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Darum verursachen Antidepressiva bizarre Albträume

"Ich muss dabei zusehen, wie Cruella de Vil meinen Opa mit einer stumpfen Axt in Stücke hackt." Über eine häufige Nebenwirkung von Antidepressiva wird kaum gesprochen.
Eine Illustration zeigt Cruella de Vil, Liam Hemsworth, eine ängstlich wirkende junge Frau und einen Priester auf einem Elektromobil – alles Teile aus Albträumen, die durch Antidepressiva verursacht werden
Illustration: Helen Frost

"Ich werde von einem Tornado gejagt. Mein Leben oder das Leben meiner Familie hängt davon ab, dass ich ihm ausweiche", erzählt Tom. Nach dem Tod seines Bruders vor ein paar Jahren begann der heute 36-Jährige, das Antidepressivum Citalopram zu nehmen. Seitdem leidet er an Albträumen, in denen es immer um Tornados geht. "Ich schaue aus dem Fenster oder in den Himmel und sehe, wie sich ein Wirbelsturm bildet – so, als wolle der Sturm mich quälen", sagt Tom.

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Antidepressiva sind berüchtigt für eine ganze Reihe unangenehmer Nebenwirkungen. Manche Leute verlieren durch die Medikamente zum Beispiel die Lust auf Sex oder den Geschmackssinn. Dabei haben es die, die solche Mittel nehmen müssen, sowieso schon nicht einfach. In Deutschland werden jedes Jahr rund 1,5 Milliarden Tagesdosen Antidepressiva eingenommen. Das sind gut 4,1 Millionen Dosen täglich.

Eine Nebenwirkung von Antidepressiva kommt besonders häufig vor: ungewöhnliche Träume. Laut den britischen Gesundheitsbehörden berichten zwischen einem von zehn und einem von hundert Sertralin-Patienten von solchen Träumen. Sertralin ist das in Großbritannien am häufigsten verschriebene Antidepressivum. Manche von ihnen träumen dabei von Tabuthemen, weshalb sie nur zögerlich über ihre verstörenden Erfahrungen sprechen.


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Wenn man nie durch Antidepressiva verursachte Träume erlebt hat, kann man sich nur schwer vorstellen, wie bizarr diese werden können. Auch die 30-jährige Rufaro hat diese Erfahrung gemacht.

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"Die Träume sind so lebhaft, dass ich nach dem Aufwachen manchmal denke, die Sachen aus dem Traum seien wirklich passiert", sagt sie. "Ich rufe dann sogar meine Freunde an und erzähle ihnen davon. Die Träume wirken so echt, dass ich gar nicht zwischen ihnen und der Realität unterscheiden kann."

Für manche Menschen wie Rufaro ist die Unterscheidung zwischen den Träumen und der Realität besonders verstörend. Für andere sind es die Träume selbst.

Die 38 Jahre alte Sunita nimmt seit Jahren Antidepressiva. "Mit Ende 20 fingen meine Depressionen an", sagt sie. "Durch meine Eierstockkrebs-Diagnose wurde alles noch verschlimmert. Plötzlich musste ich mit dem Verlust meiner Eierstöcke, Haarausfall, mehreren OPs, den Wechseljahren und schrecklichen Chemotherapie-Symptomen klarkommen."

Dazu kam, dass sich Sunita während ihrer Krebsbehandlung mit dem Coronavirus ansteckte. Diese traumatische Erfahrung hat in Kombination mit der Antidepressiva-Einnahme zu schrecklichen Albträumen geführt.

"In meinen Albträumen werden mir bei vollem Bewusstsein die Eierstöcke rausoperiert, dann verspeisen die Chirurgen meine Geschlechtsorgane und jagen mich", sagt sie. "Ich habe auch schon davon geträumt, wie ich mich in einem Zauberland mit Zombies befinde. Dort versuchen Kannibalen dann, mich zu terrorisieren und zu essen, während Aliens Experimente an mir durchführen wollen."

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Die 22 Jahre alte Sophie hat ebenfalls wiederkehrende Albträume mit Bezug zu einem durchlebten Trauma. "Ich träume oft, dass sich mein gewalttätiger Ex, der mich auch vergewaltigt hat, bei mir entschuldigt", sagt sie. "Diese Träume kommen häufig und fühlen sich so echt an, dass ich am Tag darauf total niedergeschlagen bin."

Sophie hat aber auch Albträume, die nichts mit ihrer Vergangenheit zu tun haben: "Vor Kurzem habe ich geträumt, dass ich in einer Folge von Desperate Housewives mitspiele und von einem Priester auf einem Elektromobil gequält werde", sagt sie.

Absurdität ist ein weiteres Merkmal der durch Antidepressiva hervorgerufenen Träume. Das weiß auch die 22-jährige Bella.

"In einem meiner Träume bin ich bei meinem Opa zu Hause, als plötzlich mehrere schwarze Autos vorfahren. Erschrocken frage ich mich, ob ich mich verstecken soll. Dann steigt Glenn Close in dem dicken Pelzmantel, den sie in 101 Dalmatiner trägt, aus einem der Autos und sechs muskelbepackte Typen öffnen ihr die Tür", sagt Bella. "Sie behaupten dann, mein Opa würde ihnen Geld schulden. Ich muss dabei zusehen, wie Glenn Close ihn mit einer stumpfen Axt in Stücke hackt." 

Auch die 23 Jahre alte Riley hat extrem detaillierte Träume erlebt. "Ich träumte, dass ich zusammen mit Gale aus Die Tribute von Panem in einem Café arbeite. Keine Ahnung, warum gerade mit ihm. Ich habe die Filme vor Jahren nur ein einziges Mal angeschaut und wusste nicht mal, wie der Schauspieler heißt", erzählt sie. "Dann bittet er mich um ein Date, und ich sage ja, obwohl ich lesbisch bin und überhaupt nicht auf ihn stehe. Dann durchlaufen wir am Grand Canyon diesen krassen Hindernisparcours, an dessen Ende wir vor einer Holzhütte stehen."

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"Ich betrete die Hütte. Darin sitzt ein buckliger, alter Mann, der sagt, dass er Kannibale sei, und dann einen Vorhang zurückzieht, hinter dem Gale auf einem Tisch gefesselt liegt. Der Mann sagt weiter, dass ich Gale jetzt kochen müsse. Daraufhin bin ich total verwirrt aufgewacht und habe erstmal nach dem Schauspieler gegoogelt, der Gale gespielt hat – Liam Hemsworth", sagt Riley.

Aber warum lösen Antidepressiva nun Träume aus, in denen Kannibalismus und Cruella de Vil vorkommen?

Untersuchungen haben gezeigt, dass Antidepressiva den REM-Schlaf unterdrücken. Wenn das passiert, ist es wahrscheinlich, dass man nachts häufiger aufwacht. Die Träume fallen dadurch kürzer aus. Weil das Gehirn versucht, den fehlenden REM-Schlaf auszugleichen, sind diese kürzeren Träume so heftig – das Gehirn versucht nämlich, so viel Action wie möglich in die Träume zu packen.

Dr. Raheel Karim, ein Psychiater und leitendes Mitglied der Organisation Royal College of Psychiatrists, nennt einen weiteren Grund dafür, warum unsere Träume durch Medikamente so abgedreht sein können: "Antidepressiva aus der Klasse der Serotonin-Wiederaufnahmehemmer wirken sich auf die Zahl der Neurotransmitter aus. Wenn mehr dieser Botenstoffe vorhanden sind, verändern sich auch die Träume", sagt er.

Die gute Nachricht ist, dass von Antidepressiva verursachte Albträume kein Grund zur Sorge sind. Karim weist darauf hin, dass sie eine der häufigsten Nebenwirkungen von Serotonin-Wiederaufnahmehemmerm sind. Dennoch solltest du mit deiner Ärztin oder deinem Psychiater über andere Optionen reden, wenn sich die Albträume negativ auf deinen Schlaf auswirken oder sie durch traumatische Erinnerungen Angstzustände hervorrufen. Wenn das Problem nicht weggehen will, empfiehlt Karim, die Antidepressiva früh morgens zu nehmen oder – natürlich erst nach Absprache mit deiner Ärztin – die Dosis zu reduzieren.

Also hab keine Angst. Deine Träume vom Verspeisen des Schauspielers Liam Hemsworth bedeuten nicht, dass du kannibalistische Tendenzen unterdrückst. Sorry, Sigmund Freud.

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