Politik

Dieser Forscher erklärt, warum Polizisten oft falsch mit psychisch Kranken umgehen

"Jemanden zu Boden zu bringen, ist legal. Jemanden, der am Boden liegt, zu verprügeln, ist nicht mehr legal", sagt Raphael Behr.
Die Spielzeugfigur eines Polizisten hebt eine Stopkelle
Foto: IMAGO | Ralph Peters

Auf Twitter kursierte in den vergangenen Tagen ein Video. Darin sieht man eine Szene, die auf viele Menschen verstörend wirkt. Ein Mann liegt mit dem Bauch auf dem Boden. Polizisten knien über ihm. Sie drücken ihn runter, legen ihm Handschellen an. Er schreit. Ein Polizist schlägt auf ihn ein. Später im Video liegt der Mann auf dem Rücken. Er wirkt bewusstlos, seine Nase blutet. Die Szene erinnert an den grausamen Tod von George Floyd in Minneapolis. Aber ist es ein Fall illegitimer Polizeigewalt?

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Eine Passantin filmte den Polizeieinsatz, der sich am Dienstag in Mannheim ereignete. Der Mann, der am Boden lag, starb einige Stunden später im Krankenhaus. Er war 47 Jahre alt und psychisch krank. Ein Arzt des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit rief die Polizei. Aber kann die eigentlich helfen, wenn Menschen im Wahn sind, unberechenbar und gefährlich scheinen? Werden Polizistinnen und Polizisten überhaupt ausgebildet, um auf solche Situationen zu reagieren? Über diese Fragen haben wir mit dem Polizeiforscher Rafael Behr gesprochen. Behr, 64 Jahre, lehrt an der Akademie der Polizei Hamburg und hat jahrzehntelang zu Polizeikultur, Gewalt und interner Kontrolle geforscht.

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Rafael Behr, 64 Jahre alt, arbeitet Kriminologe und Professor für Polizeiforschung an der Akademie der Polizei Hamburg | Foto: privat

VICE: Herr Behr, wer das Video des Mannheimer Polizeieinsatzes sieht, dem begegnet Gewalt. Haben die Polizisten Ihrer Einschätzung nach angemessen gehandelt?
Rafael Behr: 
Um diese Frage zu beantworten, müsste ich spekulieren. Es gibt im Moment zu wenig aussagekräftiges Filmmaterial, sodass ich das nicht bewerten möchte. Allerdings finde ich auch, dass die Bilder für sich sprechen.

Sie haben früher selbst als Polizist gearbeitet. Können Sie Techniken oder Handgriffe erkennen, die professionelles Handeln nahelegen würden?
In dem Video sieht man, wie einer der Polizisten den Mann in die Gegend des Kopfes schlägt. Das könnte ein sogenannter "Schockschlag" gewesen sein. Die Annahme dahinter ist: Wenn Menschen zu Boden gebracht werden, schlagen sie wild um sich oder verschränken die Arme vor der Brust. Ein Polizist schlägt die Person dann zum Beispiel auf Oberschenkel, Schulter oder in die Seite. Dann erschrickt sich die Person und ist kurz handlungsunfähig. Diesen Moment nutzen die Polizisten, um Handschellen anzulegen.

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Das klingt hart. Funktioniert diese Methode?
Nun, sowas wird geübt: mit den Kollegen in der Turnhalle. Dann tragen alle weiche Judo-Anzüge, sind nüchtern und ein Trainer leitet an. Natürlich wollen die Kollegen einander nicht wehtun. In der Praxis ist es anders. Da läuft alles weniger kontrolliert ab und ein Schlag geht vielleicht an die falsche Stelle.

"Nicht immer, wenn ein Polizist zuschlägt, ist das rechtswidrig."

Die Polizei darf Gewalt anwenden. Sie hat das Gewaltmonopol. So ist unser Staat aufgebaut. Aber sie muss das mildeste Mittel wählen und die Gewalt muss im Verhältnis zur Situation stehen. War das in Mannheim der Fall?
Das ist schwer zu sagen. Die Grenzen sind da fließend. Jemanden zu Boden zu bringen, ist legal. Jemanden, der am Boden liegt, zu verprügeln, ist nicht mehr legal. Möglicherweise ist dieser Schlag gegen den Kopf, den wir im Video sehen, nicht mehr legal. Aber das ist von außen und im Moment schwer zu beurteilen.

Die Polizei Mannheim argumentiert, das Video zeige nur einen kleinen Ausschnitt. Man dürfe keine voreiligen Schlüsse ziehen. Hat sie Recht?
Die Polizei sagt ja immer in solchen Fällen, andere könnten das nicht beurteilen, weil sie die Vorgeschichte nicht kennen. Wenn der Mann auf dem Boden liegt und sich nicht wehren kann, ist es egal, ob er vorher zum Beispiel die Beamten beleidigt hat. Die Situation ist dann eine neue. Polizisten haben kein Recht auf Rache. Darum sind Bilder auch aussagekräftig, wenn sie nur einen Ausschnitt zeigen – aber hier muss man mit Vorsicht und Sachverstand interpretieren. Nicht immer, wenn ein Polizist zuschlägt, ist das rechtswidrig.

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Immer mehr Menschen sind dank ihrer Telefone in der Lage, Szenen wie die in Mannheim zu filmen. Fällt Polizeigewalt einfach mehr auf?
Tatsächlich findet immer weniger Kriminalität statt, aber immer mehr Taten gelangen an die Öffentlichkeit. Ich nenne das auch "das Smartphone-Paradox".

Auf Twitter teilten viele Menschen das Video mit den Hashtags #polizeigewalt und #keineinzelfall. Zeigt sich hier ein strukturelles Polizeiproblem?
Die Öffentlichkeit ist sensibilisiert, seit den Black-Lives-Matter-Protesten. Die Leute fühlen sich ermächtigt, Polizeiarbeit stärker zu kritisieren. Das ist OK. Es gibt einiges aufzuarbeiten. Hier aber von einem strukturellen Gewaltproblem zu sprechen, halte ich für überzogen. Und Hassbotschaften und Beleidigungen sind keine Aufarbeitung, sondern Straftaten.

Warum?
Im Laufe eines Jahres wird eine niedrige zweistellige Personenzahl von der Polizei im Einsatz getötet. Es sind nicht Hunderte. Und es passiert nicht regelmäßig.

Das Handeln der Polizei wird nur sichtbarer.
Genau, und damit wird es transparenter und diskutierbarer. Das finde ich gut. Das muss so sein. Das muss unsere Polizei aushalten. Sie weiß, dass ihr Handeln gesehen wird. Das ist eine psychologische Schranke gegen Gewaltexzesse.

"Polizisten lernen, eine Situation so zu bewältigen, dass die andere Person sich nicht mehr wehrt."

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In Mannheim ermittelt jetzt die Staatsanwaltschaft gegen die Beamten. Der Verdacht lautet Körperverletzung im Amt mit Todesfolge. Mit welchen Folgen müssen die Polizisten rechnen?
Dass die Staatsanwaltschaft ermittelt, ist Routine. Wenn es keine zusätzlichen Anhaltspunkte gibt, wird das Verfahren womöglich schnell abgeschlossen.

Was wären solche Anhaltspunkte?
Man müsste auf dem Material klar erkennen, dass die Polizisten den Mann malträtieren, ihn minutenlang im Schwitzkasten halten, sich zu zweit auf ihn werfen – so in der Art.

Der Mann, der nach dem Einsatz starb, hatte Angstzustände. Wie gut kann die Polizei mit Menschen in psychischen Ausnahmezuständen umgehen?
Ein Arzt hatte die Polizei verständigt, weil sein Patient durch die Mannheimer Innenstadt lief und seine Gefühle nicht unter Kontrolle hatte. Wenn der Patient schreit oder einen Gegenstand in der Hand hat, muss die Polizei einschätzen, ob er nur krank ist – oder auch gefährlich. Das stellt die Polizisten vor Herausforderungen.

Welche Herausforderungen?
Gegenüber jemanden, der psychotisch ist, muss man anders reagieren als gegenüber einem Rocker mit der Schrotflinte. Ist eine Person im Wahn, nimmt sie ihre Umwelt anders wahr, glaubt vielleicht verfolgt und intrigiert zu werden. Solchen Menschen muss man Raum geben oder die Situation einfrieren. Nur: Das Einfrieren von Situationen ist nicht, was Polizisten lernen. Sie lernen, eine Situation so zu bewältigen, dass die andere Person sich nicht mehr wehrt. Und sie haben oft nicht genug Zeit für eine ausgewogene Situationsdiagnose.

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"Ganz selten unterrichtet jemand, der oder die aus der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses kommt."

Sie arbeiten als Professor an der Akademie der Polizei Hamburg. Dort sind sie an der Ausbildung von Nachwuchskräften beteiligt. Wie sehr spielt der Umgang mit psychisch erkrankten Menschen dort eine Rolle?
Im Bachelorstudiengang gibt es durchaus ein Psychologie-Modul. Da geht es auch um den Umgang mit psychischen Krankheiten. Das sind vielleicht zehn Stunden, schätze ich. Dann werden etwa die Unterschiede zwischen Neurose und Psychose besprochen. Möglicherweise geht es auch darum, wie sich Polizisten in Gegenwart psychotischer Menschen verhalten sollten.

Möglicherweise?
Wenn der Kollege oder die Kollegin vom Fach ist, dann schon. Das hängt von der persönlichen Kompetenz des Lehrpersonals ab.

Das heißt: Polizisten geben einfach ihr Wissen aus ihrem Dienst weiter?
In der Ausbildung zum mittleren Dienst ist das so. An der Fachhochschule unterrichtet das in der Regel ein Psychologe oder eine Psychologin. Aber ganz selten unterrichtet jemand, der oder die aus der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses kommt. Und noch seltener wird das richtiggehend trainiert.

Dann sind Polizisten gar nicht dazu geschult mit Menschen in psychischen Ausnahmezuständen umzugehen?
Es gehört nicht zum Standardrepertoire. Manche können das schon, etwa weil sie im Familienkreis Verwandte mit Demenz oder Parkinson haben. Sie kennen es, wenn Leute cholerisch werden und um sich schlagen.

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Es ist also keine gute Idee, die Polizei zu rufen, wenn jemand im Wahn zu sein scheint?
Wenn Sie eine andere Interventionsmöglichkeit haben, ist das besser. Oft wissen Nachbarn oder Passanten aber nicht, was sie tun sollen, wenn jemand nackt mit einem Brotmesser über die Straße läuft. Die wenigsten kennen dann die Nummer des ärztlichen Notdienstes oder der psychiatrischen Hilfe. Sie rufen die Polizei. Die ist dann oft genauso überfordert wie Laien, muss aber handeln.

In Hamburg haben Polizisten in den vergangenen fünf Jahren fast immer ihre Schusswaffe eingesetzt, wenn sie jemanden stoppen wollten, der psychotisch schien. Zeichnet sich da ein Trend ab?
Ja, es stimmt, dass die Zahl der gewaltsamen Vorfälle beim Umgang mit psychisch Kranken zunimmt.

Und wie könnte man solche Situationen besser lösen?
In einige Großstädten gab es schon Überlegungen einen psychiatrischen Notdienst zu schaffen. Dann würden Notfallsanitäter und Ärztinnen mit auf Streife fahren. Aber es stellt sich natürlich die Frage: Wer zahlt das?

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