Antinatalisten erklären, warum die Menschheit aussterben sollte
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Antinatalisten erklären, warum die Menschheit aussterben sollte

Während sich immer mehr Menschen bewusst dazu entscheiden, keine Kinder zu bekommen, lehnen Anhänger des Antinatalismus das Leben an sich ab. Wir haben sie gefragt, warum.

Die Pubertät ist eine schwierige Phase, in der man nicht nur sich selbst und sein komplettes Umfeld in Frage stellt, sondern auch die Tatsache, warum man überhaupt auf dieser Welt sein muss, in der alles so unsicher und angsteinflößend ist. Genau diesem Gedanken entspringt auch eines der absoluten Totschlagargumente der pubertierenden Jugend, mit dem man jegliche Diskussion mit den Eltern beenden kann: „Ich habe mir nicht ausgesucht, geboren zu werden!" Was aber wäre, wenn man dieser Aussage wirklich auf den Grund gehen würde, anstatt sie nur als Phase abzutun? Wenn man diesen Gedanken zu Ende denken und zu dem Schluss kommen würde, dass es moralisch falsch ist, überhaupt Kinder zu bekommen?

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Willkommen in der Welt der Antinatalisten, einer ehemals obskuren Strömung der Philosophie, die im Internet eine sektenhafte Anhängerschaft gefunden hat. Die Entscheidung, kinderlos zu bleiben, ist heutzutage allgemein weiter verbreitet als früher. Laut Angaben des Statistischen Bundesamts entscheiden sich immer mehr Frauen in Deutschland dagegen, Kinder zu bekommen. Bei Antinatalisten stecken allerdings nicht nur persönliche oder ökologische Gründe hinter der Ablehnung von menschlicher Reproduktion—laut des Reddit-Forums /r/antinatalism ist die Geburt an sich für sie „negativ belegt" und sie glauben, dass es ungerecht wäre, einen anderen Menschen in diese Welt voller Leid und Schmerz zu setzen.

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Die Twitter-Nutzerin @Roxane_cams, eine 36-jährige Frau namens Laura, ist eine der lautstärksten Online-Unterstützerinnen dieser Bewegung. Sie twittert täglich über ihre Überzeugungen und führt zahlreiche Debatten an, arbeitet hauptberuflich aber eigentlich als Camgirl. „Ich bin wahrscheinlich das weltweit erste und einzige antinatalistische Webcam-Model", lacht sie. „Ich beteilige mich an Debatten quer durch das Netz."

Wie die meisten Menschen, mit denen ich gesprochen habe, sagt auch sie, dass sie Geburten schon sehr lange ablehnt und erst später herausgefunden hat, dass es für diese Überzeugung ein Wort gibt: „Ich war mir schon seit meiner Kindheit sicher, dass ich keine Kinder haben möchte. Ich wusste aber auch, dass das Ganze eine tiefere Bedeutung für mich hat und es nicht nur darum geht, mehr Geld und freie Zeit zu haben […] Ich hatte schon immer dieses komische Gefühl, dass am Leben an sich irgendetwas falsch ist." Über Google stieß sie dann auf den Antinatalismus, „der im Grunde genommen auf den Punkt gebracht hat, wie ich mich schon mein ganzes Leben lang gefühlt habe."

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Im Grunde setzen sie sich für die Ausrottung der Menschheit ein.

Laut Kenqwi, dem Moderator des Antinatalismus-Subreddits, finden die meisten Menschen auf demselben Weg zu der Community. „Neue Mitglieder posten in der Regel einen kurzen Text, in dem sie sich vorstellen und sagen, wie froh sie sind, dass sie ein Wort für ihre Lebensphilosophie gefunden haben", sagt er. „Wir haben um die 4.000 Abonnenten. Das sind zwar noch immer relativ wenige, aber es ist eine sehr aktive Gemeinschaft."

Der Begriff „Antinatalismus" wurde von David Benatar geprägt, der Professor für Philosophie an der Universität von Kapstadt war. Sein Buch Better Never to Have Been ist das grundlegende Werk zu diesem Thema. Obwohl die Strömung innerhalb der Philosophie eher eine Ausreißerrolle einnimmt, hat sie eine unerwartete Beförderung erhalten, als der Macher von True Detective, Nic Pizzolatto, erklärte, dass ihm die Bewegung als Inspiration für seinen nihilistischen Charakter Detective Rust Cohle gedient hat.

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„Auf gewisse Weise hat die Serie am meisten zu der Bewegung beigetragen", erklärt mir Paul Ennis, Assistenzprofessor für Philosophie am University College in Dublin. „Früher ist man nur in irgendeiner verstaubten Ecke der Bibliothek auf ein paar rätselhafte Antinatalisten gestoßen. Mittlerweile findet man Abschriften ihrer Arbeiten auf Reddit." Antinatalisten posten regelmäßig Gifs von Cohle oder teilen Videos von ihm, in denen er darüber diskutiert, warum das menschliche Bewusstsein ein Fehler ist.

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Doch obwohl es für potenzielle Eltern ganz normal sein mag, darüber nachzudenken, was für ein Leben ihr Kinder führen könnte, bleibt die Frage, wie man zu einem solchen extremen Schluss kommt. Warum sollte man sich für das Aussterben der Menschheit einsetzen, anstatt beispielsweise für ihre Dezimierung? „Ich bin dafür, dass alles ausstirbt, weil ich glaube, dass die Fähigkeit etwas zu fühlen nur Leid verursacht—sowohl beim Menschen als auch bei Tieren", erklärt Laura. „Ich weiß, das ist unrealistisch, aber ich bin gegen die gesamte Schöpfung. Man spielt im Grunde einfach nur mit dem Leben anderer." Eine weitere Antinatalistin namens Charlotte sagt, dass sie einfach glaubt, dass es „besser wäre, wenn wir aussterben würden. Es besser gnädiger für die Menschheit und definitiv auch besser für die Umwelt."

Obwohl die Bewegung nicht unbedingt eine politische Ausrichtung hat—„Ich würde sagen, dass die meisten [Antinatalisten] unpolitisch sind, weil sie ein Problem mit dem Leben an sich haben und nicht glauben, dass es ein System gibt, das funktioniert", erklärt Kenqwi—, gibt es doch einige Themen, die in diese Richtung gehen. Besonders häufig wird vor diesem Hintergrund über die Umwelt, reproduktive Rechte und die Schrecken der bevorstehenden Präsidentschaft von Trump diskutiert.

Savannah, 21, wollte noch nie Kinder haben. Ihr Ehemann hat sie irgendwann auf den Antinatalismus gebracht: „Zuerst fand ich es irgendwie traurig, aber nach dem politischen Jahr, das wir hinter uns haben, konnte ich mich wirklich für diese Philosophie erwärmen." Savannah lebt in Kentucky, im Herzen des sogenannten Bible Belts, einer extrem christlich geprägten Gegend in den USA. Sie hatte schon oft Schwierigkeiten mit der Abtreibungsgegnern und der sogenannten „Pro Life"-Bewegung.

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Warum bringst du dich dann nicht einfach selbst um?

„Savannahs Mann hat vor Kurzem einen Arzt gefunden, der bereit ist, eine Vasektomie an ihm durchzuführen. Er wurde bisher immer weggeschickt mit der Begründung, dass er „seine Meinung noch ändern würde." Jetzt wollen sie eine kleine Feier veranstalten, um auf die Vasektomie anzustoßen: „Wir werden Champagner trinken, Wein und Käse auf den Tisch stellen und sehr viel trinken. Meine Familie ist so versessen darauf, den Stammbaum fortzusetzen und Enkel zu bekommen, dass es wirklich schwierig ist, mit ihnen darüber zu sprechen."

Doch Antinatalisten haben nicht nur Probleme, mit Freunden und der Familie über ihre Ansichten zu sprechen. Erwartungsgemäß haben sie auch im Netz häufig mit Beleidigungen zu kämpfen. Laura und Charlotte erzählen mir, dass eine der typischsten Trollreaktionen „Warum bringst du dich dann nicht einfach selbst um?" ist.

„Diese Pronatalisten begegnen einem mit einem solchen Mangel an Empathie", sagt Laura. „Selbstmord ist schrecklich und die meisten Antinatalisten würden ihren Familien so etwas nie antun wollen. Wir wollen nicht noch mehr zu dem Leid beitragen."

Dennoch scheinen Depressionen und Suizidgedanken innerhalb der Community weit verbreitet zu sein—auch wenn es sich dabei nicht um die Regel handelt. „Ich habe den Eindruck, dass die meisten unserer Mitglieder positiv über Selbstmord denken, wenn man das so sagen kann", meint Kenqwi. „Das liegt daran, dass wir uns darüber einig sind, dass wir zumindest bestimmen können sollten, ob und wann wir sterben wollen. Schließlich können wir uns schon nicht aussuchen, ob wir geboren werden wollen oder nicht."

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Charlotte sagt weiter: „Ich glaube, dass [der Antinatalismus] auch depressive Menschen anzieht, weil sie hier zum ersten Mal zu hören bekommen: ‚Dein Blick auf die Welt ist richtig.' Man muss allerdings nicht depressiv sein, um hinter der Philosophie zu stehen. Trotzdem glaube ich, dass Menschen, die depressiv sind, realistisch sind. Unsere Gesellschaft ignoriert depressive Menschen, anstatt sich anzuhören, wie es ihnen geht. Ihnen wird nur gesagt: ‚Mit dir stimmt was nicht. Wir müssen dich wieder hinbiegen.'"

Ist es denn nicht schwierig, das Leben andauernd als inhärent schmerzvoll zu betrachten? „Es ist nicht einfach, eine solche Sicht auf die Welt zu haben", gibt Charlotte zu. „Es fällt manchmal schwer, nicht in Verzweiflung zu versinken. Es hat mir aber auch geholfen, die kleinen Dinge schätzen zu lernen—eine Tasse Tee oder einen Spaziergang in der Natur. Ich bin nicht ständig auf der Suche nach dem noch größeren Glück. Ich mache mir auch keinen Gedanken über mein Vermächtnis. Ich weiß, dass das Leben keinen Bedeutung hat."

Ehrlich gesagt, ist es eine sehr schwierige Philosophie. Man wird ziemlich einsam.

Ennis sieht die Philosophie zwiegespalten. „Es hat etwas morbides, ständig darüber nachzudenken, wie sinnlos das Leben ist", erklärt er. „Ich kann den Drang, in diese Welt einzutauchen, allerdings voll und ganz nachvollziehen. Es gibt Augenblicke im Leben, in denen es gut tut zu wissen, dass es Menschen gibt, die ähnlich denken."

Die Psychotherapeutin und Paarberaterin Hilda Burke erklärt mir, dass sie es interessant fände, wenn einer ihrer Patienten sich selbst als Antinatalist bezeichnen würde. Sie würde gerne herausfinden, ob diese Einstellung zum Leben ein Hinweis auf irgendeine Form von Trauma sein könnten. „Die Vorstellung, dass Leben Leiden ist, hat etwas sehr buddhistisches", sagt sie. „Gleichzeitig ist es eine sehr unreife Sicht auf die Welt, sehr schwarz-weiß. Jede extreme Weltanschauung ist beunruhigend."

Die Antinatalisten mit denen ich gesprochen habe, sind trotz allem fest davon überzeugt, dass es kein Zurück mehr für sie gibt. „Ich versuche die Welt mit anderen Augen zu sehen, aber wenn man die Welt erst einmal aus dieser Perspektive gesehen hat, ist das sehr schwer", sagt Laura. Kenqwi gibt zu: „Ich versuche ja, meine Sicht auf das Leben zu ändern, aber ich habe nach wie vor kein pronatalistisches Argument gehört, das mich überzeugen kann. Ehrlich gesagt, ist es eine sehr schwierige Philosophie. Man wird ziemlich einsam."


Titelfoto: Trinity Kubassek | Pexels | CC0