlerinnen dort mit ähnlichen Einschränkungen konfrontiert sind.

Leila mit Kopftuch und ihrem Jiu Jitsu-Anzug. Foto: Leila

Allgemein ist Brazilian Jiu Jitsu im Iran eine relativ neu aufkommende Sache, erklärt Leila, weshalb es auch nur vier oder fünf kleine Verbände im ganzen Land gibt. Stattdessen schauen sich viele Kampfsportler Lehrvideos auf YouTube an, um neue Techniken auszuprobieren und zu lernen. Nachdem es keine Möglichkeit gibt, es vor Ort zu lernen, ist Jiu Jitsu für Frauen quasi nicht existent—zumindest nicht unter den Augen des Gesetzes.

Im letzten Jahr hat Leila in London eine zweimonatige Pause vom Training genommen, um nach Hause zur Beerdigung ihres Vaters zu fliegen. „Ich habe meine Kraft verloren und ich konnte meinen Körper nicht mehr so bewegen wie sonst. Es war wirklich schlimm und diese Erfahrung wollte ich nicht noch einmal machen."

Heute lebt und arbeitet sie in Irans Hauptstadt. Leila trainiert heimlich mit einem anderen BJJ-Kämpfer, einem Mann, der wie sie „einfach nur ‚rollen' will."

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Nachdem die beiden über private soziale Netzwerke Nachrichten geschrieben haben, haben sie bemerkt, dass sie denselben Wunsch hatten: ihre persönlichen Fertigkeiten zu schärfen. Nachdem sie einen Fitnessstudiobesitzer gefunden hatten, der bereit war ein Auge zuzudrücken, begannen sie mit ihrem Versteckspiel vor der städtischen Moralpolizei, um an den Wochenenden (im Iran am Donnerstag und Freitag) in den frühen Morgenstunden unentdeckt trainieren zu können.

„Laut Gesetz dürfen wir nicht gemeinsam trainieren. Das Fitnessstudio muss sich dem Gesetz der Scharia unterwerfen. Es ist gefährlich. Wenn sie uns entdecken, können sie das gesamte Studio schließen."

Ich frage sie, welche Strafe sie erwarten würde, wenn sie jemals jemand dabei erwischen würde, wie sie gemeinsam trainieren.

Sie lacht, schon fast etwas aufsässig, bevor sie kurz etwas abseits unseres Telefonats in schnellen und flüssigem Farsi sagt. „Es ist ein korruptes Land", sagt Leila, als sie wieder zurück am Telefon ist. „Man müsste Strafe zahlen."

„Oder vielmehr Bestechungsgeld", fügt sie lachend hinzu. „Man zahlt 250 Euro oder sowas, du bestichst sie und sie nehmen dich mit zur Polizei, um eine Erklärung zu unterschreiben, in der steht, dass du einen Fehler gemacht hast und dass du es nicht wieder tun wirst. Wenn du ihnen Geld gibts, ist alles ok."

Das letzte Mal, als ich Leila persönlich getroffen habe, sagte sie mir, dass verschlüsselte Nachrichtendienste für die Entwicklung des weiblichen Kampfsportes im Land eine Errungenschaft waren, weil sie ihnen dabei helfen, unter dem Radar der Regierungsspione zu bleiben.

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Als Frau im Iran unter dem Gesetz der Scharia zu leben und zu trainieren war ein ziemlicher Kulturschock im Vergleich zu ihrem früheren Leben in London, „wo sich niemand dafür interessiert, wo du hingehst und was du machst."

Wie einige andere Kampfsportlerinnen im Land ist auch Leila bereit, dieses Risiko zu tragen, weil der Sport schon fast süchtig macht.

„Ich bin nicht hierher gekommen, um Jiu Jitsu zu lehren, eine Meisterschaft zu gewinnen oder die iranischen Frauen vom Kampfsport zu überzeugen", erklärt Leila. „Ich bin hierher gekommen, um zu trainieren und ich will auch weiterhin trainieren. Mein Ziel ist es, nach Brasilien zu gehen und dort vier oder fünf Jahre lang zu leben, um meinen schwarzen Gürtel zu machen—wenn ich das Geld dafür zusammen habe. Hier möchte ich das nicht machen."

Bis dahin werden sich Frauen wie Leila weiterhin mit anderen Männern und Frauen in Irans Untergrund treffen, um gemeinsam zu trainieren.


* Name wurde geändert.