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Sex

Tinder ist vor allem eins—langweilig

Notgeil Smalltalk zu führen ist ähnlich spannend, wie auf der Venus nach der perfekten Gummi-Vagina zu suchen.
I saw you on tinder Schriftzug

Foto: Denis Bocquet | Flickr | CC BY 2.0

Es ist ziemlich leicht, sich über Online-Dating lustig zu machen und Websites wie Finya oder FriendScout24 als Sammelbecken für sozial inkompatible Neurotiker abzutun, die zwar Hobbys und ein Lebensmotto, dafür aber keinerlei Gespür für das perfekte Selfie haben. Wenn wir das Thema Beziehung in Hinblick auf die aktuelle Entwicklung unserer Gesellschaft aber mal ganz nüchtern betrachten, dann sind ziemlich viele von uns ziemlich einsam. Neben Vollzeitjob, YouTube-Kanal oder was man eben sonst so tut, bleibt nicht so wahnsinnig viel Zeit dafür, neue Menschen kennen zu lernen. Hat man einmal den Freundes- und erweiterten Bekanntenkreis auf attraktives Beziehungsmaterial abgegrast, kommt man beängstigend schnell an den Punkt, an dem die einzige Alternative zur lebenslangen Einsamkeit mit Alkoholproblem und traurigem Tumblr-Blog die Partnersuche über das Internet bleibt.

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Wenn man aber nun ein (noch verhältnismäßig) junger Mensch in einer aufregenden, pulsierenden Großstadt ist, der zwar Sex und körperliche Nähe sucht, aber bitte nur dann, wenn man gerade keinen Bock auf Breaking Bad-Binge-Watching hat, ist man auf Seiten, die die Liebe fürs Leben versprechen, vielleicht ziemlich falsch. Gott sei Dank gibt es Tinder, mögen sich bei dem Österreich-Launch der App viele gedacht haben. Wenn eine Casual-Sex-App selbst im amerikanischen Mainstream angekommen ist, dann ist vielleicht gar nichts verzweifeltes und seltsames daran, Wildfremde nach einvernehmlichem Koitus zu fragen. Endlich spart man sich das anstrengende Aufreißen in Clubs, mit all seinen widersprüchlichen Signalen, dem nervigen Smalltalk und den teuren Drinks.

Oder?

Nope. Statt dem ultimativen Tool zu stressbefreitem Geschlechtsverkehr ohne nervige Verpflichtungen und dem nagenden Schuldgefühl, das einen nach der fünften ignorierten SMS manchmal befällt, ist Tinder vor allem ziemlich pointless. Vergesst Selfies vor dem Holocaust Mahnmal, lahme Anmachsprüche oder all die anderen Sachen, über die man sich so aufregen kann, die App krankt an ihrem innersten Selbst. Wenn alles klar ist, wenn es außer einem Treffpunkt eigentlich nichts mehr zu sagen gibt, wozu brauche ich dann noch eine gezwungene Chatkonversation? „Was hast du am Wochenende gemacht?”, „Wo arbeitest du?“—warum sollte mich das bei jemandem interessieren, den ich ausschließlich deshalb kontaktiere, um mich ein bisschen weniger alleine zu fühlen? Vielleicht ist es mein persönliches Problem, dass ich Tinder nur benutze, wenn ich sehr frustriert oder (sehr) betrunken bin. Vielleicht habe ich dieses Casual-Ding auch komplett falsch verstanden. Aber die Tatsache, dass ich mich erst auf die wohl unpersönlichste und unkörperlichste Art und Weise mit jemandem auseinandersetzen muss, von dem ich eigentlich nur etwas rein körperliches will—das macht einfach keinen Sinn.

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Foto: Strevo | Flickr | CC BY-SA 2.0

Grundlegend verkompliziert Tinder also das, was es eigentlich vereinfachen möchte—zumindest für die Menschen, die sich in regelmäßigen Abständen in der Öffentlichkeit bewegen und ihr komplettes Leben und alle damit zusammenhängenden Aktivitäten nicht ausschließlich von der Couch aus bestreiten. Körperliche Anziehung funktioniert nicht über geschönte Selfies, inszenierte Poser-Fotos und elektronischen Smalltalk. Dafür kann jemand mit der eklatanten Benutzung von unangebrachten Smileys und fragwürdiger Kommasetzung sehr wohl dafür sorgen, dass ich seinen Penis nicht sehen möchte. (Oder wenn sich herausstellt, dass es sich bei betreffendem Tinder-User um den aktuellen Chef einer Freundin handelt, der ein Bild von Curse als Avatar verwendet. Vielleicht bin ich ein bisschen speziell, aber sexuell gesehen ist das auch ein ziemliches No-Go.)

Flacher Smalltalk, der jeder Tiefe entbehrt, weil es ja eben bewusst nicht um Tiefe geht, ist einfach nur anstrengend und langweilig und hat schlussendlich auch dafür gesorgt, dass ich mich nie mit einem Tinder-User verabredet habe. Stattdessen habe ich nach und nach aufgehört, zu antworten und nutze die App eigentlich nur noch, um herauszufinden, wer aus meinem Freundeskreis ähnlich frustriert ist wie ich und sich ebenfalls angemeldet hat. Mit meiner Einstellung zur aktuell hippsten Casual-Dating-App habe ich mich ziemlich alleine gefühlt. Manch einer will über das Programm neben der perfekten Bettbekanntschaft schließlich auch eine echte Beziehung gefunden haben. Bis jetzt.

Die mir bisher unbekannte Seite Onlinedating-Experten.de hat 460 Menschen zu ihren Erfahrungen mit der App befragt und das Ergebnis ist überraschenderweise ziemlich deutlich ausgefallen. 63 Prozent der Befragten gaben an, keine Lust mehr auf den Dienst zu haben, für 88 Prozent sind vor allem „langweilige Nachrichten“ der Grund für die Tinder-Tristesse. Auch in der Schweiz wurde eine ähnliche Studie durchgeführt, die zeigt, dass Tinder im wesentlichen lediglich ein netter Zeitvertreib ist, die Nutzer sich nach einer Weile aber eher fadisieren. In Anbetracht der eher geringen Anzahl an Umfragenteilnehmern kann man natürlich nicht zwingend von einer wirklich repräsentativen Studie sprechen. Trotzdem ist es interessant zu sehen, dass es eben doch noch zwischenmenschliche Vorgänge gibt, die sich nicht vereinfachen und nutzerfreundlich optimieren lassen, ohne ihnen jegliche Faszination zu rauben. Andere Menschen anhand bestimmter Parameter als Sexpartner auszuwählen, ist dann eben doch ähnlich langweilig, wie auf der Venus nach der perfekten Gummi-Vagina zu suchen.

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