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Verbrechen

Stell dir vor, du wirst auf offener Straße belästigt – und niemand hilft dir

Während der Neujahrsfeier in Bangalore wurden zahlreiche Frauen von Männergruppen belästigt und angegriffen. Wir haben mit einem der Opfer über die Vorfälle in der indischen Metropole gesprochen.
A man helps a woman escape the crowds on New Year's Eve in Bangalore. Photo by STR/AFP/Getty Images

Was in der Silvesternacht von 2015 auf 2016 am Kölner Hauptbahnhof geschah, erschütterte Deutschland und prägte entscheidend, wie wir im vergangenen Jahr über sexualisierte Gewalt diskutiert haben. Ein Jahr später haben wir von den Feierlichkeiten zwar keine hundertfachen sexuellen Übergriffe zu vermelden, müssen uns nun aber mit der Frage auseinandersetzen, ob die Kölner Polizei beim bewussten Überprüfen von „Nafris" (schon jetzt ein heißer Kandidat auf das Unwort des Jahres) Racial Profiling betreibt. Im indischen Bangalore hingegen kam es zu Angriffen auf Frauen, die sowohl von ihrer Heftigkeit als auch von ihrer Häufung her schockieren.

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Mehrere Frauen, die auf der MG Road, einer der Hauptstraßen von Bangalore inmitten der städtischen Neujahrsfeier, sowie einigen anderen Stadtteilen unterwegs waren, berichteten, dass sie von Männergruppen begrapscht und sexuell belästigt worden sind. Dieser sogenannte „Massen-Missbrauch", wie es die indische Presse nannte, hat sowohl in Indien als auch international für Aufmerksamkeit gesorgt, da dieser Teil von Indien bisher immer als verhältnismäßig sicher für Frauen galt.

Die Megastadt im Süden des Landes, die auch als indisches Silicon Valley bekannt ist, ist das Epizentrum von Indiens technologischer Revolution. Junge, gebildete Fachkräfte aus ganz Indien und den umliegenden Ländern sind in den letzten Jahren nach Bangalore gezogen, um in der schnell wachsenden IT-Industrie zu arbeiten. Die Bevölkerung von Bangalore hat sich infolgedessen in den letzten 15 Jahren verdoppelt. Die Frauen der Stadt haben deswegen lange Zeit über einen gewisse Freiheit genossen, die ihre Schwestern in den Städten im Norden des Landes nicht hatten. Delhi beispielsweise ist aufgrund seiner hohen Zahl an sexuellen Übergriffen noch immer bekannt als „Indiens Vergewaltigungshauptstadt.

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Die regionale Zeitung Bangalore Mirror war eine der ersten, die von den sexuellen Übergriffen berichtete. Darin hieß es, dass es gegen Mitternacht zu den Vorfällen gekommen sein soll. Angeblich sollen mehrere Gruppen von Männern angefangen haben, „Frauen auf offener Straße zu begrapschen, zu belästigen und ihnen anstößige Kommentare hinterherzurufen. Einige [Frauen] waren im wahrsten Sinne des Wortes dazu gezwungen, ihre Stilettos auszuziehen und wegzurennen, um sich in Sicherheit zu bringen." Die Bilder der Vorfälle zeigen sichtbar erschrockene Frauen, die von Polizistinnen beruhigt werden. Ein anderes Foto zeigt, wie eine Gruppe von Männern eine verängstigte Frau umzingelt.

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Bangalores Polizei wurde harsch kritisiert, weil sie nicht konsequent genug eingriff, um die sexuellen Übergriffe zu verhindern. Obwohl in dieser Nacht 1.500 Polizisten im Einsatz waren, macht allein die Zahl der Feiernden deutlich, dass die Einsatzkräfte schlichtweg überfordert waren. Außerdem meldete die Polizei trotz der fotografischen Beweise und der Zeugenaussagen der Frauen zunächst, dass sie keine Beschwerden erhalten hätten und leugnete die Vorkommnisse.

Etwas später meldete sich auch der Innenminister des Staates zu Wort und beteiligte sich an ungeheuerlichen Opferbeschuldigungen.

Chaitali Wasnik wurde in der Silvesternacht in Bangalore angegriffen. Foto: Chaitali Wasnik

„Solche Sachen passieren", sagte der Minister des indischen Staates Karnataka, G. Parameshwara und warf den jungen Menschen vor, „die westliche Bevölkerung zu kopieren—und zwar nicht nur ihre Mentalität, sondern auch ihren Kleidungsstil." Allerdings trägt die Kleidung genauso zu sexuellen Übergriffen bei wie verbrannter Toast zur Luftverschmutzung—das Einzige, was für sexuellen Missbrauch verantwortlich gemacht werden kann, ist der Angreifer selbst. Deswegen haben Parameshwaras Kommentare auch zu einem Aufschrei unter den indischen Frauen geführt.

Lalitha Kumaramangalam von der National Commission for Women in Indien bezeichnet seine Kommentare als „inakzeptabel und bedauerlich." Sie hat den Minister dazu aufgefordert, sich zu entschuldigen und sein Amt niederzulegen. Bangalores Behörden haben nun angekündigt, die Vorfälle zu untersuchen. Allerdings hat ihr anfängliches Zögern dazu geführt, dass viele Frauen in der ganzen Stadt, jede Hoffnung verloren haben, dass sexuelle Gewalt gegen Frauen ernst genommen wird.

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In der Silvesternacht wurden Frauen in ganz Bangalore sexuell belästigt—und zwar nicht nur auf der MG Road, dem Epizentrum der Übergriffe. In einem verstörenden CCTV-Video, das von der Times of India veröffentlicht wurde, ist zu sehen, wie eine Frau eine Straße in einem Wohngebiet nahe einer Hauptstraße im Osten von Bangalore entlangläuft. Kurz darauf sieht man zwei Männer, die von ihrem Roller abspringen und sie brutal attackieren und sexuell belästigen. Irgendwann schleudern sie sie zu Boden und fahren weg. Die letzten Sekunden des Videos zeigen, wie die Frau wieder aufsteht und taumelnd davon läuft. Nachdem das Video veröffentlicht wurde, begann die Polizei mit der Fahndung.

Die 24-jährige Fotografin Chaitali Wasnik wurde in dieser Nacht ebenfalls sexuell belästigt. Sie sagt, dass sie in Indiranagar, einem Viertel von Bangalore, angegriffen wurde. „Ich kam gerade von der Arbeit, als diese beiden Männer auf mich zukamen", sagt sie Broadly am Telefon. „Ich bin zur Seite gegangen, um sie vorbeizulassen. Dabei hat mich einer von ihnen begrapscht."

Danach, sagt sie, „kann ich mich an nichts mehr erinnern. Ich fing an, auf ihn einzuschlagen. Eine Gruppe von Männern hat mich von ihm runtergezogen und meinte: ‚Lass das, hör auf, ihn zu schlagen.' Ich habe versucht, einen Polizisten zu finden, aber es war keiner in der Nähe. Es war niemand da, an den ich mich hätte wenden können. Der Mann ist dann plötzlich weggerannt. Ich konnte nichts tun."

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„Ich habe mich noch niemals zuvor so unsicher [in Bangalore] gefühlt wie diese Woche", sagt Wasnik weiter. Eigentlich, sagt sie, ist die wachsende, kosmopolitische Stadt einer der frauenfreundlichsten Orte in Indien. „Die Menschen in Bangalore sind gebildeter, was die Rechte von Frauen anbelangt. In den letzten fünf Jahren konnte man eine große Entwicklung beobachten und auch die Denkweise der Menschen hat sich weiterentwickelt. So etwas sollte in Bangalore einfach nicht passieren. Ich habe mich schrecklich gefühlt. Ich habe mich wirklich deswegen geschämt."

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Sie ist allerdings nicht nur auf den Mann wütend, der sie belästigt hat, sondern auch auf die institutionelle Gleichgültigkeit, die dazu geführt hat, dass es zu solchen Übergriffen kommen konnte. Genauso wütend macht sie auch, dass man versucht hat, den Frauen die Schuld zu geben. „Das ist beschämend. Wenn Menschen wie [Minister] Parameshwara solche Kommentare von sich geben, hören die Leute das und denken: ‚Vielleicht hat er Recht.' Wenn unsere Politiker sagen, dass so etwas OK sei, dann werden zukünftige Generationen genau dieselben Probleme haben, weil sich das Denken so niemals ändern wird."

Schlussendlich erwartet Wasnik Gerechtigkeit. „Ich möchte, dass die Polizei alle Täter ausfindig macht—nicht nur meinen—und ich möchte, dass sie hinter Gitter kommen. Genau das erwarte ich jetzt."

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Screenshot von Youtube aus dem Video „Bengaluru witnesses mass molestation of women in police presence in New Year Celebrations - TV9" von TV9 Telugu