"Man fühlt sich verarscht": Warum der CSD wieder politischer werden muss
Alle Fotos: Rebecca Rütten

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LGBTQ

"Man fühlt sich verarscht": Warum der CSD wieder politischer werden muss

Trotz Horrorwetter gingen Tausende auf die Straße, um für ihre Rechte einzustehen. Wir haben sie gefragt, warum der Kampf mit der "Ehe für alle" noch lange nicht vorbei ist.

Wer sich als Teil der LGBTQ-Community für seine Rechte einsetzt, muss hart im Nehmen sein. Neben Ablehnung und alltäglicher Diskriminierung insbesondere aus der rechtskonservativen Szene, traf es die Teilnehmer_innen des Christopher Street Days in diesem Jahr auch wettertechnisch hart. Trotz sinntflutartigem Regen gingen Tausende auf die Straße, sogar eine Gruppe der evangelischen Kirche stellte in diesem Jahr einen Wagen. Nur die AfD sparte sich das Pride-Event – alles, was nicht auf eine Heimatpostkarte der 40er Jahre gepasst hätte, ist der Partei schließlich seit jeher ein Dorn im Auge.

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Auch wenn sich die Menge das Feiern nicht vom schlechten Wetter vermiesen lassen wollte, befindet sich der CSD selbst seit längerem in der Kritik. Zu kommerziell, zu wenig inklusiv, zu inhaltsleer sei die Veranstaltung mittlerweile geworden, hieß es unter anderem von den Veranstalter_innen des Queer Liberation March. Die bewusste Alternativveranstaltung zur großen Parade wurde aufgrund organisatorischer Engpässe zwar kurzfristig abgesagt, der Vorwurf bleibt allerdings haften. Muss der Christopher Street Day wieder politischer werden oder darf sich nach der längst überfälligen Legalisierung der Ehe für alle nicht einfach mal flächendeckend gefreut werden? Wir haben haben uns mit Kamera bewaffnet in den Sturm gewagt und nachgefragt.

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Alle Fotos: Rebecca Rütten

Gönni (29) & Clara (22)

Broadly: Freut ihr euch über die Entscheidung zur Ehe für alle?
Clara: Ich sag's mal so: Wenn schon Ehe, dann Ehe für alle. Aber die Ehe an sich finde ich scheiße. Das ganze Konzept davon kommt ja von einer besitzergreifenden Geschichte. Dass der Vater seine Tochter an den Ehemann übergibt, ist ja total patriarchal. Gleichzeitig ist es aber etwas, was extrem viele Privilegien in dieser Gesellschaft bringt, deswegen ist es gut, dass die jetzt jedem zustehen. Andererseits ist der Begriff an sich falsch. Sie ist ja nicht für alle. Was ist mit Inter-Personen, was ist mit Trans-Personen, was ist mit Bi-Personen? Es wird immer nur davon gesprochen, dass „die Homos" jetzt heiraten dürfen. Das ist so ein binäres Konzept, das ist einfach Bullshit.

Gönni: Wenn man sich zum Beispiel die Gesetzesverabschiedung angeguckt hat, dann war da auch immer nur die Rede von Schwulen und Lesben. Andere sexuelle Identitäten und Geschlechter wurden komplett ausgeblendet. Wir dürfen uns auf keinen Fall darauf ausruhen, dass das jetzt politisch durchgewunken wurde.

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Broadly: Fühlt ihr euch vom CSD repräsentiert?
Gönni: Man merkt, dass der CSD dieses Jahr wieder politischer geworden ist, was ich auch gut finde. Aber es ist immer so ein Zwischenspiel. Wenn man sieht, dass da auch Firmen wie Google mitlaufen oder die großen Parteien …

Clara: Man fühlt sich so ein bisschen verarscht. Im Endeffekt stehen die null für unsere Rechte ein, schmücken sich aber mit unserer Fahne. Das ist lächerlich und wir wissen alle, dass die einen Scheiß dafür tun, dass wir unser Leben leben können.


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Broadly: Was wäre dann eine sinnvolle Alternative zum CSD?
Clara: Der CSD an sich ist gut, aber er muss halt einfach politisiert werden. Die komplette queere Szene muss politisiert werden. Das hier ist einfach ein bisschen Regenbogen, ein bisschen Glitzer und das wars.

Gönni: Dass es einfach nur noch als buntes Festival gesehen wird, hat auch damit zu tun, wie die Medien darüber berichten. Man sieht meistens nur Fotos von Personen, die einfach bunt rumlaufen und wenig politische Aussagen. Dabei kommt es ja eigentlich aus einem politischen Kontext. Die Geschichte darf nicht vergessen werden.

Sven (72)

Broadly: In Deutschland wurde gerade die Ehe für alle beschlossen. Wie ist das für dich und deinen Partner?
Sven: Wir kommen eigentlich aus Schweden und haben uns natürlich darüber gefreut, dass es endlich auch in Deutschland dazu gekommen ist. Auch wenn Merkel „Nein" dazu gesagt hat. Insgesamt hat das trotzdem gewonnen und das ist das Wichtige. Ich glaube, die Deutschen haben da allgemein ein bisschen mehr zu kämpfen. Wir [in Schweden] müssen natürlich auch kämpfen und im schlimmsten Falle zusehen, dass wir unsere Rechte behalten dürfen. Es gibt auch rechte politische Kräfte bei uns in Schweden und die bedroht uns natürlich. Da müssen wir aufpassen, dass die uns unsere Rechte nicht wegnehmen.

Broadly: Das heißt, der Kampf hat erst angefangen?
Sven: Ja, genau. Wir müssen ständig aufpassen, dass die Rechte, die wir mal bekommen haben, nicht wieder zurückgenommen werden. Das kann geschehen, die sind ja nicht unantastbar. Wir sind natürlich schon etwas älter und es ist jetzt schon besser als früher. Diese Achillesverse, die man früher hatte, dass man sich nicht getraut hat, sich zu outen, ist jetzt weg.

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Die eingetragene Lebenspartnerschaft ist bei uns schon ziemlich früh gekommen. Dadurch haben sich viele Leute gesagt: Na ja, das ist ja jetzt Gesetz. Also darf ich endlich so sein. Wir Schweden sind ein gehorsames Volk und denken uns: Wenn der Staat das so sagt, dann ist das schon richtig. Wir haben früher in Stockholm gewohnt und wohnen jetzt auf dem Land. Da sind wir völlig angenommen, können uns in unserer vollen Persönlichkeit entfalten und das ist natürlich ganz wichtig.

Broadly: Wie siehst du den CSD selbst?
Sven: Die Bewegung ist nicht so politisch wie früher – wobei ich das für Deutschland auch nicht so richtig beurteilen kann. Am Anfang der Parade hat man in jedem Fall gesagt, dass man es in diesem Jahr etwas mehr politisch machen will. Ich finde es wichtig, dass das nicht nur eine Fete ist. Ich würde begrüßen, wenn man da etwas seriöser wird.

Lena (20); Collins (34)

Broadly: Es gibt viele Stimmen, die kritisieren, dass der CSD sehr kommerziell geworden ist.
Collins: Das stimmt. Firmen wissen jetzt, in welche Richtung sich die Welt bewegt und dass die meisten Länder offen für Homosexualität sind. Wenn du dich öffentlich auf die Seite der Homosexuellen stellst, machst du mehr Geld. Insofern nutzen sie den CSD schon, um ihren Namen mit etwas Positivem zu verknüpfen und mehr Geld zu verdienen. Für uns bedeutet diese Unterstützung einfach nur, dass wir mit dem weitermachen, was wir sowieso schon tun. Selbst wenn sie es nur für das Geld machen, ist es immer noch besser, als wenn sie uns diskriminieren würden. Wir lieben alle und jeder liebt uns.

Lena: Ich finde es auch gut, dass die Kirche jetzt hier mitmacht. In der Bibel steht, dass du deinen Nächsten wie dich selbst lieben sollst – deswegen ist das genau der richtige Schritt.

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Broadly: Wie ist es für euch, in Berlin zu leben? Ist die Stadt so offen, wie man immer sagt?
Lena: Manchmal ja, manchmal nein. Ich habe auch schon viel Hass erfahren. Ich war mal in einem Teil der Stadt, in dem ich mich nicht auskannte. Deswegen habe ich einen älteren Mann nach dem Weg gefragt. Ich meinte einfach "Hallo, wie geht es ihnen? Können Sie mir vielleicht sagen, wie ich zu dieser Adresse komme?" Er hat mich dann angebrüllt, dass er kein Englisch spricht – keine Ahnung was passiert wäre, wenn der auch noch von meiner Sexualität gewusst hätte.

Collins: Ich komme eigentlich aus Hamburg und mir ist aufgefallen, dass Leute aus Berlin für andere nur sehr zögerlich die Tür aufmachen. In Hamburg sind wir offener. Wir wissen, wie man Freundschaften aufrecht erhält, Leuten aus Berlin scheint das schwerer zu fallen.

Broadly: Wie steht ihr dazu, dass die Ehe für alle in Deutschland legalisiert wird?
Collins: Jetzt dürfen wir auch endlich ohne Probleme Kinder adoptieren. Das Allerwichtigste ist aber, dass sich endlich etwas verändert hat. Liebe ist Liebe, egal wer du bist und wen du liebst. Deswegen ist der nächste wichtige Schritt, dass das auch in anderen Ländern umgesetzt wird. Du wirst in jedem anderen Land Leute wie uns finden.

Lena: Das ist so super! Ich bin immer noch total glücklich. Jetzt muss ich nur noch jemanden finden.

Bertram (26)

Broadly: Wie stehst du zu den Vorwürfen, dass viele Firmen aus kommerziellen Gründen an den CSD dranhängen?
Bertram: Uns ist das eigentlich ziemlich egal. Wenn eine große Firma hier mitmacht, dann wahrscheinlich ja deshalb, weil sie wissen, dass hier sehr viele Menschen sind. Wenn Firmen wie die BVG dazu bereit sind, sich hieran zu beteiligen, zeigt das ja einfach nur, wie groß diese Veranstaltung hier ist. Und das ist ein gutes Zeichen.

Broadly: Endlich gibt es die Ehe für alle in Deutschland. Ist damit alles erreicht?
Bertram: Nein. Ich komme ja aus Frankreich und da gibt es die schon ein paar Jahre länger. Deswegen glaube ich nicht, dass damit alles in Ordnung ist. In den meisten Ländern auf der Welt gibt es solche grundlegenden Rechte noch nicht, deswegen müssen wir weiterkämpfen. Der CSD ist ein guter Weg, das deutlich zu machen, weil neben den vielen Menschen auch viel Presse hier ist.

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Broadly: Berlin gilt als sehr offen. Hast du hier jemals diskriminierende Erfahrungen gemacht?
Bertram: Das ist eine schwierige Frage. Manchmal ist es hier sehr offen, manchmal aber eben auch überhaupt nicht. Wegen der generellen Freiheiten hier, glaube ich, dass die Stadt eine Reflektion dafür ist, wie es aktuell in unserer Gesellschaft aussieht. Es ist, als würde ein stetiger Kampf zwischen dem offenen Teil der Gesellschaft und dem negativen stattfinden. Aber die liberale Seite gewinnt.

Inga (23)

Broadly: Warum bist du heute hier?
Inga: In erster Linie bin ich heute mit meiner Freundin hier und in zweiter Linie will ich Spaß haben. Wir sind hier, weil es ein schwul-lesbisches Straßenfest ist. Wegen der Party, der Musik und dem Trinken.

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Broadly: Wie findest du es, dass die Kirche jetzt auch hier ist?
Inga: Ich bin getauft und konfirmiert. Adam hat Eva aus seiner Rippe geschnitten – ich meine, schwuler gehts doch nicht, oder? Lebt, wie ihr wollt und liebt, wen ihr wollt. Ich finde es toll, dass die Kirche jetzt auch hier ist, aber es hat auch lange genug gedauert.

Broadly: Wie aufgeschlossen ist Berlin gegenüber der LGBTQ-Community?
Inga: Berlin ist auf jeden Fall liberal, aber es gibt auch Probleme. Die hat man wahrscheinlich überall, egal ob auf dem Dorf oder in der Großstadt. Versuch, damit zu leben. Versuch, den Leuten deine Philosophie zu erklären. Wenn du es nicht schaffst, lass es sein und geh weiter. Lass dich nicht auf irgendwelchen Stress ein.

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