Ist es schlimm, wenn ich mit einem fiktiven Psychopathen schlafen will?
Illustration: Sarah Schmitt

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Ist es schlimm, wenn ich mit einem fiktiven Psychopathen schlafen will?

Im Internet hadern Hunderte mit ihren sexuellen Gefühlen gegenüber Serienbösewichten wie Ramsay Bolton oder Negan. Wir haben Experten gefragt, was Menschen dazu bringt, erotische Fanfictions über sadistische Arschlöcher zu schreiben.

Die aktuelle The Walking Dead-Staffel ist ein Paradebeispiel dafür, wie traumatisierend Fernsehen sein kann—und wie emotional abhängig große Teile der Gesellschaft von den Seriencharakteren sind, die sie seit Jahren durch alle Höhen und Tiefen verfolgten. In den sozialen Medien kam es bei der Premiere der siebten Staffel zu mehreren dokumentierten Nervenzusammenbrüchen und manche Medienvertreter kündigten gar an, in Zukunft nicht mehr über die Zombieserie schreiben zu wollen.

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Was war passiert? Zwei der Protagonisten mussten vor einigen Wochen in einer an Brutalität kaum zu überbietenden Szene ihr Leben lassen. Verantwortlich dafür war der neue Antagonist Negan, der zusammen mit seinen „Saviors" andere Menschengruppen terrorisiert und für sich arbeiten lässt—ob sie das nun wollen oder nicht. Der Governor mal tausend und ohne Augenklappe, dafür aber mit stacheldrahtumwickeltem Baseballschläger. Und noch ein bisschen charismatischer.

Auch ich teilte das eklige Bauchgefühl der meisten Zuschauer, allerdings wegen einer anderen Sache. Während Kunstblut durchs Bild spritzte und die Kamera mit morbider Faszination jede Menge Gehirn einfing, konnte ich nicht aufhören darüber nachzudenken, dass ich den neuen Supersupersuperbösewicht wirklich SEHR attraktiv finde. Klar, Schauspieler Jeffrey Dean Morgan ist nach sämtlichen gängigen Schönheitsvorstellungen heiß. Andererseits: Als er als sterbender Herzpatient bei Grey's Anatomy den Inbegriff eines zugänglichen Menschenfreunds spielte, habe ich ihn nicht gegooglet. Was zur Hölle war also los mit mir? Auch wenn ich mir in mehreren Situationen gewünscht hätte, einen Baseballschläger zu besitzen, steht diese Figur doch für so ziemlich alles, was ich moralisch und menschlich verabscheue.

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Eine erste zurückhaltende Umfrage unter Kolleginnen blieb recht erfolglos („Ich gucke die Serie nicht, kann dir aber gerne was zu Spike aus Buffy—im Bann der Dämonen erzählen!"), also wandte ich mich an die Institution, an die ich mich immer wende, wenn ich mich mit irgendeiner Sache nicht alleine fühlen möchte: das Internet. Das hatte schließlich schon bei Ramsay Bolton aus Game of Thrones, dem Inbegriff eines sadistischen Arschlochs, öffentliche Liebesbekundungen und eine „Ramsay hot scenes"-Compilation (mit Weichzeichner!) auf YouTube verbrochen.

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Insgesamt sechs Subreddits gibt es, die sich nur mit Negan beschäftigen. Wenn ich „Why is Negan" bei Google eingebe, ist der erste Vorschlag „so hot"—noch vor „killing" und „mad". (Notiz am Rande: Ich muss es auf Englisch suchen, weil es auf Deutsch immer in „vegan" korrigiert wird.) Sucht man auf fanfiktion.de nach „Negan" stößt man auf mehrere Geschichten, die die menschliche, emotionale Seite des psychotischen Gangleaders ausloten sollen und wer nicht ganz so gerne liest: „Negan || Sexy Boy" auf YouTube ist ein Kleinod an intensivem Starren und wölfischem Grinsen.

Wenn wir Täterfiguren von ihrer positiven und menschlichen Seite kennenlernen, kann Sympathie entstehen. Und diese Sympathie führt wiederum dazu, dass wir bereit sind, moralisch fragwürdiges Verhalten zu entschuldigen.

Twitter befindet sich derweil in einer Art Sinnkrise. „Ich würde so gerne Negan dafür hassen, aber er ist einfach zu heiß", „Bin mir unsicher, ob ich kurz davor bin mich zu übergeben, weil ich solche Angst habe oder weil Negan so heiß ist", „Ich hasse Negan (aber ich finde ihn auch unglaublich heiß)"—auch andere Menschen hadern offenbar mit sich selbst. Es war Zeit, sich an richtige Experten zu wenden.

„Moralisch komplexe Charaktere lösen beim Zuschauer widersprüchliche Gefühle und moralische Konflikte aus, weil sie gute und böse Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen in sich vereinen", sagt Dr. Anne Bartsch, stellvertretende Direktorin des Instituts für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Und tatsächlich ist Negan kein rein „böser" Charakter: Er ist charismatisch, er zeigt sich gegenüber den Protagonisten (zumindest aktuell) recht nachsichtig und ist momentan die einzige Hauptperson, die etwas Leichtigkeit und Witz in die Serie bringt.

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„Wenn wir Täterfiguren von ihrer positiven und menschlichen Seite kennenlernen, kann Sympathie entstehen. Und diese Sympathie führt wiederum dazu, dass wir bereit sind, moralisch fragwürdiges Verhalten zu entschuldigen—so wie wir es bei uns selbst und anderen sympathischen Menschen auch häufig tun", erklärt Bartsch. Diese moralische Distanzierung, die auch als „moral disengagement" bezeichnet wird, sei häufig bei Zombie- oder Vampirfilmen zu beobachten. Schließlich lasse sich den Opfern dabei leichter die Menschlichkeit absprechen und wer weiß, wie wir als Zuschauer in einer Extremsituation wie der Zombieapokalypse agieren würden?

Klar: Jemand, der nicht in festgesteckten moralischen Grenzen denkt, ist interessanter und gegebenenfalls auch unterhaltsamer als jemand, der sich verlässlich für die gute Option entscheidet. Das erklärt aber noch nicht, warum man sich viele Zuschauer von einem fiktiven Psychopathen sexuell angezogen fühlen.

Meine Recherche bringt mich schließlich zu Tumblr, dem Mekka für alles Abgründige, was sich mit ordentlich Hashtags und dem ein oder anderen Fotofilter noch ein bisschen generation-y-isieren lässt. Blogs wie negan-my-king widmen sich leidenschaftlich der Aufgabe, möglichst viele „sexy" Negan-Gifs und Stills aus der Serie zu posten. Auf negan-saviors-confessions können User sich anonym darüber austauschen, dass sie gerne „auf Negans Gesicht sitzen" würden und negans-cock-fanclub lässt die TWD-Protagonisten im Angesicht des Todes darüber philosophieren, wie unglaublich heiß sie ihren Peiniger finden. Außerdem scheint es vor kurzem eine „Negan Smut Week" gegeben zu haben—für alle, denen herkömmliche Fanfictions nicht explizit und pornografisch genug sind.

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„Es gibt eine Erotik der Macht und des Bösen", sagt Dr. Frank Schwab, Professor für Medienpsychologie an der Universität Würzburg, der sich unter anderem mit den evolutions- und emotionspsychologischen Aspekten unseres Medienkonsums beschäftigt. Moralische Ambivalenz ist seiner Aussage nach besonders für Frauen interessant, weil die sich viel mehr mit Charakteranalyse anderer auseinandersetzen, während Männer mehr auf Action und Handlung reagieren. Zusätzlich gäbe es auch bestimmte Zeitperioden, in denen Frauen empfänglich für als männlich empfundene Attribute wie Härte und Stärke sind—Eigenschaften, die bei Antagonisten besonders präsent sind.

Wenn man in einer schrecklichen Welt lebt, ist es nicht zwingend eine blöde Idee, sich mit einem ‚schrecklichen' Mann zusammenzutun.

„Wenn sie gerade ihre fertilen Tage haben, mögen Frauen eher maskuline, raue Männer. Ansonsten bevorzugen sie Partner, die treu sind, sich aufopfern, sich kümmern", erklärt Schwab. Eine Aussage, die unter anderem von einer Studie der University of Texas gestützt wird. Hierbei wurden Frauen vor die Wahl gestellt, wen sie eher als potenziellen Kindsvater wählen würden: einen normalen, zuverlässig wirkenden Mann oder einen Macho. Die Teilnehmerinnen, die sich kurz vor ihrem Eisprung befanden, wählten den Macho—obwohl sie ihn ihren Geschlechtsgenossinnen nicht empfohlen hätten.

„Unser Gehirn ist, vereinfacht gesagt, in Schichten aufgebaut. Es gibt archaische Anteile, die auf bestimmte Merkmale wie Muskeln oder eine gewisse Härte reagieren und sagen: „Boah, der macht irgendwas mit mir", sagt Schwab. „Gleichzeitig kann ich aber kognitiv sagen, dass das politisch total inkorrekt ist und man so einen Typ natürlich niemals mit der Kneifzange anfassen würde, weil man dann ja nicht mehr seines Lebens sicher ist."

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Laut ihm würden übrigens auch Männer Opfer solcher Gedankengänge werden—man denke da nur mal an das Klischee des großäugigen Püppchens, das unbedingt gerettet werden muss. Ein Mechanismus, dem sich Serien und Filme bewusst bedienen: „Es gibt bestimmte Trigger, die die Medien auch bedienen können und auf denen sie spielen wie auf einer Klaviatur der Gefühle und dadurch bestimmte Instinkte ansprechen, durch die sie beim Zuschauer etwas auslösen."

Wurde die Rolle des Negan also ganz bewusst mit einem Schauspieler besetzt, der deutlich attraktiver ist als das Comic-Vorbild, um die Libido der Fanscharen überkochen zu lassen? Ganz so kalkulierbar scheint das allerdings auch wieder nicht zu sein.

Ich sage nicht, dass das moralisch gut ist, aber es gibt neben dem Negativen ja vieles, was für diese Figuren spricht.

Dr. Anne Bartsch hält die Überzeugung, dass Frauen tendenziell eine Schwäche für „Bad Boys" haben für eine Legende—und auch der baseballschlägerschwingende Gangleader lässt sie eher kalt : „Ich muss gestehen, dass ich Negan vom ersten Eindruck im YouTube-Video nicht übermäßig sexy fand. Meine spontane Reaktion war eher: langweiliges, narzisstisches Arschloch. Da hätte ich vorher vielleicht noch ein paar tränenrührige Geschichten aus seiner schweren Kindheit gebraucht." Zwar sei es durchaus so, dass „Gewalt, Dominanz und geringes Einfühlungsvermögen mit männlichen Rollenbildern assoziiert" würden, gleichzeitig gäbe es in der Popkultur aber auch immer mehr weibliche Täterfiguren und Antiheldinnen, deren „Abweichung von traditionellen Rollenerwartungen" sie für Zuschauer besonders interessant machen würden.

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Vielleicht hat die morbide Faszination am fiktiven Bösen also gar nicht zwingend etwas mit dem Geschlecht zu tun. Eine letzte und wichtige Frage ist dennoch noch offen: Wie besorgniserregend ist es denn nun, Charaktere wie Ramsay Bolton, Walter White (in den späteren Staffeln) oder Negan nicht nur interessant, sondern „interessant" zu finden?

„Ich sage nicht, dass das moralisch gut ist, aber es gibt neben dem Negativen ja vieles, was für diese Figuren spricht. Mads Mikkelsen als Hannibal beispielsweise hat unglaublich viel Kultur, ist elegant, weiß viel—Dinge, wo man sagen würde: idealer Partner", fasst Dr. Frank Schwab abschließend zusammen. „Evolutionär sind wir durch finstere, gewaltvolle Täler gewandert. Wenn man in einer schrecklichen Welt lebt, ist es—aus der Perspektive unserer Gene—nicht zwingend eine blöde Idee, sich mit einem ‚schrecklichen' Mann zusammenzutun."

Das bedeutet aber wiederum auch: Wenn die Zombieapokalypse nicht unmittelbar vor der Tür steht, besteht in der Realität kein Bedarf an brutalen Männern, die über Leichen gehen, um Ressourcen und Familie zu verteidigen. Und ganz tief in uns drin wissen wir das auch. Mit einem egozentrischen Psychopathen, der in regelmäßigen Abständen ungefragt minutenlange Monologe mit jeder Menge Penis-Metaphern hält, lässt sich nämlich ganz schlecht darüber diskutieren, wer als nächstes die Pfandflaschen wegbringt.

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Titelillustration: Hintergrund (imago | chromorange | bearbeitet) | Negan (Screenshots von YouTube aus dem Video „Jeffrey Dean Morgan on Negan" von FOX International) | Ramsay (Wikimedia | Fair use)