Menschen

Wie ich nach Genitalverstümmelung und Zwangsehe meine Freiheit fand

"Mein Hochzeitstag war der traurigste Tag meines Lebens."
Matéo Vigné
Brussels, BE
Foto einer afrikanischen Frau vor einem Gewässer, die Somalierin Fos hat Genitalverstümmelung und Zwangsehe erlebt und in Belgien ihre Freiheit gefunden.
Symbolfoto | Foto: Getty Images

Warnung: Dieser Text enthält explizite Beschreibungen sexuellen Missbrauchs.

Fos wurde in Somalia geboren. Ihr ganzes Leben lang musste sie gehorchen und still sein, während die Männer um sie herum – ihr Vater und ihr Ehemann – alle Entscheidungen für sie trafen, auch die über ihren Körper

Heute ist Fos 37 und lebt in Belgien. Aus Angst vor Rache möchte sie nicht ihren vollen Namen nennen. Als Kind wurde Fos das Opfer einer Genitalverstümmelung. Bei dieser Praxis werden äußere Teile der weiblichen Genitalien teilweise oder vollständig entfernt. Weltweit mussten mehr als 200 Millionen der momentan lebenden Frauen und Mädchen so eine Verstümmelung über sich ergehen lassen. Grund dafür sind Traditionen, die darauf abzielen, die Jungfräulichkeit der Frauen vor der Ehe zu bewahren und die männliche Lust zu steigern. In Fos Fall wurde eine Infibulation vorgenommen: Ihre Schamlippen wurden zusammengenäht, um die Vaginalöffnung zu verkleinern.

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Der folgende Text ist ein Auszug aus dem Podcast Perle von Yasmina Hamlawi, den es allerdings nur auf Französisch gibt. Darin erzählt Fos von ihrer Zwangsehe und wie sie nach ihrer Flucht in Belgien Anfang der 2000er Jahre wieder die Entscheidungsgewalt über ihren Körper gewann. Fos hofft, dass ihre Geschichte anderen Frauen, die eine ähnliche Erfahrung durchmachen mussten, dabei hilft, sich besser verstanden zu fühlen.


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Es war eine andere Welt. Als ich in Afrika war, in Somalia, waren alle Schwarz. Hier in Belgien waren alle Weiß. Ich war verloren. Niemand verstand mich, absolut niemand. Ich wusste nicht, was ich von meinem Leben hier erwarten sollte. Ich fühlte mich sehr unsicher, als ich in Belgien ankam. Ich dachte, ich würde im Gefängnis landen. Meine Mutter wusste nicht, wo ich war. Sie wusste nur, dass ich nach Europa gegangen war.

Es gab Augenblicke, in denen ich es bereute, hergekommen zu sein. Ich fragte mich: "Warum habe ich mein Land verlassen?" Aber dann erinnerte ich mich: "Du bist vor einer Zwangsehe, vor Verstümmelung und einem Bürgerkrieg geflohen."

Nachdem ich meinen Asylantrag gestellt hatte, wurde ich in ein Zentrum für Minderjährige gebracht und musste die Schule besuchen. Dort bekam ich auch meine erste Periode. Ich konnte morgens nicht aufstehen, weil ich solche Schmerzen hatte. Eine Sozialarbeiterin klopfte an meine Tür und fragte, warum ich noch nicht fertig für die Schule sei. Ich antwortete, dass ich infibuliert sei und große Schmerzen habe. "Was heißt das?", fragte sie. Ich erklärte es, so gut ich konnte, und sie brachte mich zu einer Gynäkologin.

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Bei der Untersuchung fragte ich die Gynäkologin: "Was stimmt nicht mit mir?" Für mich war das alles normal. In Somalia wird uns beigebracht, dass Frauen auf der ganzen Welt beschnitten werden. Die Gynäkologin verließ den Raum und kam mit meiner Sozialarbeiterin und einer Assistentin zurück. Alle blickten mich an und ich schaute zurück. Ich hatte Angst. War ich etwa krank? 

Dann organisierte die Ärztin mir eine Somali-Übersetzerin und bat sie, mir zu erklären, dass das, was man mit mir gemacht hatte, nicht normal sei. "Wir werden den Eingriff rückgängig machen, damit du besser urinieren kannst und weniger Schmerzen während der Periode hast", sagte sie. Ich wollte das nicht. "Nein! Wer wird mich denn dann noch heiraten? Wer wird mich dann noch wollen? Eine offene Frau? Niemand wird mich berühren wollen!" Sie gaben mir etwas Zeit, darüber nachzudenken. Würde ich für den Rest meines Lebens mit diesen Schmerzen leben können? Ich hatte niemanden, mit dem ich darüber reden konnte. Ich konnte nicht mal meine Mutter anrufen.

Wegen der starken Schmerzen während der Periode konnte ich häufig nicht zur Schule. Eines Tages sagten sie mir dann, dass ich von der Schule fliegen würde, wenn ich noch einen Tag fehlen würde. Da hat es dann bei mir Klick gemacht. Sechs Monate nach dem Termin bei der Gynäkologin stimmte ich der Operation zu. Der Eingriff veränderte mein Leben. Ich fühlte mich besser, ich fehlte nicht mehr in der Schule, machte sogar Sport. Ich fühlte mich wieder lebendig.

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Mein Hochzeitstag war der traurigste Tag meines Lebens. Er war noch schlimmer als der Tag meiner Beschneidung. Ich war 16 und mein Mann war 70. Ich war seine vierte und jüngste Frau, noch ganz frisch. Mein Vater wollte, dass ich diesen Mann heirate, weil er reich war. Er sah nicht mich, er sah nur das Geld.

Am Tag der Hochzeit zogen sich alle schick an. Am Nachmittag wurde ich in ein kleines weißes Kleid gesteckt, das meine Jugend und Jungfräulichkeit repräsentierte. Ich fühlte mich in dem ganzen Trubel wie ein Püppchen.

Ich hatte Angst. Ich musste daran denken, wie man mich später zu seinem Haus bringen würde. Was würde er mit mir tun? Wie würde ich reagieren? Je mehr Zeit verstrich, desto stärker wurden meine Bauchschmerzen. Ich spürte nicht mal mehr die Luft, die ich atmete. Am Abend nahm er mich an seinem Haus in Empfang, während alle vor Freude jubelten.

In der ersten Hochzeitsnacht wehrte ich mich gegen meinen Mann. Er schlug mich, damit ich ihm gehorchte. Er versuchte, in mich einzudringen, aber es ging nicht. Ich war zu klein. Zu sehr verschlossen. Ich hatte solche Schmerzen. Jedes Mal, wenn er es nicht schaffte, schlug er mich wieder. Jedes einzelne Mal. Ich sagte ihm, dass es wehtut und dass er aufhören soll, aber er wollte nicht. Er wollte nicht warten. Er sagte mir, ich solle still sein.

Am nächsten Tag kam die Familie, um zu sehen, ob Blut auf dem weißen Laken war – der Beweis meiner Jungfräulichkeit. Das Blut war da. Er hatte mich vergewaltigt. Ich war so stark verletzt, dass ich mich nicht mehr bewegen konnte. Meine Mutter nahm das Laken vom Bett und zeigte es der ganzen Familie. Sie sah nicht, wie sehr ich litt. "Mama, du tötest mich langsam", sagte ich zu ihr. "Mir ist das auch passiert und ich lebe noch. Du wirst es also auch überstehen", antwortete sie.

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Meine Mutter beschützte mich nicht. Sie war diejenige, die mich zur Beschneidung brachte, als ich sechs war. Auch an meinem Hochzeitstag schützte sie mich nicht. Ich verstand nicht, warum sie mir das antat. Jedes Mal, wenn ich sie fragte, sagte sie mir, ich solle still sein, oder wechselte das Thema. Irgendwann fing ich an, mich ihr gegenüber emotionslos zu verhalten. Sie hatte mich in Gefahr gebracht. In meiner Vorstellung waren Mütter dazu da, ihre Kinder zu beschützen.

Später verstand ich ein bisschen besser, warum sie das getan hatte. Sie hatte keine Macht. Hätte sie diese Dinge nicht getan, hätten sich meine Tanten väterlicher- und mütterlicherseits darum gekümmert. Das wurde mir vor 20 Jahren klar, als mein Vater starb. Er war es, der die ganze Macht hatte und darüber entschied, wer wen heiratete. "Jetzt kann ich dir sagen, wie ich denke", sagte mir meine Mutter nach seinem Tod. "Jedes Mal, wenn du gelitten hast, habe ich mit dir gelitten. Aber ich konnte es nicht zeigen, weil ich keine Macht hatte, dir zu helfen."

Ich sagte ihr, dass ich nicht bei meinem Mann bleiben könne, dass ich ihn nicht wolle und er mich zu Dingen zwinge. "Ich kann dir nichts versprechen, aber ich werde mit meinem Bruder sprechen", sagte sie. "Wir schauen, was wir für dich tun können. Wir werden eine Lösung finden." 

Nachdem sie mit meinem Onkel gesprochen hatte, brachte dieser mich sofort mit einem Schleuser in Kontakt. Fünf Tage später kam ich mit falschen Papieren in Frankreich an. Ich fragte den Schleuser, ob ich in Frankreich bleiben würde. Er antwortete: "Nein, du gehst nach Belgien. Keine Sorge, dein Mann wird dich dort niemals finden." Diesen Satz habe ich nie vergessen.

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