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Alkoholismus zerstört Leben – und wird bei jungen Frauen immer noch unterschätzt

Am Anfang trank Silvia nur, um ihren stressigen Berufsalltag zu vergessen. Jetzt ist sie 30 und trockene Alkoholikerin. Frauen wie sie gibt es viele, man sieht sie nur nicht.
Foto: unsplash.com | Pexels | CC0

Ein Glas Wein zum Mittagessen, abends ein paar Cocktails, um den Alltagsstress zu vergessen, und am Wochenende ordentlich Party machen: Wer als junger Mensch regelmäßig und viel trinkt, der tut dies oft unter dem Deckmantel einer gesellschaftlichen Akzeptanz. Alkohol ist omnipräsent und einen Grund, um zu trinken, gibt es immer. Wer nicht trinkt, wird komisch beäugt und muss sich oft rechtfertigen. Trotzdem scheint Alkoholismus etwas zu sein, das man vor allem mit älteren Menschen in Verbindung bringt. Mitte 20 muss man doch quasi noch das Leben genießen. Da ist eine Flasche Sekt im Park eher Ausdruck allgemeiner Lebensfreude als Hinweis auf ein ernsthaftes Problem. Oder? Doch der Weg in die Sucht ist kürzer als man denkt – unabhängig von Alter, Geschlecht, Bildung und sozialem Status.

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In Österreich gibt es laut Statistik Austria etwa 95.000 Alkoholikerinnen. Im Jahr 2015 wurde Alkoholabhängigkeit in österreichischen Krankenanstalten in 28.411 Fällen diagnostiziert, in 8.497 davon bei Frauen: Ein Wert, der sich seit 1992 fast verdoppelt hat, während er bei den Männern seit Ende der 00er-Jahre sinkt. In Deutschland ist die Zahl der Alkoholiker_innen 2014 auf 1,8 Millionen gestiegen, immer mehr junge Menschen unter 25 Jahren sind süchtig. Der Anteil der Menschen mit riskantem Alkoholkonsum war 2012 bei den jungen Erwachsenen zwischen 18 und 29 Jahren am höchsten: Bei Frauen lag der Wert bei 33 Prozent, bei Männern bei 42 Prozent. Dass man ein wirkliches Problem hat, merken viele junge Menschen erst dann, wenn es zu spät ist. Eine von ihnen ist Silvia*.

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Ich treffe mich mit einer Frau, die ein nach außen hin erfülltes Leben führt. Sie ist jung, intelligent, hat einen Job, Freunde und eine tolle Beziehung. Der Fall der 30-jährigen Wiener Sozialarbeiterin Silvia zeigt, dass Alkoholismus jeden treffen kann. Zum Zeitpunkt unseres Interviews ist sie seit 52 Tagen trocken, erzählt sie stolz. "Aber Trocken werden ist nicht so schwer. Trocken zu bleiben ist das Schwierige." Dafür, dass Alkoholismus bei jungen Frauen so wenig thematisiert wird, macht Silvia vor allem verantwortlich, dass Frauen weniger offen trinken. "Alkoholismus findet bei Frauen eher im privaten Bereich statt und wird nicht so auffällig wahrgenommen. Männer, die trinken, sind im öffentlichen Raum sehr viel präsenter. Frauen können das sehr gut und lange verstecken, glaube ich", sagt sie. Sie selbst habe auch sehr lange heimlich getrunken.

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Angefangen zu trinken hat Silvia erst mit 20, ihr Konsum konzentrierte sich auf die Abende, an denen sie Party machte und mit Freunden wegging. Problematisch wurde es dann Anfang 2014: "Ich war fast noch Berufsanfängerin und in einem Job, in dem ich heillos überfordert war." Getrunken wurde bei Firmen-Veranstaltungen, manchmal auch nach Arbeitsschluss. Vor allem immer dann, wenn es stressig war. "Da gehörte das Feierabend-Bier einfach dazu." Silvia wechselte den Job, das regelmäßige Trinken aber blieb.

Das Bild, das die Allgemeinheit vom 'typischen' Alkoholiker hat, ist das des besoffenen Penners auf der Parkbank.

Zunächst trank sie noch gemeinsam mit anderen, dann fing sie an, alleine zuhause zu trinken. Mit Alkohol verband sie Stressabbau, sie konnte zur Ruhe kommen und den Kopf abschalten. Die Mengen und auch die Art des Alkohols variierten: "Phasenweise war es mehr, von einer halben Flasche oder einer ganzen Flasche Wein bis zu einer halben Flasche Wodka. Ich wurde davon nur müde und habe getrunken, bis ich geschlafen habe." Die Trinkgelage erreichten 2016 ihren Höhepunkt. Mehrfach die Woche trinkt sich Silvia nach Feierabend in den Schlaf. Sorgen macht ihr damals nicht primär, wie viel sie trinkt, sondern dass sie das Gefühl bekommt, den Alkohol zu brauchen. "Ob es nur eine Dose Bier am Abend ist oder ob man jeden Tag bis zum Vollrausch trinkt – die Sucht ist die Gleiche", erklärt sie.

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Junge Frauen wie Silvia gibt es viele. Man sieht sie nur nicht. Alkoholismus passiert zu einem großen Teil im privaten Bereich, weiß der Lebens- und Sozialberater Hermann Hofstetter vom Blauen Kreuz in Wien. "Etwa 350.000 bis 400.000 Menschen in Österreich sind definitiv alkoholkrank, also medizinisch diagnostiziert. Mit der Dunkelziffer beläuft sich die Zahl der Menschen, die einen gesundheitsschädigenden Umgang mit Alkohol haben, auf etwa 20 Prozent der Bevölkerung" erklärt er. Alkoholismus als solcher sei dabei extrem stereotypisiert. "Das Bild, das die Allgemeinheit vom 'typischen' Alkoholiker hat, ist das des besoffenen Penners auf der Parkbank. Aber das ist nur ein ganz kleiner Teil der alkoholkranken Menschen in unserer Gesellschaft", so der Sozialberater. Die funktionierenden Alkoholiker_innen fallen nicht auf.

Foto: unsplash.com via pexels | CC0

Das heimliche Trinken wurde auch bei Silvia mehr und mehr zu einem Versteckspiel. Denn wer süchtig ist, entwickelt Muster: "Man trinkt den Wodka zu Hause leer und kauft ihn dann gleich nach. Oder man wird einmal vom Partner gefragt, warum denn da eine leere Flasche Alkohol steht und beginnt, ihn zu verstecken, um diesen Fragen auszuweichen. "Als ihr Partner sie auf ihren Alkoholkonsum anspricht, schämt sie sich und will ihr Problem zunächst selbst in den Griff bekommen. Sie versucht aktiv, weniger zu trinken und steigt auf eine Dose Bier nach der Arbeit um. Als sie merkt, dass sie es nicht schafft, ihren Konsum zu verringern, versteht sie: Sie braucht professionelle Hilfe.

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Anfang 2017 wendet sie sich an das Blaue Kreuz in Wien. Seit 1970 wird hier Suchtkrankenhilfe für Betroffene und Angehörige angeboten. Silvia geht regelmäßig zu den Treffen, die gemeinsamen Gruppentermine empfindet sie als erleichternd. Sie ist stolz darauf, sich ihrem Problem gestellt und sich Hilfe geholt zu haben.

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Dass immer mehr Frauen einen schädlichen Umgang mit Alkohol aufweisen, kann auf verschiedene Faktoren zurückgeführt werden, viele davon geschlechtsunspezifisch. Allgemein werden Stimmungsaufhellung, Angst- und Stressabbau und Problembewältigung oft als Gründe für das Trinken genannt. Statistisch beweisen lässt sich ein Zusammenhang zwischen Karrieredruck und Alkoholismus zwar nicht, allerdings wurde herausgefunden, dass Frauen in Deutschland mit höherem Bildungsniveau zu riskanterem Alkoholkonsum neigen. Der soziale Status spielt bei der Entwicklung einer Sucht grundsätzlich kaum eine Rolle. "Dass jemand Rechtsanwältin, Ärztin oder Universitätsprofessorin ist, schützt nicht davor, in den Alkoholismus abzurutschen. Letzte Woche haben wir eine Gruppe mit 25 Menschen betreut, davon waren etwa 40 Prozent Akademiker_innen", erzählt Hermann Hofstetter.

Aus seiner Erfahrung mit Betroffenen weiß er, dass bei Frauen "die Angst vor dem Verlassen werden, die Frustration im Beruf und Frust im Bezug darauf, oft nicht das Gleiche erreichen zu können wie Männer" eine stärkere Rolle spiele. Konkrete Auslöser für Alkoholsucht kann man allerdings weder bei Frauen, noch bei Männern benennen. "Das nennt sich 'multifaktorielle Genese': Die besagt, dass sich die Sucht aus mehreren biologischen und psychologischen Faktoren herausbildet, sowie aus der Sozialisierung eines Menschen – also ob jemand mit Alkohol aufwächst, die Eltern getrunken haben oder im Freundeskreis getrunken wird."

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Ich bin die ersten Wochen nicht mal alleine einkaufen gegangen, weil ich mir selber nicht mehr vertraut habe.

In der ersten Phase des Trockenseins hat Silvia versucht, Situationen zu vermeiden, in denen sie sich zum Trinken hätte überreden lassen, erzählt sie mir. "Ich habe mich oft gefragt, wie ich damit umgehe, wenn mir jemand beim Weggehen einen Drink anbietet. Inzwischen fällt es mir relativ leicht, Alkohol abzulehnen." Die Wienerin geht ihrem Partner, ihrer Familie und ihren Freunden gegenüber offen mit ihrer Sucht um, ansonsten erzählt sie niemandem davon. Wenn sie gefragt wird, warum sie nicht trinkt, sagt sie, dass sie den Geschmack nicht möge oder aus gesundheitlichen Gründen Alkohol ablehne. Silvia ist entschlossen: Sie will nicht mehr trinken. Im Alltag ist sie deswegen immer wieder vor Herausforderungen gestellt, denn Alkohol ist überall. Sei es versteckt in Nahrungsmitteln oder in Medikamenten. "Jetzt war erst eine große Erkältungswelle. Da fängt man an, bei Medikamenten zu schauen, ob die auch wirklich ohne Alkohol sind", sagt die 30-Jährige.

Bei der Frage, ob man ein Leben lang Alkoholiker_in bleibt, gehen die Meinungen der Experten auseinander, bestätigt Sozialberater Hofstetter: "Die einen meinen, Abstinenzbemühungen sind nicht das Non plus Ultra, kontrolliertes Trinken sei möglich. Wir meinen, dass bei jemandem, der einmal alkoholabhängig ist, kontrolliertes Trinken nicht funktioniert und nur dauerhafte Abstinenz nachhaltig zum Erfolg führt." Alkohol generell zu verteufeln sei nicht der richtige Weg, allerdings müsse sich die Einstellung der Gesellschaft ändern, damit das Nicht-Trinken nicht weiter die Ausnahme darstellt. Auch Silvia sieht das sogenannte "kontrollierte Trinken" kritisch: "Ich bin ja auch von meiner Flasche Wein auf eine Dose Bier am Abend umgestiegen. Aber es ist so viel Anstrengung damit verbunden, bei dieser Menge zu bleiben. Es ist leichter zu sagen, 'Ich trinke gar nicht', als zu sagen, 'Ich trinke nur ein einziges Glas Wein'. Das schafft ein süchtiger Mensch nicht."

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Für Silvia manifestierten sich die Entzugserscheinungen nicht körperlich, sondern im Kopf. "Ich bin die ersten Wochen nicht mal alleine einkaufen gegangen, weil ich mir selber nicht mehr vertraut habe", gibt sie zu.

Der Entschluss, gar keinen Alkohol mehr zu trinken, ist für Süchtige wichtig, birgt allerdings Risiken. Insbesondere für starke Alkoholiker kann ein kalter Entzug lebensgefährlich sein, weil körperliche Entzugssymptome wie Herzrasen, epileptische Krampfanfälle, Taubheitsgefühle und Halluzinationen auftreten können. "Deshalb sollte eine Entgiftung entweder stationär oder ambulant, aber immer unter ärztlicher Aufsicht und entsprechender Medikation vorgenommen werden", empfiehlt Hermann Hofstetter.

Erster und wichtigster Schritt im Kampf gegen Alkoholismus bleibt, dass wir als Gesellschaft unseren Umgang mit Alkohol hinterfragen. Wenn Alkohol zu jedem Anlass irgendwie "dazugehört", wenn das Trinken von Alkohol zu einer Art Ritual wird, durch das man "erwachsen" wird, wird es immer wieder junge Menschen wie Silvia geben. Menschen, die von Jugendjahren an gelernt haben, dass es für jede Art von Stress, Druck oder Empfindung ein Ventil gibt: trinken.

Jeden Montag finden im Blauen Kreuz in Wien von 17.00 – 18.30 Uhr spezielle Gruppengespräche für Frauen statt. Eine Übersicht zu Beratungsstellen zum Thema Alkoholismus in ganz Deutschland findet ihr hier.


Titelfoto: Unsplash.com | Pexels | CC0