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subkultur

Echte Vampire: von bluttrinkenden Menschen und ihren menschlichen Spendern

Vampire gibt es auch im wahren Leben. Sie saugen ihre Opfer allerdings nicht aus, sondern leben in einem einvernehmlichen Verhältnis zu ihren Spendern, die sich selbst „schwarze Schwäne" nennen.
Photo by Javier Diez via Stocksy

Nachdem sie sich abgeschminkt hat, sucht Giselle ihren Arm nach einer geeigneten Vene ab. Als sie eine gefunden hat, nimmt sie eine Butterflynadel sowie eine Spritze und nimmt sich selbst 80 ml Blut ab—ungefähr zwei Schnapsgläser voll.

Das hat allerdings keine medizinischen Gründe. Giselle spendet einem Freund Blut. Er ist ein Vampir, auch Sanguiniker genannt (abgeleitet von dem lateinischen Wort „sanguis" für „Blut"). Viele solcher echten Vampire glauben, dass sie Blut zu sich nehmen müssen, um gesund zu bleiben und Spender wie Giselle—die sich selbst oft „schwarze Schwäne" nennen—versorgen sie mit der benötigten Menge an menschlichem Blut. Während die Zahl der Vampire in der deutschen Szene auf etwa 150 geschätzt wird, gehen Forscher davon aus, dass es in den USA mindestens 5.000 von ihnen gibt. Man nimmt außerdem an, dass es etwas mehr Frauen als Männer gibt, die sich selbst als Vampir identifizieren.

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Abgesehen davon, dass es ein gesellschaftliches Tabu ist, finden die meisten Menschen die Vorstellung Blut zu trinken, heutzutage schlichtweg abstoßend. Das war allerdings nicht immer so. Im 16. und 17. Jahrhundert gab es viele Menschen, darunter auch Priester, Könige und Ärzte, die Blut getrunken haben, um Kopfschmerzen oder Epilepsie zu behandeln. Blut wurde darüber hinaus auch eine vitalisierende Wirkung nachgesagt—vor allem, wenn es frisch aus dem Körper eines jungen Menschen getrunken wurde. Mit dem medizinischen Fortschritt nahmen solche Praktiken dann allerdings immer weiter ab.

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Viele Vampire können sich genau an den Moment erinnern, als sie festgestellt haben, dass sie anders sind. In einigen Gruppen innerhalb der Szene wird dieser Augenblick auch als „Erweckungsmoment" bezeichnet. Ein Mitglied der Seite sanguinarius.org erzählt, dass ihm bewusst wurde, dass er ein Vampir ist, nachdem er das Blut von einem rohen Schweinesteak getrunken hat, das auf dem Küchenthresen zurückgeblieben war. Julia, 48, lebt in den USA. Sie sagt, dass sie schon mit sechs Jahren ein Verlangen nach Blut entwickelt hat. „Mit 12 habe ich das erste Mal menschliches Blut zu mir genommen", erzählt sie Broadly. Als sie zum ersten Mal einen Jungen geküsst hat, hat sie ihn so fest auf die Lippe gebissen, dass es geblutet hat—dann hat sie es getrunken. „In diesem Moment ist meine wahre Natur durchgebrochen. Das war ein alles veränderndes Erlebnis für mich", erzählt sie.

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Viele sanguinische Vampire behaupten, dass sie aus gesundheitlichen Gründen Blut zu sich nehmen müssen und nennen sich selbst „medizinische Sanguiniker." John Edgar Browning, ein ehemaliger Doktorand an der technischen Universität von Georgia, hat die Vampirszene in New Orleans fünf Jahre lang interviewt und studiert. Er hat sich sogar selbst mal als Spender zur Verfügung gestellt. Der Vampir hat ihm mit einem Skalpell in den Rücken gestochen und sein Blut direkt mit dem Mund aus der Wunde gesaugt, bevor er sie gereinigt hat. „Diese Form der Blutspende hat mich aufschrecken lassen—nicht, weil es unsicher ist, sondern aus einem komplett anderen Grund: Ich habe Angst vor Nadeln", sagt er Broadly.

Eine Illustration aus „Carmilla", der Vampir-Novelle von Joseph Sheridan Le Fanu aus dem 19. Jahrhundert. Illustration: David Henry Friston | Wikimedia Commons | Public domain

Er sagt, dass viele der Leute, die er interviewt hat, bereits versucht haben, auf Blut zu verzichten. Das führte allerdings nur dazu, dass sie körperliche Beschwerden bekamen und sich schwach, lethargisch und kränklich fühlten. „Eine Vampirin, mit der ich gesprochen habe, hat mir erzählt, dass sie ins Krankenhaus eingewiesen wurde. Erst nachdem sie von ihrem damaligen Partner im Krankenhauszimmer gefüttert wurde, kam sie nach eigener Aussage wieder zu Kräften und konnte entlassen werden", erklärt Browning.

Bei Krystian, einem Vampir aus Großbritannien, wurde vor zwei Jahren eine genetische Mutation diagnostiziert. Diese Mutation hat zur Folge, dass sein Körper Probleme dabei hat, ausreichend Häm zu produzieren—einem wichtiger Bestandteil von Hämoglobin, dem Eiweißmolekül in den roten Blutkörperchen, das Sauerstoff von den Lungen zu den Zellen und Kohlendioxid von den Zellen zurück zur Lunge transportiert. Er glaubt, dass er seiner Gesundheit etwas Gutes tut, wenn er Blut zu sich nimmt.

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„Ich habe seit meiner Geburt immer wieder unter verschiedenen gesundheitlichen Beschwerden gelitten", sagt er. „Wenn ich regelmäßig Blut zu mir nehme, geht es mir gesundheitlich weitestgehend gut. Wenn nicht, dann leide ich unter Blutarmut, die zu neurologischen und kognitiven Beschwerden führen kann, wie Depressionen, Amnesie, Übelkeit, Verstopfung und Schlaflosigkeit. Manchmal kann ich noch nicht einmal Essen, ohne Schmerzen zu haben. Blut hilft immer sofort gegen meine Beschwerden." Er erzählt mir, dass er für gewöhnlich 125 ml täglich zu sich nimmt, um seine gesundheitlichen Probleme in Schach zu halten. „Das entspricht etwa einer halben Dose Red Bull", erklärt er.

Während einige Vampire unter körperlichen Problemen leiden, glauben andere, dass ihr Verlangen einen psychologischen Ursprung hat. Ich habe auf Reddit mit Zvasra gesprochen, einer 34-jährigen Frau aus Memphis, Texas. Ihrer Meinung nach erfüllt das Trinken von Blut ein „rein psychologisches Bedürfnis."

Nachdem ich Blut gespendet habe, fühle ich mich komplett entspannt—so als würde ich mich in einem Pool treiben lassen.

„Ich denke, dass es irgendeinen psychologischen Grund hat, warum Leute wie ich so ein starkes Verlangen nach Blut haben", meint sie.

Meine Frage, ob sie schon mal darüber nachgedacht hat, sich medizinische Hilfe gegen ihren Blutdurst zu suchen, verneint sie: „So lebe ich nun mal. Ich bin zufrieden und möchte mein Leben auch weiterhin so führen wie jetzt. Mir ist durchaus bewusst, dass es gesellschaftlich verpönt ist, was ich tue, aber ich würde auch nicht wollen, dass mein Arzt irgendeine mögliche Krankheit reindeutet." Meist wird auf das Reinfield-Syndrom Bezug genommen, um das Verlangen nach Blut zu erklären. Allerdings wird das Reinfield-Syndrom in der medizinischen Fachliteratur und in der Regel auch von Psychiatern nicht als offizielle Störung anerkannt.

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Egal woher ihr Verlangen kommt, klar ist, dass sanguinische Vampire regelmäßig Blut benötigen, um ihre Beschwerden zu lindern und ihr Verlangen zu stillen. Im Laufe der Zeit sind verschiedene Netzwerke entstanden, über die sich Vampire willige Spender suchen können. Es gibt Gruppen in sozialen Fetischnetzwerken wie Fetlife, aber auch Seiten wie das Vampire and Donor Connections Hub, das Krystian vor zwei Jahren gegründet hat. Manche von ihnen—so wie Julia, deren Verlobter ihr aktueller Spender ist—greifen auf Familienmitglieder, Freunde oder ihre Partner zurück.

Während bei Julia nur menschliches Blut seinen Zweck erfüllt, sind andere Vampire auch nicht abgeneigt, das Blut von Tieren zu trinken, wenn sie Schwierigkeiten haben, einen regelmäßigen Spender zu finden. „Wenn ich mal eine Durststrecke erlebe, gehe ich in den Asia-Markt um die Ecke und kaufe gefrorenes Schweine- oder Ochsenblut. Das kann man zwar nicht pur trinken, aber es lässt sich gut auftauen und mit ein wenig Wein oder Kaffee mischen. Außerdem kann man es gut zum Kochen verwenden", sagt Zvasra.

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Krystian trinkt Rinderblut, das er von einer Schlachterei in seiner Gegend bekommt. „Ein Vampir kann von einem Spender allein nicht leben, deswegen brauchen wir Rinderblut, um gesund zu bleiben", sagt er. „Ich nehme von meiner Spenderin [seiner aktuellen Freundin] so wenig wie möglich—zu ihrer eigenen Sicherheit. Das Blut von Tieren wirkt allerdings nicht so gut wie das von Menschen, weil es einfach anders ist."

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Viele fragen sich vielleicht, was die „schwarzen Schwäne" eigentlich davon haben, Vampiren Blut zu spenden. Man stößt zwar gelegentlich auf Verbindungen zur BDSM-Szene und zu Vampirfetischisten, aber die meisten Spender wollen einfach nur ihren Liebsten helfen, die unter mysteriösen und oftmals lähmenden Beschwerden leiden.

Manche Spender ziehen auch selbst ein angenehmes Gefühl daraus, Blut zu spenden. „Das mag sich vielleicht komisch anhören, aber nachdem ich Blut gespendet habe, fühle ich mich komplett entspannt—so als würde ich mich in einem Pool treiben lassen", sagt Giselle. „Ich denke, dass liegt zum Teil auch an der Befriedigung zu sehen, dass sich die Vampire sichtbar verändern, wenn ich ihnen mein Blut gespendet habe. Ihre Augen beginnen zu leuchten und sie wirken plötzlich viel lebendiger. Das gibt mir das Gefühl, etwas Gutes und Nützliches getan zu haben."

„Es hat eine Weile gedauert, bis ich begriffen habe, dass ich genauso viel—beziehungsweise manchmal sogar mehr—davon habe als der Vampir selbst. Wenn ich mich um jeden kümmern könnte, der einen Spender braucht, würde ich es tun", sagt sie.

Frisches Schweineblut in einem Supermarkt. Foto: Glen MacLarty | Flickr | CC BY 2.0

Es ist wichtig, dass die Blutspende einvernehmlich geschieht und sicher ist. Die meisten Vampire und Spender dulden kein gewalttätiges Verhalten. Die sogenannte Donor Bill of Rights, eine Art Rechtskonvention für Spender, wurde von Belfazaar Ashantison gegründet. Er ist selbst ein Vampir und betreibt eine Yahoo-Gruppe, die sich für die Sicherheit innerhalb der Community einsetzt. Die Donor Bill of Rights ist so eine Art ethischer Vertrag, den die Beteiligten regelmäßig unterschreiben, um sicherzustellen, dass alles mit rechten Dingen zugeht.

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Das Blut anderer Menschen zu trinken, birgt trotzdem einige gesundheitliche Risiken—allem voran die Gefahr, sich mit Krankheiten wie HIV anzustecken. Außerdem kann sich der übermäßige Konsum von Eisen negativ auf die Gesundheit auswirken und unter anderem Leberleiden oder Herzrhythmusstörungen zur Folge haben. Die Vampire, mit denen ich gesprochen habe, stellen nach eigener Aussage sicher, dass die Messer, Nadeln und Spritzen, die sie verwenden, steril sind. Einige von ihnen verlangen von ihren Spender auch, dass sie regelmäßig zur Blutuntersuchung gehen. Eine direkte Spende, bei der der Vampir das Blut direkt aus dem Spender trinkt, ist eine der beliebtesten Methoden. „Einige verwenden dafür Fangzähne [in der Regel Zahnimplantate]. Das kann allerdings Narben geben und die Versorgung einer Bisswunde ist etwas komplizierter. Ganz zu schweigen davon, dass es weh tut—das ist ungefähr so, als würde man von einem Hund gebissen werden", sagt Zvasra.

Gerade weil der Konsum von Blut so ein gesellschaftliches Tabu ist, behalten viele Vampire für sich, was sie tun. Viele von ihnen fühlen sich aber auch einfach missverstanden—vor allem wegen der stereotypen Darstellung von Vampiren in den Medien.

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Tatsächlich verzichten manche von ihnen von vornherein darauf, sich als Vampire zu bezeichnen. „‚Vampir' ist ein Begriff, der erfunden wurde, weil die Leute ein Wort brauchten, um uns zu benennen. Der Begriff ‚Sanguiniker' ist nicht ganz so vorurteilsbehaftet", sagt Krystian. „Menschen neigen dazu zu bekämpfen, wovor sie Angst haben. Deswegen leben wir auch so zurückgezogen. Wir sind aber weder gefährlich, noch irgendwelche bösen mystischen Kreaturen."

Der Meinung ist auch Browning. „Vampirismus wird von Außenstehenden noch immer missverstanden. Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass die Leute glauben, dass sie anfangen Blut zu sich zu nehmen, nachdem sie Bücher oder Filme über Vampire gesehen haben. Das stimmt aber nicht."

„Realvampire sind nur äußerst selten von diesem ganzen Vampirding besessen. Wenn sie von etwas besessen sind, dann von ihrer Gesundheit und davon, den Grund für ihre mysteriösen Beschwerden zu finden, an denen sie tagein tagaus leiden."

Die Vampire sind aber nicht die Einzigen, die auf Ablehnung stoßen. Auch die „schwarzen Schwäne" treffen bei anderen Menschen immer wieder auf Unverständnis. „Ich würde sagen, dass es Außenstehende auf jeden Fall irritiert, was wir tun. Ich wurde deswegen auch schon als ‚Hure' bezeichnet und manche meinten auch, ich wäre nur verzweifelt auf der Suche nach Aufmerksamkeit", sagt Giselle. „Am Anfang habe ich mich für das, was ich bin, geschämt, aber das ist mittlerweile anders. Ich tue es für mich. Es hilft mir gegen den Alltagsstress und gibt mir ein gutes Gefühl."


Foto: gaelx | Flickr | CC BY-SA 2.0