Amanda Knox: Warum Frauen Verbrechen gestehen, die sie nicht begangen haben
Illustration by Eleanor Doughty

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Verbrechen

Amanda Knox: Warum Frauen Verbrechen gestehen, die sie nicht begangen haben

Es ist nur sehr wenig darüber bekannt, welche Rolle das Geschlecht dabei spielt, wie ein Mensch reagiert, wenn er von der Polizei vernommen wird. Allerdings deutet vieles darauf hin, dass es Zeit wäre, darüber nachzudenken.

Die Amerikanerin Amanda Knox geriet 2007 weltweit in die Schlagzeilen, als sie und ihr damaliger Freund vor einem italienischen Gericht wegen dem Mord an der britischen Austauschstudentin Meredith Kercher verurteilt wurden. Im Jahr 2015 wurde sie schließlich in letzter Instanz vom obersten Gerichtshof Italiens freigesprochen und spricht mittlerweile öffentlich über ihre Erlebnisse.

„Wir denken, es war so", sagt der leitende Ermittler. „Die anderen Babys haben geschrien und geweint und so weiter. Du musstest dich ganz allein um sie kümmern. Du hattest Ben auf dem Arm. Er fing an, verrückt zu spielen, dir ist endgültig der Geduldsfaden gerissen und hast ihn auf den Boden geworfen."

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„Hast du ihn auf den Boden geworfen?", fragt ein zweiter Ermittler.

Im Kreuzverhör der Anklage nickt Melissa Calusinki. „Ja."

Am 14. Januar 2009 wurde der 16 Monate alte Benjamin Kingan leblos in seiner Wippe in der Kindertagesstätte in Illinois aufgefunden, in der auch die 22-jährige Calusinki arbeitete. Erste Untersuchungen zeigten, dass er ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten hatte.

Zwei Tage später beenden die beiden Ermittler George Filenko und Sean Curran eine neunstündige Vernehmung auf dem Polizeirevier von Lake Zurich, einem Vorort von Chicago. Sie halten ein auf Video aufgezeichnetes Geständnis in den Händen. Calusinki hatte zunächst geleugnet zu wissen, woher Kingans Verletzungen stammten, doch im Verlauf der intensiven Befragung sagte sie irgendwann aus, dass das Kind die Angewohnheit hatte, sich nach hinten zu werfen, wobei er mit dem Kopf auf den Boden knallte. Später gestand sie dann, Kingan gewaltsam auf den Boden geworfen zu haben.

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Spätere Aufnahmen zeigen allerdings, wie Calusinski allein auf dem Rücksitz des Polizeiautos sitzt und ihr Geständnis widerruft. „Nein", murmelt sie und rutscht auf ihrem Sitz hin und her, ihre Hände sind mit Handschellen auf ihrem Rücken gefesselt. „Unschuldig." Doch ihr Geständnis reichte aus, um sie im November 2011 wegen Mord an Kingan zu verurteilen. Calusinki sitzt seither im Gefängnis, beteuert allerdings nach wie vor ihre Unschuld. Ihre Anträge auf ein neues Verfahren wurden abgelehnt.

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„Melissas Festnahme, ihre Anklage und ihre Verurteilung beruhen ausschließlich auf einem falschen Geständnis", erklärt Kathleen Zellner, Calusinskis Berufungsanwältin in einer E-Mail. Zellner betont, dass die objektiven Beweise vom Tatort dem Geständnis widersprechen. Kingans Autopsie ergab keine Schädelfraktur, Schürfwunden oder Hämatome—Verletzungen, die man bei einem kleinen Kind, das gewaltsam auf einen gefliesten Boden geworfen wurde, erwarten würde.

Als Calusinki im Februar 2016 vom dem CBS-Korrespondenten Brad Edwards gefragt wurde, warum sie gestanden hat, fällt es ihr schwer, sich zu erklären: „Mein einziger Weg da raus war zu tun, was sie von mir wollten." Unzählige Zeitungen haben darüber geschrieben, warum sie ein Verbrechen gestand, von dem viele überzeugt waren, dass sie es nicht begangen hatte: War sie das Opfer fragwürdiger Vernehmungstaktiken? Hatte ihr niedriger IQ dazu beigetragen? (Der Neuropsychologe Dr. Robert Hanlon sagte vor Gericht aus, dass Calusinski „leicht beeinflussbar" sei und einen niedrigen verbalen IQ habe—zwei Faktoren, die bewiesenermaßen dazu beitragen können, dass jemand ein Verbrechen gesteht, dass er nicht begangen hat.)

Frauen werden dazu ermutigt, die Autorität anderer zu befolgen und zu respektieren.

Worüber nicht diskutiert wurde, ist die Frage, ob Calusinskis Geschlecht etwas mit ihrem Geständnis zu tun hatte. Laut dem National Registry of Exonerations werden Frauen in elf Prozent der Fälle entlastet, weil ein falsches Geständnis vorlag—im Vergleich dazu werden insgesamt neun Prozent aller Verurteilten entlastet.

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Wir sind alle soziale Tiere, die darauf geprägt sind, Autoritätsfiguren gefallen und sich ihnen fügen zu wollen—so auch Polizisten. Doch Fügsamkeit und Beeinflussbarkeit sind keine gegebenen Merkmale—sie werden erlernt. „Männer genießen ein höheres gesellschaftliches Ansehen und haben mehr Macht", erklärt mir Alice H. Eagly, Professorin für Gender und Psychologie an der Northwestern University im US-Bundesstaat Illinois. „Frauen nehmen üblicherweise Rollen ein, die ein hohes Maß an Fürsorge und Zusammenarbeit miteinschließen. Dadurch entsteht die Annahme, dass Männer einflussreicher und Frauen leichter zu beeinflussen wären."

Frauen werden unter anderen sozialen Anreizstrukturen erzogen als Männer. Frauen werden dazu ermutigt, die Autorität anderer zu befolgen und zu respektieren. Das wird besonders in Vernehmungen deutlich—einer Situation, die darauf ausgerichtet ist, die absolute Kontrolle und die Autorität der Ermittler zu verstärken. Ich weiß selbst nur zu gut, wie sich das anfühlt.

Ein Bericht aus dem Jahr 2011 von der University of Bristol hat die Vernehmungen von 50 inhaftierten Frauen in Großbritannien analysiert und stellte dabei fest, dass Frauen besonders anfällig auf Nötigung und die Bedrohung familiärer Pflichten reagieren. Das macht es umso wahrscheinlicher, dass sie ein falsches Geständnis ablegen. Abgesehen davon gibt es nur sehr wenige wissenschaftliche Erkenntnisse, die sich damit beschäftigen, ob Frauen eher Verbrechen zugeben, die sie nicht begangen haben, als Männer.

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Professor Saul Kassin, einer der führenden Forscher auf dem Gebiet falscher Geständnisse, erklärt, warum das so ist. „Es werden überwiegend Männer wegen Gewaltverbrechen beschuldigt. Wir versuchen zwar oft, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu analysieren, doch es kommt nichts dabei raus—zumindest nicht in unseren Laborversuchen." Der Grund: Der Anteil der Frauen, die Gewaltverbrechen begehen, ist zu niedrig, um die Daten für statistische Modelle zu nutzen.

Ich frage Kassin, ob es irgendwelche veranlagten Charakterzüge gibt, die bestimmte Menschen anfälliger für Zwang ausübende Vernehmungstaktiken machen. „Es gibt zwei Persönlichkeitsmerkmale, die etwas mit der Veranlagung eines Menschen zu tun haben und ihn verwundbarer machen können: ein hohes Maß an Gehorsam und große Beeinflussbarkeit. Diese Eigenschaften machen einen Menschen nicht nur anfälliger für Fehlinformationen, sondern auch für falsche Erinnerungen."

Die Aufnahmen von der Überwachungskamera zeigen Calusinski allein im Vernehmungsraum.

Frauen sind darüber hinaus auch empfänglicher für sogenannte Erinnerungsfälschungen—das heißt, dass man etwas für wahr hält, was in Wirklichkeit nie passiert ist. Tatsächlich sind 92 Prozent der Personen, die unter falschen Erinnerungen leiden, Frauen. In der Regel sind die das Ergebnis von suggestiver Psychotherapie. (Allerdings nehmen Frauen bei psychischen Problemen auch deutlich häufiger Hilfe in Anspruch, was die Ergebnisse verfälschen kann.)

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„Frauen lassen sich wegen Depressionen und Essstörungen therapieren", erklärt Elizabeth F. Loftus, Expertin für Erinnerungsfälschung an der University of California in Irvine, „und am Ende denken sie, dass sie als Kind missbraucht wurden." Loftus setzt sich mit ihrer Forschungsarbeit gegen Therapieformen ein, bei denen Therapeuten versuchen, die psychotischen Symptome eines Patienten zu behandeln, indem sie ihn dazu ermutigen, sich an unterdrückte traumatische Erlebnisse zu „erinnern", ihm in Wirklichkeit aber falsche Erinnerungen einpflanzen—zum Beispiel Erinnerungen an sexuellen Missbrauch in der Kindheit. Sie sagt mir, dass sie im Rahmen ihrer Laborversuche in der Lage war, „durchschnittlich 30 Prozent der normalen, gesunden Menschen (beider Geschlechter)" komplett erfundene Erinnerungen einzupflanzen.

Wenn Loftus es schafft, rund einem Drittel der Normalbevölkerung falsche Erinnerungen in den Kopf zu setzen, kann man sich vorstellen, dass eine Frau wie Calusinski—sozial leicht beeinflussbar, niedriger IQ—keine Chance gegen die aggressiven Vernehmungstechniken der Polizei hat.

Frauen sind in Fällen, in denen es um den Tod eines Kindes geht, besonders angreifbar.

Frauen werden außerdem sehr viel häufiger für Verbrechen verurteilt, die niemals stattgefunden haben—zum Beispiel bei Unfällen oder Unglücken, die fälschlicherweise für Verbrechen gehalten werden, so wie Selbstmorde, die nach einem Mord aussehen. Das trifft auf 66,6 Prozent der Fälle zu, in denen eine Frau entlastet wurde; bei Männern sind es 28,7 Prozent, laut meiner eigenen Berechnungen auf Grundlage der Daten des National Registry of Exonerations.

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Auch Kristin Bunch wurde 1996 fälschlicherweise wegen dem Mord an ihrem dreijährigen Sohn verurteilt. Ihre wurde vorgeworfen, ihr Haus absichtlich in Brand gesteckt zu haben. Nach 17 Jahren wurde sie entlastet, weil zuvor nicht geprüfte Beweise nahelegten, dass das Feuer durch einen Unfall verursacht worden war. Ähnlich war es auch bei Sabrina Butler, die 1990 zu Unrecht wegen dem Mord an ihrem neun Monate alten Sohn verurteilt wurde, den sie angeblich zerquetscht haben soll. Nach fünf Jahren im Todestrakt wurde sie schließlich entlastet, weil man festgestellt hat, dass ihr Sohn an einer angeborenen Nierenkrankheit gestorben war. Erst vor Kurzem wurden auch Elizabeth Ramirez, Kristie Mayhugh, Cassandra Rivera und Anna Vasquez (die sogenannten San Antonio Four) entlastet. Sie wurden fälschlicherweise verurteilt, weil ihnen vorgeworfen wurde, die beiden Nichten von Ramirez sexuell missbraucht zu haben. Grundlage für ihre Verurteilung war die erzwungenen Zeugenaussage der beiden Kinder.

Frauen sind in Fällen, in denen es um den Tod eines Kindes geht, besonders angreifbar. „Ein auffälliger Unterschied ist, dass für gewöhnlich der Betreuungsperson (der Mutter oder dem Babysitter) die Schuld gegeben wird, wenn das Kind unter mysteriösen Umständen verletzt wird oder stirbt", meint Judith Royal, stellvertretende Direktorin des Women's Project vom Zentrum für Fehlurteile der Northwestern University. Außerdem kann der Wunsch der Frauen, der Polizei bei den Ermittlungen zu helfen, tragische Konsequenzen haben, erklärt mir Royals. „Die Mütter oder Betreuungspersonen sind in der Regel überaus motiviert, mit der Polizei zu kooperieren, um herauszufinden, was passiert ist. Dabei sind sie sich oft gar nicht bewusst, dass sie als Hauptverdächtige betrachtet werden und sich einen Anwalt nehmen sollten."

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Verbrechen gegen schutzlose, unschuldige Kinder gelten in unserer Gesellschaft als besonders verabscheuungswürdig. Wir üben in solchen Fällen besonders starken Druck auf die Ermittler aus, die Licht auf die Umstände des unerwarteten und mysteriösen Todes des Kindes werfen sollen. Matt DeMartini ist stellvertretender Staatsanwalt im Fall von Calusinski und meint: „Es gibt kein Opfer, das unschuldiger ist als ein Baby. Ein Baby ist frei von Sünde."

Die Motivation ohne rechtlichen Beistand mit den Ermittlern zusammenzuarbeiten, ist genau die Art von Geisteshaltung, die Menschen anfällig für Nötigungen macht. Außerdem gibt es den ergebnisorientierten Ermittlern die Gelegenheit, ihre mächtigsten Überredungstaktiken einzusetzen, die in einer Studie aus dem Jahr 2005 dargestellt wurden werden. Unter anderem isolieren die Ermittler die Befragten und „manipulieren sie so, dass sie denken, dass es ganz in seinem oder ihrem Interesse wäre, ein Geständnis abzulegen." Sie kombinieren positive und negative Anreize, „um die Angst und die Enttäuschung vor der Zurückweisung zu verstärken und die Angst vor den Folgen eines Geständnisses zu schmälern." Der perfekte Sturm, der überdurchschnittlich oft Frauen trifft, wenn von einem Verbrechen ausgegangen wird, wo es keines gibt.

Der Anwalt Mike Ware tritt vor Gericht für die San Antonio Four auf. Er ist außerdem Mitglied des Texas Innocence Project. Foto: Deborah S Esquenazi Productions, LLC

„Wenn eine Frau nach dem Tod eines Kindes wegen Kindesmissbrauch oder Mord angezeigt wird, wird sie oft gesellschaftlich und rechtlich aufgrund eines stereotypen Frauen- und Mutterbilds verurteilt", schreibt Andrea Lewis vom Zentrum für Fehlurteile der Northwestern University in der Albany Law Review. „Wenn keine Erklärung gefunden werden kann, stoßen Frauen nicht nur auf unsere kulturellen Vorurteile, die die Frau in der Verantwortung sehen, sondern auch auf unser historisches Bedürfnis, das uns glauben lässt, dass Babys nicht einfach so sterben." Schließlich gibt es doch nichts unweiblicheres und monströseres als eine Frau, die es nicht schafft, ihrer reproduktiven Rolle als Aufpasserin und Versorgerin gerecht zu werden, oder?

Die Ermittler suchen nach einer kriminellen Absicht. Im Zweifelsfall stellen sie falsche Vermutungen an und nutzen dann ihre Autorität und all ihre Einflussmöglichkeiten, um die Bestätigung zu bekommen, die sie brauchen. Eine verwundbare und geistig eingeschränkte Frau wie Melissa Calusinksi hat keine Chance gegen die professionellen Ermittler. Der Neuropsychologe Dr. Robert Hanlon, der vor Gericht als Gutachter für die Verteidigung auftrat, formulierte es so: „[Sie] schien in hohem Maße beeinflussbar zu sein—sei es durch Suggestivfragen oder die Rückmeldung, dass ihre Aussagen widersprüchlich seien."

Wir erwarten eine kriminelle Absicht, wo es keine gibt.

Im Verlauf der Befragung nutzten die Ermittler Curran und Filenko immer wieder Formulierungen wie: „Wir wissen, dass du da warst", „Deine Geschichten werden dir nicht helfen" und „Es ist mathematisch und physikalisch unmöglich, dass [Ben] diese Verletzungen erlitten hat, wenn man deiner Geschichte glaubt." Calusinksi beteuerte derweil immer wieder ihre Unschuld. Die Ermittler gingen davon aus, dass es viel wahrscheinlicher war, dass Ben Kingan durch die Hände seiner Betreuerin starb als durch einen Unfall oder natürliche Umstände. Schließlich legte Calusinski ein Geständnis ab, das viele gerichtskundige Beobachter für falsch halten.

Unsere Vorstellungen von Gerechtigkeit haben Frauen im Verlauf der Geschichte immer wieder Unrecht getan. Wir erwarten eine kriminelle Absicht, wo es keine gibt. Im Rahmen der Hexenprozesse von Salem wurden gegen Ende des 17. Jahrhunderts vor allem Frauen mittleren Alters verurteilt, die gegen die strikten sozialen und spirituellen Normen rebellierten. In der Folge wurden sie für alle möglichen Ereignisse verantwortlich gemacht—von Fehlgeburten bis hin zu verdorbener Milch. Erst vor Kurzem wurde Hillary Clinton wegen dem Wissen um die sexuellen Fehltritte ihres Mannes öffentlich angegriffen und obwohl im Rahmen der Ermittlungen im Bengasi-Prozess und in der E-Mail-Affäre kein Fehlverhalten festzustellen war, das einer strafrechtlichen Verfolgung bedurfte, forderten viele weiterhin: „Sperrt sie ein!"

Bisher gibt es keine einvernehmliche Meinung darüber, welche Rolle das Geschlecht dabei spielt, wenn Unschuldige verurteilt und wie Schuldige bestraft werden. Solange wir nicht darüber nachdenken, werden Frauen weiterhin leiden. Bevor wir uns nicht das Gesamtbild ansehen und die Komplexität der Psychologie eines Befragungsraums verstehen, werden noch viele Frauen Verbrechen gestehen, die sie nicht begangen haben.