„Ich dachte, das Baby sei ein Pferd“: Wenn Frauen nach der Geburt halluzinieren
Illustrations by Ashley Goodall

FYI.

This story is over 5 years old.

Geburt

„Ich dachte, das Baby sei ein Pferd“: Wenn Frauen nach der Geburt halluzinieren

Nach der Geburt folgt die Erschöpfung, das ist ganz normal. Es gibt allerdings auch Frauen, die infolge der Geburt Halluzinationen bekommen und sich fühlen, als wären sie auf einem schlechten Trip.

Als ich meine Augen aufgemacht habe, lag etwas auf meiner Brust. Es gab es lautes Geräusch von sich, wie ein hohes Kreischen und hatte winzige Arme und Beine. Moment, war das etwa ein Baby?

Ich sprang vom Bett auf. Ich hielt dieses winzige Etwas noch immer umklammert. Es war heiß und sein Gesicht war ganz rot. Im Schatten tauchte das Gesicht meines Mannes auf. „Was passiert hier?", rief ich und drückte ihm das Kind in die Hand. „Ich kann das Baby nicht halten."

Anzeige

Ich blickte wild um mich. Wo waren wir und wie konnten wir entkommen? Vielleicht durch das Fenster? Wenn doch nur mein Bauch nicht so weh tun würde. „Setz dich", sagte mein Mann und führte mich zurück zu meinem Bett, wo ich mich—wie ich schon bald erfuhr—von einem Notkaiserschnitt erholte, nachdem ich 24 Stunden lang in den Wehen gelegen hatte.

Wenn sich dein Baby in eine alte Frau verwandelt, dann wird es doch ein bisschen zu seltsam.

Um es kurz zusammenzufassen: Mein Uterus konnte das Baby nicht herauspressen. Ich bekam Fieber, dem Baby ging es nicht gut, also wurde ein Kaiserschnitt vorgenommen, um uns beiden das Leben zu retten.

Ich wusste in diesem Moment aber nur, dass die Wände immer näher kamen, die Luft immer dünner wurde und ich irgendwie aus diesem verdammten Zimmer entkommen musste. Ich musste zehn Minuten lang tief durchatmen, bevor ich wieder in der Realität ankam: Ich war im Krankenhaus und dieses Baby war mein Sohn.

Ungefähr eine Stunde später hörten dann auch die Wände auf zu flimmern.

Mehr lesen: Geburt mit Steißbeinbruch—Wie es sich anfühlt, ein riesiges Baby zu bekommen

War ein solches Delirium nach der Geburt normal und woher kam das? Die offensichtlichste Antwort war: von den Medikamenten. Nach dem Kaiserschnitt hatte ich einen Cocktail aus zwölf verschiedenen Medikamenten in mir. Ich hatte unter anderem auch eine Morphiuminfusion bekommen und nachdem diese entfernt worden war, bekam ich Morphiumtabletten.

Anzeige

Eine Tablette nahm ich direkt vor dem Einschlafen und wurde mitten in einem Horrortrip, den mein Gehirn selbst produzierte, wieder wach.

Dr. Adrian O'Donnell, leitender gynäkologischer Anästhesist am Waikato Krankenhaus in Neuseeland, sagt, dass es durch die vom Krankenhaus ausgegebenen Medikamente nur selten zu Halluzinationen und Bewusstseinsstörungen nach der Geburt kommt—es ist aber durchaus möglich. Bei einer patientenkontrollierten Analgesie (kurz PCA), die in Deutschland noch nicht überall bei Geburten eingesetzt wird, in anderen Ländern aber bereits seit Längerem zum Standard gehört, ist das dagegen eher unwahrscheinlich.

„Du bist auf Tabletten umgestiegen und es hört sich so an, als hätten sie dir eine ziemlich großzügige Dosis verabreicht. Krankenhäuser versuchen zwar immer die richtige Dosierung zu treffen, aber das klappt auch nicht immer", sagt O'Donnell.


Mehr von VICE: Drunken Glory – Der göttliche Rausch


Bei Frauen, die bereits Erfahrungen mit halluzinogenen Drogen wie Pilzen oder LSD gemacht haben, könnte es darüber hinaus wahrscheinlicher sein, dass sie durch die Opiate nach der Geburt halluzinieren, sagt er weiter. Die am häufigsten auftretenden Nebenwirkungen sind allerdings Juckreiz, Übelkeit, Müdigkeit und Verstopfung.

Die Projektmanagerin Allie, 34, wünschte, dass es auch bei ihr dabei geblieben wäre. Als sie am darauffolgenden Tag völlig erschöpft und nach wie vor auf jeder Menge Medikamente, darunter auch das künstliche Opioid Oxycodon, ihre Tochter auf den Arm nahm, erkannte sie sie nicht wieder.

Anzeige

„Ihr Gesicht hatte sich in das einer alten Frau verwandelt. Es war ganz runzlig—und dann waren da überall diese Käfer, die an der Wand krabbelten wie kleine Farbflecken. Als ich aus dem Fenster geschaut habe, war da eine riesige Leinwand, auf der man Leute tanzen sah wie bei einer großen Party. Ich dachte mir nur: ‚Woah! Ich bin vollkommen drauf'", sagt sie.

„Ich habe ihnen dann gesagt: ‚Was auch immer in diesem Tropf ist, ich will es nicht mehr haben. Nehmt es weg.' Ich meine, ich wollte keine Schmerzen haben, aber wenn sich dein Baby in eine alte Frau verwandelt, dann wird es doch ein bisschen zu seltsam. Ich kam damit zwar klar, weil ich wusste, dass ich einfach nur fertig war, aber junge Mütter, die keine Erfahrungen mit Drogen haben, könnte so etwas ziemlich erschrecken."

„Ich kann mich auch noch daran erinnern, dass ich die ganze Zeit über überlegt habe, was es mit meiner Tochter macht? Ist sie auch high? Ich finde, sie sollten Frauen vor solchen Nebenwirkungen warnen."

Was Allie erlebt hat, hört sich schrecklich an, sagt Dr. O'Donnell.

„Wenn es zu einer Bewusstseinsstörung kommt, dann gibt es fast immer eine körperliche Ursache dafür [beispielweise Medikamente oder eine Infektion], aber für Patienten kann das Ganze eine ziemlich beunruhigende Erfahrung sein, weil sie das Gefühl haben, dass sie verrückt werden. Das kommt aber wirklich nur sehr selten vor und in den meisten Fällen kriegen wir es auch gut hin."

Anzeige

Einige Experten glauben dagegen, dass dissoziative Erfahrungen nach der Geburt—unter anderem auch Halluzinationen—nicht immer durch Medikamente hervorgerufen werden, sondern auch auf einen Schock zurückzuführen sein könnten.

Als erfahrene Hebamme und Intensivschwester weiß die Wissenschaftlerin Elizabeth Mary Skinner, wie das aussehen kann. Im Rahmen ihrer Doktorarbeit hat sie sich eingehend mit den Beschwerden von Müttern beschäftigt und hat hierfür mit vierzig verschiedenen Frauen über ihre traumatischen Geburten und deren Nachwirkungen gesprochen.

Folgt Broadly bei Facebook, Twitter und Instagram.

Skinner stellte fest, dass der Großteil der Frauen unter einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) litt—eine Störung, die im Allgemeinen mit Kriegsveteranen oder Unfallopfern in Verbindung gebracht wird.

Die Journalistin Sophie, 36, glaubt, dass das auch erklären könnte, warum sie dachte, dass sie mit einem winzigen Pferd kuschelte, als sie das erste Mal ihren frisch geborenen Sohn im Arm hielt. „Ich dachte, dass ich ein perfektes, glänzend schwarzes Pferd im Arm halten würde", sagt sie. „Ich hatte dieses kleine Pferd auf dem Schoß und dachte, es sei das Schönste, was ich jemals gesehen habe."

Sophie hat in den drei Stunden, in denen sie Presswehen hat, lang ziemlich viel Entonox (auch bekannt als Lachgas) inhaliert. Sie war leicht benommen, erschöpft und denkt, dass sie es mental einfach nicht verkraftet hat, ihr Kind zu sehen. Die qualvollen 30 Stunden der Geburt hat sie größtenteils ohne Epiduralanästhesie ausgestanden und es gab Momente, in denen man den Herzschlag des Babys nicht mehr hören konnte.

Anzeige

Ich bin gerade 30 Stunden durch die Hölle gegangen und dann geben sie mir dieses Baby und erwarten, dass ich es liebe?

„Du hast das Gefühl, du musst sterben und denkst, dass dein Kind sterben wird", sagt Sophie. „Ich wollte einfach nichts von dem Baby wissen, als es dann da war. Ich dachte nur: ‚Verdammt, ich bin gerade 30 Stunden durch die Hölle gegangen und habe meinen halben Körper aus mir heraus gepresst und dann geben sie mir dieses Baby und erwarten, dass ich es liebe?'"

„Damit kam ich einfach nicht klar, aber mit dem perfekten kleinen schwarzen Pferd hatte ich alles, wovon ich immer geträumt hatte. Gott, war das seltsam. Ich kann mich noch ganz genau daran erinnern, an dieses Pferd …"

Sophies Theorie, dass es ein Bewältigungsmechanismus war, dass sie ein Pferd anstelle ihres Babys gesehen hat, ist durchaus möglich, sagt Skinner. Diese Dissoziation und Benommenheit, die Sophie und ich erlebt haben, tritt auch bei Menschen auf, die ein Trauma verarbeiten.

Zu meiner persönlichen Erfahrung sagt Skinner: „Niemand hat dich gewarnt und niemand hat dir erklärt, wie die Geburt ablaufen wird. Du warst verunsichert und übernächtigt und hast gepresst und gepresst—ich wette, dein Mann war auch ganz durcheinander."

Frauen erwarten nicht, dass eine Geburt traumatisch sein könnte oder dass sie einen Notkaiserschnitt und Schmerzmittel brauchen, weil die Wahrscheinlichkeit immer runtergespielt wird, sagt sie. Laut Angaben des Statistischen Bundesamtes wurde allerdings bei rund einem Drittel der Geburten im Jahr 2011 ein Kaiserschnitt vorgenommen.

Mehr lesen: „Orgasmische" Geburten—Wenn im Kreißsaal nicht nur das Kind kommt

Skinner ist Mitglied einer ständig wachsenden Gruppe aus Medizinern, die sich dafür einsetzen, Frauen besser über die Risiken einer vaginalen Geburt—wie auch über die Möglichkeit und die Komplikationen eines Kaiserschnitts—aufzuklären, noch bevor sie die ersten Wehen bekommen. Auch weltweit machen sich immer mehr Leute dafür stark, Frauen lieber die nackte Wahrheit vor Augen zu führen, als sie in irgendwelche oberflächlichen Geburtsvorbereitungskurse zu schicken, in denen sie lernen, wie man Windeln wechselt und welche Musik man für die Geburt auswählen sollte.

Wenn etwas nicht nach Plan verläuft, wird das Trauma der Frau durch ihre Verunsicherung nur zusätzlich verstärkt, sagt Skinner. Ähnlich ist es auch mit dem Druck, eine „natürliche" Geburt haben zu müssen.

„Wir müssen Frauen wie erwachsene Menschen behandeln", sagt sie. „Wir leben nicht mehr im 19. Jahrhundert. Frauen kommen damit klar. Wir müssen Frauen darüber aufklären, dass gewisse Dinge schief laufen können, solange sie noch bei klarem Verstand sind und nicht erst, wenn sie schon im Krankenhaus sind. Wenn man weiß, welche Komplikationen auftreten können, dann ist man auch besser darauf vorbereitet."