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Die aufreizende Geschichte des Nippelpiercings

Von geschminkten „Paradiesäpfelchen” bis hin zu diamantenem Nippelschmuck—das Nippelpiercing war schon lange vor Instagram-Berühmtheiten ein Zeichen der Rebellion und der sexuellen Befreiung.
Photo by Adrian Ragasa via Stocksy

Isabeau de Bavière, Königin von Frankreich, liebte tiefe Dekolletés. Sie liebte sie so sehr, dass sie das Dekolleté angeblich in die Hoftracht eingeführt haben soll. Ihr Fashion-Statement soll zum Teil vom Hals bis hin zum Nabel gereicht haben und wurde zusätzlich mithilfe von Schmuck in Szene gesetzt. Ihre geschminkten „Paradiesäpfelchen" (ein beschönigter Begriff für Nippel aus dem 14. Jahrhundert) waren mit diamantenen Piercings verziert, die durch Ketten aus Perlen und Gold miteinander verbunden waren. Manchmal schmückten auch winzige Kappen ihre Nippel.

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Isabeau de Bavière wird oft als die erste Frau bezeichnet, die ihre Nippel piercen ließ. Außerdem war sie angeblich auch die Erste, die damit einen echten Trend unter den wohlhabenden Frauen des späten 14. und frühen 15. Jahrhunderts ausgelöst hat. Ihre verzierten Äpfelchen können allerdings nicht erklären, warum von den Frauen in einigen westeuropäischen Städten in den 1890er-Jahren „schon fast erwartet wurde, dass sie sich die Nippel piercen lassen" und warum sich heute nur noch knapp ein Prozent der Frauen in Deutschland die Brustwarzen durchstechen lässt. Im Gegensatz zu Ohrringen und dem berühmt berüchtigten Klitorispiercing war das Nippelpiercing nicht immer gleichbleibend beliebt beziehungsweise unbeliebt. Genauer gesagt nahm die Beliebtheit des Nippelpiercings über die Jahre immer wieder zu und ebbte schließlich auch irgendwann wieder ab.

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Während Isabeau de Baviére die vermeintlich erste Frau war, die einen echten Trend mit dem Nippelpiercing ausgelöst hat, war sie längst nicht die Erste, der klar war, dass es der Nippel verdient geschmückt zu werden. Laut The Naked Woman: A Study of the Female Body verschönerten Frauen ihre Nippel aber meist lieber so, dass es beim Stillen nicht störte. „Im alten Ägypten, also vor dreitausend Jahren, verzierten Frauen von hohem Stand ihre Nippel gerne aufwendig mit goldener Farbe", schreibt der Zoologe Desmond Morris. „Im antiken Rom, vor etwa zweitausend Jahren, war es dagegen beliebt, seine Nippel mit Rouge zu schminken, um erotischen Begegnungen mehr Würze zu verleihen."

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Genau genommen waren gepiercte Nippel zunächst eine Form der Körpermodifikation, die nur von echten Männern getragen und als Symbol der Männlichkeit stolz zur Schau gestellt wurde. Julius Caesar hatte angeblich einen gepiercten Nippel, weil das Schmuckstück im alten Rom ein Zeichen der Stärke gewesen sein soll. Später feierten Seefahrer dann Überfahrten einer bestimmten Länge oder über einen bestimmten Breitengrad hinaus mit einem einzelnen Ring durch den Nippel, so Margo DeMellos in seinem Buch Encyclopedia of Body Adornment. Doch während sich der Männlichkeitswahn hartnäckig hielt, starb der rituelle Trend nach und nach immer mehr aus. Tatsächlich durchbohrten die Männer der Karankawa im heutigen US-Bundesstaat Texas ihre Brustwarzen mit einem Stück Schilfrohr, bis ihr Stamm Ende des 19. Jahrhunderts schließlich komplett ausstarb, wie die Encyclopedia of American Indian Costume anmerkt.

Ende des 19. Jahrhunderts fingen Frauen dagegen erst an, sich Löcher in die Nippel zu bohren. In großen westeuropäischen Metropolen wie London oder Paris machte das Piercing aus vielerlei Gründen einen entscheidenden Schritt nach vorn—einer der Hauptgründe für diese Entwicklung war, dass das Nippelpiercing die Grenze zwischen modisch und verrucht markierte. Viele Studien zu diesem Thema zitieren einen Artikel aus einem Magazin, das in den 1890er-Jahren im viktorianischen England erschien. In dem Artikel geht es schlichtweg darum, dass sich Menschen die Nippel piercen ließen und sie über Ketten miteinander verbanden.

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„Ende der 1890er wurde der ‚Brustring' für kurze Zeit modern und war in teuren Pariser Schmuckgeschäften erhältlich", schreibt Steven Kern in Anatomy and Destiny: A Cultural History of The Human Body. „Diese sogenannten ‚Anneaux de Seins' wurden durch den Nippel getragen. Einige Frauen trugen sie sogar auf beiden Seiten und verbanden sie mit einer feingliedrigen Kette. Die Ringe vergrößerten die Brüste und hielten sie in einem dauerhaften Zustand der Erregung."

Diese Form der Körpermodifikation wurde vom Rest der Gesellschaft nicht unbedingt positiv wahrgenommen, so Kern. „Die medizinische Fachwelt war entsetzt von einem solchen kosmetischen Eingriff, weil es der traditionellen Wahrnehmung von der Bestimmung des weiblichen Körpers komplett widersprach." Das heißt, während Nippel früher nur Zitzen waren, mit denen Frauen ihre Kinder säugten, wurden sie durch das Piercing plötzlich zu einem Zeichen der Rebellion und einer Quelle der Lust. Das machte sie zugleich auch zum Ausdruck einer gesellschaftlichen Sonderstellung, weil wohlhabende weiße Frauen meist, ohne Konsequenzen erwarten zu müssen, „rebellisch" genannt werden konnten.

Es ist allerdings schwierig, jeder Quelle über diese „Modeerscheinung" zu glauben, weil man davon ausgehen muss, dass einige Berichte über die Popularität des Nippelpiercings mit Sicherheit übertrieben sind, schrieb Charles LaFave auf BME: Body Modification Ezine. Erst nachdem er den Beweis für die Beliebtheit des Nippelrings in Magazinen der damaligen Zeit gefunden hatte, kam er zu dem Schluss, dass die Berichte scheinbar doch größtenteils auf Fakten beruhen. Selma Kadi, die 2007 an der Universität von Wien studierte, beschäftigte sich in John Bull beim Erziehen ebenfalls damit, die Wahrheit ans Licht zu bringen, wodurch sich die Berichte weiter erhärteten.

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„Ein Bericht zitiert die Broschüre eines New Yorker Arztes, der sich über die jungen amerikanischen Frauen beschwerte, die nach Europa gingen, um sich in Paris Nippelringe stechen zu lassen", schreibt Kadi und merkt an, dass Nippelpiercings in Magazinen wie La vie parisienne oder Fin de siècle oft mit „Frauen der demi-monde" in Verbindung gebracht wurden. „Die Broschüre stellt Brustringe als eine Gefahr für die Gesundheit und als ‚ungesunde Sinnesfreuden' dar." Diese gesundheitlichen Bedenken gepaart mit der allgemeinen sozialen Prüderie haben letztendlich vermutlich auch zum Niedergang des Nippelpiercings geführt.

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„Ich glaube, das Nippelpiercing wurde unbeliebt, weil man dachte, es sei schmerzhaft und würde beim Stillen stören. Außerdem wurde das Nippelpiercing als Gesundheitsrisiko angesehen", sagt Rayner W. Hesse, Autor von Jewelrymaking Through History: An Encyclopedia, in einer E-Mail an Broadly. „In der amerikanischen Gesellschaft, die damals noch von einer sehr viel puritanischeren Geisteshaltung geprägt war, galt das Nippelpiercing Anfang des 20. Jahrhunderts sogar als extrem vulgär."

In den 1960er-Jahren setzte sich das Nippelpiercing dann aber zum ersten Mal auch in den USA durch. Allerdings war es am Anfang vor allem in der Schwulen- und BDSM-Szene relativ weit verbreitet. Fakir Musafar und Jim Wars, zwei verehrte Figuren in der LGBTQ-Community, haben sich damals ihre Nippel piercen lassen. Diese Formen der Körpermodifikationen hatten einen großen Einfluss auf die Fetisch- und Queer-Community, welcher auch heute noch zum Teil sichtbar wird.

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Der aktuelle Trend kam dagegen wie aus dem Nichts, wie verschiedene lokale Piercingstudios meinen. Adam Block ist Geschäftsführer und Piercer im The End is Near, einem bekannten Piercingstudio in Brooklyn. Er sagt, dass er im vergangenen Jahr einen riesigen Zuwachs von Nippelpiercings bei Frauen im Alter von 18 bis 25 beobachtet hat. An dem Tag, als Broadly mit ihm gesprochen hat, hat Block bis Ladenschluss insgesamt vier Nippelpiercings gestochen. Für gewöhnlich seien es aber sogar bis zu acht am Tag, sagt er. Er schätzt, dass 80 Prozent davon bei Frauen gestochen werden.

Die Gründe, warum die Löcher in unseren Nippeln wieder unser Interesse wecken, sind vermutlich die Gleichen wie damals im viktorianischen Zeitalter: Ästhetik, kulturelle Stellung und sexuelle Erregung. Block findet allerdings nur eine Erklärung dafür, dass der Trend im vergangenen Jahr förmlich explodiert ist: Promis.

„Daran ist Kylie schuld!", scherzt Block in einer E-Mail.

Allen Dabbs ist Piercer im generation8tattoo in Los Angeles. Er führt den Trend ebenfalls auf Kylie Jenner zurück, die im Januar 2015 ein Foto von sich auf Instagram gepostet hat, auf dem ihr Nippelring durch ihr lavendelfarbenes Oberteil zu sehen war. Sie hat es anschließend allerdings gelöscht, weil es eine „solche Kontroverse" ausgelöst hat. Obwohl sich viele Promis wie Bella Hadid, Rihanna und sogar Kendall Jenner die Nippel haben piercen lassen, eifern die meisten Frauen Kylie nach.

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Wir werden nie wirklich wissen, ob er so beliebt ist, wie wir denken.

„Ich hatte schon ein paar Kundinnen, die zu mir kamen und gefragt haben, auf welcher Seite sie es machen lassen sollen, weil Kylie Jenner ihres auf dieser oder jener Seite hat", sagt Dabbs.

Block und Dabbs denken aber nicht, dass der Nippelring jemals so beliebt werden wird wie der Ohrring. „Ich denke, Nippelpiercings sind in den Köpfen vieler Leute mit unzähligen Stigmata behaftet. Viele Leute verbinden mit einem Nippelpiercing die Angst, wie ‚eine Schlampe auszusehen' oder denken, dass ‚das Stechen zu schmerzhaft wäre'", sagt Dabbs.

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Adrian Castillo von dem New Yorker Piercing- und Tattoostudio Adorned ist dagegen etwas optimistischer und spricht einen wichtigen Punkt an: Da wir mittlerweile nicht mehr alle in Kleidern mit tiefen Ausschnitten herumlaufen, könnten Nippelringe sehr viel beliebter sein als wir denken—nur können wir sie nicht sehen.

„Ein Nippelpiercing ist für manche Menschen etwas so Intimes, dass du überrascht wärst, was unter den Anzügen einer Gruppe Geschäftsmänner alles zum Vorschein kommt", sagt er. „Ich finde, das Tolle am Nippelpiercing ist ja, dass wir nie wirklich wissen werden, ob er so beliebt ist, wie wir denken."


Foto: unsplash.com | Pexels | CC0