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Feminisme

Ein ehemaliges Sektenmitglied erklärt, wie Gehirnwäsche funktioniert

Dr. Alexandra Stein wurde als junge Frau von einer marxistisch-leninistischen Sekte einer Gehirnwäsche unterzogen. Mittlerweile hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, andere vor demselben Schicksal zu bewahren.
Photo by Marcel via Stocksy

Als ich zu Hause bei Dr. Alexandra Stein im Norden von London ankomme, telefoniert sie gerade. "Deine Hauptaufgabe ist es, immer mit ihnen in Kontakt zu bleiben", sagt sie einfühlsam, während sie ihrem Gesprächspartner erklärt, wie man verhindert, dass jemand in die Fänge einer Sekte gerät. Sie bekommt viele solcher Anrufe von besorgten Familien. Nach allem, was sie selbst durchgemacht hat, ist sie zu einer der führenden akademischen Expertinnen für Sekten geworden.

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Dr. Stein war zehn Jahre lang Mitglied einer linksorientierten politischen Sekte, auch bekannt als The O., bevor sie schließlich entkam. Später schrieb sie ein Buch und eine Doktorarbeit zu dem Thema. Erst vor Kurzem hat sie ihr zweites Buch Terror, Love and Brainwashing: Attachment in Cults and Totalitarian Systems veröffentlicht. An einem kalten, verregneten Dienstag sitzen wir bei ihr und sprechen über ihre Erfahrungen, die Definition einer Sekte und ob Donald Trump in Wahrheit nichts weiter als ein Sektenführer ist.

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"Menschen betrachten politische Gruppen nicht als Sekten", erklärt mir Stein bei einer Tasse Tee, "obwohl es weltweit massenhaft politische Sekten gibt." Sie sollte es wissen. Stein wuchs in London auf. Ihre Eltern stammen aus Südafrika und waren schon immer sehr politisch. "Politik lag mir von Anfang an im Blut."

Mit 18 Jahren zog Stein nach Amerika, auf der Suche nach dem Abenteuer und einer Basisbewegung. Die fand sie auch, zumindest für eine Zeit lang. Dann kam die Reagan-Ära und viele ihrer Genossen verließen die Bewegung. Sie blieb zurück, allein mit ihren politischen Überzeugungen. Kurz nachdem sie sich von ihrem Freund getrennt hatte, lernte Stein dann The O. kennen, eine marxistisch-leninistische Sekte aus Minneapolis.

Du hast Angst, aber sonst niemanden im Leben. Also klammerst du dich an die Menschen, die für deine Angst verantwortlich sind.

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Sie lockten sie mit der Aussicht auf eine linke Revolution und übernahmen schließlich die Kontrolle über ihr Leben. Die Gruppe isolierte sie von Freunden und Familie, arrangierte eine Hochzeit für sie und sagte ihr, dass es Teil ihrer Mission sei, Kinder zu bekommen. Außerdem musste sie neben ihrer Vollzeitbeschäftigung als Computerprogrammiererin täglich acht Stunden in einer Bäckerei zu arbeiten. Beide Jobs wurden ihr von der Gruppe zugewiesen. Sie lebte in "einem seltsamen, dunklen und geheimen kleinen Sektenhaus" und arbeitete fieberhaft für die Sache.

Aufgrund ihrer beiden Jobs war Stein immer erschöpft und verlor den Großteil ihrer Kontakte zur Außenwelt. Obwohl sie nie genau verstanden hatte, was Backwaren und Informatik mit der bevorstehenden Revolution zu tun haben sollten, fehlten ihr sowohl die mentalen Fähigkeiten als auch die Energie, um ihren Lebensweg zu hinterfragen.

Foto: Dr. Alexandra Stein

Erst 1991 – nach einem anderen gescheiterten Fluchtversuch – schaffte sie es schließlich, sich aus den Fängen der Sekte zu befreien. Aus der Frage, wie es soweit kommen konnte, entwickelte sich schließlich ihre neue Lebensaufgabe: herauszufinden, wie derartige Gruppen funktionieren – "von politischen Sekten über Yoga-Sekten bis hin zum IS und allem dazwischen."

Genau das möchte sie der Welt mit ihrem neuen Buch vor Augen führen. Egal wie die Ideologie einer Sekte aussieht, die Techniken sind immer dieselben. Sektenführer gehen genauso vor wie totalitäre Herrscher und Menschen, die häusliche Gewalt ausüben. Doch nur wer die Mechanismen dahinter verstanden hat, ist in der Lage, sich davor zu schützen. Die sozialpsychologischen Strategien gefährlicher Gruppierungen sollte auch in Schulen und Universitäten auf der ganzen Welt auf dem Lehrplan stehen, ist Stein überzeugt.

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"Ich definiere eine Sekte nach fünf Punkten", erklärt sie mir. "Erstens: Der Anführer ist charismatisch und autoritär. Zweitens: Die Struktur der Gruppe schließt bestimmte Menschen aus. Der dritte Punkt ist die Ideologie, so etwas wie: 'Du brauchst nur mich' oder 'Kein anderes Glaubenssystem ist von Bedeutung' oder ähnliches." Der vierte Punkt ist die Gehirnwäsche." Der fünfte Punkt? "Einsatzbereite Anhänger, die tun, was du sagst. Ohne Rücksicht auf Verluste oder sich selbst."

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Genau deswegen gäbe es Menschen, die bereit seien, sich selbst in die Luft zu jagen. "Den Leuten fällt es schwer, das zu verstehen, aber Sektenmitglieder sind nicht wirklich in der Lage zu denken oder zu fühlen."

Stell dir vor, du bist in einem Freundeskreis, der dir nicht gut tut. Sekten erzeugen eine ähnliche Illusion von Solidarität. Stein sieht sie allerdings eher als eine perverse Gruppe von zutiefst einsamen Einzelpersonen, die den Willen und die Fähigkeit, eigene Entscheidungen zu treffen, verloren haben. "Man kann innerhalb einer Sekte niemandem vertrauen", sagt sie. "Wenn du Probleme thematisierst, wirst du höchstwahrscheinlich dafür bestraft. Du kannst nicht entkommen. Du hast Angst, aber sonst niemanden im Leben. Also klammerst du dich an die Menschen, die für deine Angst verantwortlich sind."

Wir müssen uns immer wieder vor Augen halten, was mit Deutschland unter Hitler passiert ist.

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Sekten sind laut der Expertin ein Kreislauf aus Furcht und Zugehörigkeit. Vergleichbar mit dem Stockholm-Syndrom, nur dass die Wandlung schleichender passiert und verwirrender ist. Schließlich hat man immer das Gefühl, sich der Gruppe aus eigenen Stücken angeschlossen zu haben.

Was besonders erschreckend ist, ist die Tatsache, dass potenziell jeder Mensch empfänglich für die Strategien einer Sekte ist. Sie wissen, wie sie deine charakterlichen Stärken gegen dich verwenden können, sagt Stein. "Ich habe über die Jahre schon viele Menschen erlebt, die sich meine Geschichte angehört haben und dann meinten: 'Wie schrecklich, dass dir so etwas passiert ist. Das tut mir so leid. Das würde mir nie passieren. Dafür bin ich zu unabhängig.' Das sagt so gut wie jeder."

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Stein hat gelernt, sich nicht mehr über derartige Situationen zu ärgern. Schließlich sei es ganz normal, sich bewusst von beängstigenden und schrecklichen Erfahrungen abzugrenzen. Ausblenden dürfte man das Thema allerdings trotzdem nicht. "Wir müssen uns immer wieder vor Augen halten, was mit Deutschland unter Hitler passiert ist und uns klarmachen, dass das mit jedem von uns passieren könnte. Jeder von uns kann sich soweit von der Wirklichkeit loslösen, dass er nicht mehr sieht, was direkt vor seinen Augen passiert."

Das bringt uns auch zum letzten Punkt unseres Gesprächs: Donald Trump. Für Stein erfüllt der Präsident der Vereinigten Staaten alle Kriterien eines Sektenführers. "Ist er charismatisch und autoritär? Ja. Errichtet er eine streng gegliederte, autoritäre Hierarchie? Sieht ganz danach aus", sagt sie und weist auch darauf hin, wie stark Trumps Familie in die Regierung verstrickt ist. "Verbreitet Trump eine Ideologie mit einem umfassenden Wahrheitsanspruch? Ja! Zeigt seine Strategie Zeichen von Isolierung, Gehirnwäsche und Angst? [Die Regierung von Trump] schürt zweifellos Angst. Und zu guter Letzt: Hat er einsatzfähige Anhänger? Ich denke, das werden wir bald erleben, wenn wir ihn nicht so schnell wie möglich loswerden."


Titelfoto: Unsplash | Pexels | CC0 [Symbolbild]