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Vorhaut als Menschenrecht

Im Alter von acht Jahren wurde Paul Tinari auf einem Internat beschnitten. Heute ist er Aktivist gegen Beschneidungen.

Eine Beschneidungszeremonie (via WikiCommons).

2006 bekam Paul Tinari 12.000 Dollar von der Regierung von British Columbia, Kanada, um sich seine Vorhaut operativ wiederherstellen zu lassen. Als er acht Jahre alt und auf einer kirchlichen Schule in Montreal war, wurde Paul gewaltsam auf einem Tisch festgehalten und beschnitten. Das alles, weil ein Priester Grund zur Annahme hatte, er hätte—Gott bewahre—masturbiert. Paul gehört zur Ethnie der Métis und seine Geschichte ist ein weiteres ernsthaft verstörendes Beispiel für Misshandlungen in kanadischen Residential Schools. Paul behauptet, so eine Vorgehensweise gehörte zur Routine und hätte Tausenden Buben passieren können, die zu den indigenen Völkern gehören und in dem System gefangen waren—obwohl das schwer zu beweisen sein dürfte, wenn man sich den Mangel an Transparenz der kanadischen Regierung ansieht, sobald es um das Problem dieser Residential Schools geht. Wir haben mit Paul telefoniert, um herauszufinden, was er durchgemacht hat, warum das passierte und wie seine offene Meinung im Bezug zur Unterstützung der Anti-Beschneidungs-Bewegung ist.

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VICE: Kannst du mir erzählen, was dir passiert ist?
Paul: Klar. Meine Mutter wurde sehr früh Witwe, also steckte sie mich in ein Internat in Outremont in Montreal. Das Internat wurde von der Kirche geleitet. Tatsächlich war es eher ein Kloster, nur dass dort auch Priester Zugang hatten. Jetzt hat sich herausgestellt, also viele Jahre später, dass eine der Nonnen sich offiziell beschwert hat, weil sie regelmäßig von den Priestern vergewaltigt wurde. Als ich die Geschichte gehört habe, entschloss ich mich, auch meine Geschichte zu erzählen, die ich all die Jahre geheim gehalten hatte. Das war dann letztendlich der Impuls, den ich brauchte, um an die Öffentlichkeit zu gehen.

Die Beschneidung fand in Montreal statt?
Ja. Was im Grunde passierte, war, dass einer der anderen Buben mich überhaupt nicht mochte und mir eins auswischen wollte. Er erzählte einem der Priester, dass er mich beim Masturbieren gesehen hätte. Das galt als große Sünde, etwas, das du niemals tun solltest. Es stimmte zwar nicht, aber er erzählte es dem Priester.

Du warst erst acht?
Ich war ungefähr acht, ja. Ich wusste nichts übers Masturbieren. Ich war noch unschuldig. Wie auch immer, irgendwann spät in der Nacht—wir schliefen in einem großen Schlafsaal mit den anderen Jungs—kam einer der Priester und riss mich brutal aus dem Bett. Er brachte mich über die Treppe und den Flur in sein Zimmer zu diesem bärtigen Typen. Ich wusste nicht, was los war. Ich brauchte eine lange Zeit, bis ich herausfand, welche Rolle diese Leute spielten. Es stellte sich heraus, dass der Typ mit dem Bart, der Mütze und dem schwarzen Anzug ein Mohel war. Ein jüdischer Mann, verantwortlich für Beschneidungen.

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Sie zogen meine Schlafanzughosen runter und versuchten, mich auf dem Tisch festzuhalten—aber natürlich ist das bei einem Baby viel leichter als bei einem Achtjährigen. Ich wehrte mich. Ich trat einem Priester, der mich festhielt, gegen die Nase. Daraufhin brachen sie mir tatsächlich den Arm und die Nase. Ich hatte also einen gebrochenen Arm und eine Nase—die ich bis heute habe. Sie nagelten mich fest, brachten eine Klemme an meinem Penis an und führten die Beschneidung durch—ohne Anästhesie, ohne Desinfektion, ohne alles.

Als Folge davon hatte ich eine ziemlich schlimme Infektion für viele, viele Wochen und Monate. Tatsächlich hatte ich für mein ganzes Leben, bis zu meiner wiederherstellenden Operationen, eine chronische Infektion. Er hatte so viel Haut abgeschnitten, dass ich keine Erektion ohne große Schmerzen haben konnte.

Ach du Scheiße.
Ja, es war wirklich furchtbar. So ging ich durch mein Leben, bis in meine 40er, als ich die Operation hatte, um meine Vorhaut wieder herzustellen. Ich bin einer der wenigen Menschen, die qualifiziert sind, darüber zu sprechen, wie es ist, wenn man erst intakt, dann beschnitten und dann wieder intakt ist. Jeder Mann, der beschnitten ist und sagt, dass es keinen Unterschied gibt, hat verdammt nochmal keine Ahnung, wovon er da spricht. Seit der Operation hat sich mein Sexleben um 1.000 Prozent verbessert. Es gibt keinen Vergleich. Es ist, als ob man erst in Schwarz-Weiß sieht und dann in Farbe.

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Die katholische Kirche—besonders die in Montreal—ist dafür bekannt, Dokumente durch ihre Kommission für  Wahrheit und Schlichtung zurückhalten zu lassen, in denen es um die Residential Schools geht. Denkst du, diese Art von Bestrafung wurde in großem Maße angewandt? Du wirst wohl nicht der Einzige gewesen sein.
Mir wurde gesagt, dass ich in die Hölle komme, wenn ich mit jemandem darüber oder mit diesen anderen Jungs sprach. Und damals glaubte ich das auch. Aber ich glaube, vielen anderen Jungen ist das auch passiert, auch wenn wir nie unter uns darüber gesprochen haben. Wir hatten Angst. Ich weiß nicht, ob du eine Ahnung davon hast, wie es ist, den ganzen Tag in größter Angst zu leben.

Die Leute, die dir das angetan haben; glaubst du, sie haben an die Religiösität dabei geglaubt? Haben sie dabei wirklich geglaubt, sie verrichten Gottes Werk oder basierte es auf purem Sadismus?
Geh nur mal zurück ins Mittelalter und schau dir die Hexenverbrennungen an. Für uns ist es heutzutage schwer, sich in die Mentalität von damals hineinzuversetzen. Aber dir muss auch klar sein, dass Hexenverbrennungen kein Akt des Hasses waren, sondern ein Akt der Liebe. Es ging um die Barmherzigkeit für den Menschen. Sie hielten den Körper nur für das sterbliche Fleisch, unwichtig. Es ging nur darum, die Seele zu retten.

Wenn diese Kerle also dachten, sie täten etwas Richtiges—der Priester und der Mohel—, denkst du, sie sollten rechtlich dafür verantwortlich gemacht werden?
Natürlich. Trotz ihrer religiösen Überzeugung. Ich war minderjährig, meine Mutter willigte nie ein und ich auch nicht. Heute bringen wir unseren Kindern bei, „Nein“ zu Erwachsenen zu sagen, die sie unsittlich berühren, stimmt's? Nun ja, ich sagte nein und niemand hat zugehört.

Kannst du die Industrie hinter den Beschneidungen etwas beschreiben?
Wenn man mit Beschneidungen keinen Profit machen könnte, gäbe es sie schon lange nicht mehr. Aber Dr. Kellogg [der Mann, der die Corn Flakes erfunden hat, weil er dachte „fades Essen“ würde die „Leidenschaft zügeln“, und angeblich auch der Meinung war, Beschneidung könnte Masturbation „heilen“] merkte, dass er mit der Beschneidung von Kindern ein Vermögen machen konnte. Die Eltern bezahlten ihn, um ihre Kinder zu beschneiden und somit der Masturbation vorzubeugen. Im Grunde wurden alle Ärzte, die damals anfingen, Beschneidungen durchzuführen, von Dr. Kellog ausgebildet. Und dir sollte auch klar sein, dass er wusste, was er da tat. Er führte sexuelle Störungen herbei, nicht nur weil er dachte, Masturbation sei böse, sondern weil er dachte, der Sex selber wäre erniedrigend. Er verteidigte das Zölibat und dachte, Sex wäre ungesund und etwas Böses—also dachte er, es wäre etwas Gutes, den Penis unbrauchbar zu machen.

Weißt du, ob er selbst beschnitten war?
Keine Ahnung. Wahrscheinlich hat er sich selbst beschnitten. Der Typ war verrückt genug, um das zu tun. Wie auch immer, die Industrie ist erwachsen geworden und hat erkannt, dass die Vorhaut etwas absolut Sinnvolles ist. Dementsprechend gibt es da draußen ein Multimillionendollar-Industrie, die Beschneidungen auch weiterhin vorantreibt.

Von welcher Art von Produkten reden wir? Ich finde es erstaunlich, dass es einen kommerziellen Markt für Vorhäute gibt.
Vorhäute durch Beschneidungen werden bei biochemischen und anatomischen Studien gebraucht, um die Haut zu erforschen. Daraus wird Haut für Verbrennungsopfer, also Hauttransplantate, gefertigt. Außerdem nutzt man es für Anti-Aging-Gesichtscremes. Das geht immer so weiter. In Vancouver gibt es einen Arzt, der sich damit brüstet, über 35.000 Beschneidungen durchgeführt zu haben, wobei er für jede zwischen 200 und 400 Dollar verlangt [auch über 1.000 Dollar in Ontario]. Rechne es dir einfach aus. Er hat Millionen verdient.