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"Ich war vollkommen aufgelöst": Wie es ist, verstorbene Kinder zu fotografieren

Marion Hogl macht Fotos von Fehl- und Totgeburten, um den Eltern eine letzte Erinnerung an ihr Kind zu schenken. Ein Job zwischen tiefer Trauer und Rührung.
Marion Hogl. Foto: Carolin Tietz

Es ist nicht unüblich, dass Frauen ihre Schwangerschaft mit unzähligen Fotos von ihrem wachsenden Babybauch dokumentieren. Allerdings endet nicht jede Schwangerschaft erwartungsgemäß mit einem Foto von den überglücklichen Eltern und ihrem Neugeborenen.

In Deutschland kommen laut Angaben der Ärztezeitung bei 1.000 Geburten rund zwei bis drei Kinder tot zur Welt. Die einzige Erinnerung, die vielen Frauen und Familien in so einem Augenblick bleibt, ist ein schlichtes Polaroid, das die Hebammen routinemäßig von den Kindern machen. Die Fotos sind aber in der Regel nicht besonders schön und verblassen meist schon innerhalb von zehn Jahren, sagt die Fotografin Marion Hogl.

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Deswegen bietet die gemeinnützige Organisation Now I Lay Me Down To Sleep Eltern weltweit die Möglichkeit, ihre verstorbenen Kinder kostenlos von einem professionellen Fotografen ablichten zu lassen. Mittlerweile gibt es eine deutsche Organisation mit mehr als 630 Fotografen, bei der sich auch Marion Hogl engagiert. Zwei bis drei solcher Aufträge hat die Fotografin im Jahr, zur Routine ist das Ganze aber trotz allem nicht geworden.

Mehr lesen: Auf Facebook über seine Fehlgeburt zu sprechen, ist noch immer schwierig

Broadly: Wann hast du dich dazu entschlossen, dich als Fotografin bei "Now I Lay Me Down to Sleep" anzumelden?
Marion Hogl: Ich habe zwei Freundinnen, die relativ kurz hintereinander ihre Babys verloren haben und zwar zu einem relativ späten Zeitpunkt der Schwangerschaft. Die eine war im sechsten Monat und die andere war tatsächlich wenige Tage vor Termin. Eine von ihnen sagte zu mir: "Weißt du, was das Schlimmste ist? Dass ich keine schönen Fotos von meinem Kind habe." Sie hatten nur diese schrecklichen Polaroids, die die Hebammen machen. Das ist zwar immer noch besser als gar nichts, aber sie konnte sich diese Fotos nicht wirklich anschauen, weil das Kind so schlimm darauf aussah. Die andere Freundin hat gar nichts, was sie an das Kind erinnert. Ich glaube aber, dass die Erinnerung wichtig ist. Von einem anderen Menschen hat man ja in der Regel Erinnerungen, wenn er stirbt. Diese Kinder haben aber gar nicht gelebt oder eben nur sehr kurz.

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Leonie war das erste Baby, das du fotografiert hast. Wie lief das Ganze ab?
Ich habe einfach versucht, mit sehr viel Ruhe an die Sache ranzugehen und im Grunde Fotos gemacht, wie ich sie auch von einem lebenden Kind machen würde. Ich habe die Fotos gemacht, sie mit nach Hause genommen, bearbeitet und sie den Eltern übergeben. Die Bilder waren in Schwarz-Weiß, weil das Kind schon so lange tot war. Es war schwierig, die Farben so zu retuschieren, dass es noch natürlich aussieht. In welcher Form man die Fotos dann den Eltern übergibt, ist letztendlich jedem selbst überlassen.

Ich habe mir abgewöhnt, 'Es tut mir leid' oder 'Mein Beileid' zu sagen. Ich glaube, das ist vollkommen unangebracht.

Mit welchen Erwartungen bist du dorthin gefahren?
Der Anruf kam an einem Samstagmorgen, als das Kind schon gestorben war. Mir war klar: Je länger ich warte, desto schlimmer wird das Kind aussehen. Deswegen wollte ich so schnell wie möglich [ins Krankenhaus]. Ich hatte etwas mehr als eine Stunde Fahrt vor mir und war vollkommen aufgelöst, weil ich überhaupt nicht wusste, was ich machen sollte. Ich habe mir bis dahin überhaupt nicht überlegt, wie ich den Eltern gegenübertreten sollte. Ich habe eine der Freundinnen, vom Auto aus angerufen und sie gefragt: "Was sagt man denn da?" Ich dachte mir, alles was ich sage, kann ja eigentlich nur unpassend klingen. Die Mutter war dann allerdings sehr gefasst und hat mir die Situation sehr leicht gemacht. [Die Eltern] wussten schon lange vorher [dass ihr Kind sterben würde]. Sie hatten sich schon drei oder vier Monate lang darauf vorbereitet und wussten, dass es so kommen würde. Sie wollten alle nochmal Abschied nehmen und waren sehr dankbar.

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Wie gehst du mittlerweile mit den Eltern in so einer Ausnahmesituation um?
Ich habe mir abgewöhnt, "Es tut mir leid" oder "Mein Beileid" zu sagen. Ich glaube, das ist vollkommen unangebracht. Ich komme eigentlich meistens rein und sage: "Hallo, ich bin Marion. Ich bin eure Fotografin." Dann frage ich, ob ich das Kind anfassen darf. Das ist sehr wichtig, weil es ja anfassen muss, um es so hinzulegen, dass es ein schönes Foto wird. Ich frage auch nicht, was passiert ist, sondern lasse die Leute erzählen. Normalerweise wollen sie auch erzählen. Während dem Shooting ist es in der Regel sehr still im Raum und sehr ruhig, sodass sie Zeit haben, mir ihre Geschichte zu erzählen. Ich halte mich in dem Moment sehr zurück und sage auch nichts dazu. Ich höre einfach nur zu.

Leonie war das erste Baby, das Marion Hogl fotografiert hat. Ihre Mutter hat die Erlaubnis gegeben, das Bild hier zu veröffentlichen. Foto: Seh-Stern [zugeschnitten]

Hast du vorab schon Kontakt zu den Eltern?
Nein, dabei wäre das eigentlich so wichtig. Die Eltern, die wissen, dass [ihr Kind sterben wird], sollten sich schon vorab Gedanken darüber machen, ob sie Fotos von ihrem Kind machen lassen wollen. Ich wurde aber in fast allen Fällen erst kontaktiert, nachdem das Kind schon gestorben war. Wenn man weiß, dass das Kind nur einige Stunden leben wird, wäre es natürlich auch schön, die Fotos zu machen, wenn das Kind noch lebt. Ich glaube, es wäre auch ein anderes Gefühl für die Eltern, wenn sie sich die Fotos ansehen können und wissen, dass ihr Kind in diesem Moment noch gelebt hat. Mir wäre es deswegen auch ein Anliegen, wenn man Familien mehr darüber aufklären würde, dass es diese Möglichkeit gibt. Viele wissen davon gar nichts.

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Wie fühlst du dich in dem Moment, wenn du die Fotos machst?
Es ist schon schwer und das geht mir auch sehr nahe. Aber in dem Moment, wenn ich fotografiere, bin ich Profi. Ich merke meistens erst danach, dass es mir nicht gut geht. Gerade, wenn ich zu Hause bin und mir die Fotos groß am Monitor ansehe, ist das nochmal etwas ganz anders. Ich versuche mir aber einfach zu sagen, dass es zum Leben dazugehört. Tatsächlich kommt es gar nicht so selten vor [das ein Kind vor oder während der Geburt stirbt]. Es redet nur keiner darüber, weil es so stigmatisiert ist. Als ich die Geschichte von Leonie auf Facebook geteilt habe, haben mich viele Leute kontaktiert – zum Teil auch Menschen, die ich schon lange kannte – und mir erzählt, dass sie auch eine Fehlgeburt hatten.

Mehr lesen: Wenn Frauen für Fehlgeburten lebenslänglich kriegen

Worauf achtest du bei deinen Fotos?
Ich fotografiere die Kinder so, als ob sie schlafen würden. Ich lege ich sie so hin, wie ich auch ein schlafendes Neugeborenes fotografieren würde – im Arm der Eltern zum Beispiel. Ich möchte ja nicht den Tod einfangen, sondern den Eltern das Gefühl geben, dass das ihr Kind ist. Das geht natürlich auch nur bedingt – je nachdem, wie lange das Kind schon verstorben ist und wie alt es ist. Manchmal haben die Kinder auch Totenflecken, die man nicht mehr retuschieren kann. Aber wenn die Eltern ihre Kinder auf dem Arm halten, versuche ich einfach diese Verbindung zwischen ihnen sichtbar zu machen und das klappt in der Regel sehr gut. Die Eltern haben auch keine Berührungsängste mit dem Kind. Es ist ja schließlich ihr Kind.

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Haben die Eltern spezielle Wünsche, wie das Foto am Ende aussehen soll?
Nein, überhaupt nicht. Die meisten sind in dieser Situation vollkommen überfordert und auch sehr froh, dass sie keine Entscheidungen treffen müssen. Eine Mutter wusste, dass ihr Kind einen schweren Herzfehler haben und wahrscheinlich nicht überleben wird. Sie hat dann einen Strampler für das Shooting besorgt. Das waren aber auch die Einzigen, die mich schon Wochen vorher kontaktiert haben. Sie haben sich überlegt, was das Kind anhaben soll, aber ansonsten haben sie mir freie Hand gelassen. Die Eltern wollen einfach nur eine schöne Erinnerung haben.

Was machen die Eltern mit den Fotos?
Die Mutter von Leonie hat die Fotos groß ausgedruckt und in die Wohnung gehängt, weil sie sagen: "Das ist unsere Tochter." Sie schämen sich nicht dafür oder stecken die Fotos in irgendeine Schublade. Eine schöne Geschichte war auch, dass ich mir die Eltern von einem anderen Kind mal Wochen später ein Bild über WhatsApp zugeschickt haben: Der Vater hat sich eines der Fotos auf den Rücken tätowieren lassen. Er hat ganz offen gesagt, dass das Kind ein Teil von ihm ist und dass er sich immer daran erinnern möchte.

Der Tod ist generell ein Thema, über das in unserer Gesellschaft nicht gerne gesprochen wird.

Eine andere Mutter hat mir ein Sterbebild zugeschickt, das man bei Beerdigungen verteilt und da war eines meiner Fotos drin. Das war einfach eine sehr schöne Geste. Es ist zwar auch vollkommen in Ordnung, wenn man nichts mehr von den Menschen hört, aber ich freue mich natürlich, wenn sie mich noch ein wenig teilhaben lassen. Man kommt den Menschen ja schließlich doch sehr nahe, obwohl man sie überhaupt nicht kennt.

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Reagieren manche auch negativ auf deine Arbeit?
Ich bekomme sehr viele positive Reaktionen, aber es gab es auch schon Menschen, die mich geradezu angegriffen haben. Das ist natürlich auch für mich sehr belastend. Das sind dann Leute, die das Ganze nicht nachvollziehen können oder sagen, dass sie es schlimm finden [solche Fotos zu machen]. Natürlich verstehe ich, wenn sich jemand persönlich dagegen entscheiden würde, aber es ist vollkommen unnötig, andere deswegen zu beschimpfen. Ich könnte mir vorstellen, dass es auch den Eltern noch schwerer fallen könnte, anderen die Bilder zu zeigen, wenn sie nur auf ablehnende Reaktionen stoßen. Aber solche Menschen gibt es eben auch. Der Tod ist generell ein Thema, über das in unserer Gesellschaft nicht gerne gesprochen wird.

Was bewegt dich dazu, weiterzumachen?
Ich glaube, die unglaubliche Dankbarkeit der Eltern. Die Mutter von Leonie war so glücklich, dass ich da war. Sie hat mich mit so einer Herzlichkeit empfangen. Ich habe sofort gemerkt, wie wichtig ihr das war und dass es auch für ihren Heilungsprozess wichtig war. Schon als ich reinkam, hat sie mich in den Arm genommen, obwohl wir uns überhaupt nicht kannten. Das war so positiv – auch für mich. Ich bin danach rausgegangen und hatte das Gefühl, jemandem wirklich geholfen zu haben, dass ihnen meine Arbeit wirklich etwas bedeutet hat.

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Titelfoto: Carolin Tietz