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Ein Therapeut erklärt, was für furchtbare Dinge passieren, wenn du zu gerne Sex hast

„Ich kann dir eins sagen: Die ganzen Apps und das Internet haben Menschen so tief in den Abgrund geführt, wie sie es nie für möglich gehalten hätten."
Foto: Stuart Connor | Flickr | CC BY-ND 2.0

Foto: Stuart Connor | Flickr | CC BY-ND 2.0

Tim Lees Klinik für Sexsucht befindet sich in einem dieser unscheinbaren Gebäude direkt an der Penn Station in New York. Solltest du jemals in der Gegend gewesen sein, bist du höchstwahrscheinlich daran vorbeigelaufen, ohne dem Haus besonders viel Beachtung zu schenken. Auch ich habe schon die Toiletten in dem Restaurant und der Hotellobby benutzt, die sich dort im Erdgeschoss befinden, und hätte niemals gedacht, dass sich nur ein paar Treppenabsätze über mir Menschen das Herz ausschütten und ihre dunkelsten Geheimnissen preisgeben. Lees Klinik trägt den Namen „New York Pathways" und ist eine Intensivambulanz für Menschen mit Problemen wie zwanghafte Masturbation, Sexsucht, ständigen Beziehungswechsel und ausufernde Inanspruchnahme von Escorts.

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Auch, wenn es in unserer Gesellschaft seit einiger Zeit weitaus akzeptabler geworden ist, seine Suchtprobleme offen zu thematisieren, werden Sexsüchtige weiterhin stigmatisiert und sind nicht selten Ziel des Spotts. Obwohl Menschen Sendungen wie Californication verschlingen und in den höchsten Tönen über Filme wie Shame reden—beides Geschichten mit sexsüchtigen Protagonisten—mutet die Vorstellung, dass jemand tatsächlich unter zwanghaftem Sexualverhalten leidet, für die meisten Menschen lächerlich an.

Die Reaktion der meisten Leute auf öffentlich bekanntgewordene Fälle von Sexsucht lässt sich vielleicht mit der Überschrift einer australischen Zeitung zu der Tiger Woods-Affäre zusammenfassen: „Ist Sexsucht wirklich eine Entschuldigung, um fremdzugehen?" Marty Klein, ein Sextherapeut, Autor und wahrscheinlich der größte Gegner des Begriffs, schrieb 2012 einen Artikel, in dem er das, was wir Sexsucht nennen, als „eine Geheimwaffe" bezeichnete, „die von religiösen Rechten im Kampf gegen die empfundene Liberalisierung der Gesellschaft eingesetzt wird, um wissenschaftliche Fakten zu ignorieren und Furcht zu sähen".

Ich selber wusste nicht wirklich viel über diese sogenannte Sexsucht oder wie diese Störung behandelt wird, also habe ich bei Pathways vorbeigeschaut, um mit Lee zu sprechen. Tim Lee hat ein äußerst unscheinbares Äußeres, verfügt über einen Master in sozialer Arbeit und betrachtet sein eigenes Betätigungsfeld mit einer ordentlichen Portion Humor. Er erzählte mir am Ende nicht nur von seinen eigenen Dämonen, sondern bestand auch darauf, dass Sexsucht nicht nur real wäre, sondern sich auch immer weiter ausbreiten würde.

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„Ich arbeite seit zehn Jahren als Therapeut", berichtete er mir. „Und ich kann dir eins sagen: Die ganzen Apps und das Internet haben Menschen so tief in den Abgrund geführt, wie sie es nie für möglich gehalten hätten."

MOTHERBOARD: Die Plage schlafwandlerischer Sexattacken—Sexsomnie

Worüber wir sonst noch geredet haben, kannst du hier lesen:

VICE: Wir wollen hier über Sexsucht reden, aber ich weiß noch nicht mal, ob so eine Störung überhaupt existiert. Kannst du da für etwas Klarheit sorgen, bevor wir anfangen?
Tim Lee: Zuerst einmal muss ich sagen, dass der Begriff Sexsucht mehr als ungünstig ist. Also, ich mag ihn, weil er gut fürs Geschäft ist. Ich kann auf meiner Webseite „Sexsucht" schreiben und die Leute finden mich dann über Google, weil es der verbreitete Begriff zu dieser Art von Störung ist. Aus medizinischer Sicht muss ich aber sagen, dass es so etwas nicht gibt. Sexsucht ist ein Begriff, der eine bestimmte Behandlungsart bezeichnet. Der Begriff „Sucht" bedient auch nur Klischees. Es ließe sich wirklich besser definieren. Ich werde wirklich oft danach gefragt.

OK, wenn es also keine echten Süchtigen sind, die hier Hilfe suchen, was für Menschen kommen dann hier vorbei?
Wir behandeln hier jede Woche etwa 100 Patienten—darunter sind wahrscheinlich zwei oder drei Männer, die verhaftet wurden, weil sie Spiegel an ihren Schuhen befestigt hatten, um Frauen unter den Rock gucken zu können. Sie wurden für illegale Überwachung verurteilt, was wiederum eine Straftat darstellt und ihnen einen Eintrag in der Datenbank für Sexualstraftäter beschert.
Es gibt auch Menschen, die eine traumatische Erfahrung gemacht haben—in der Regel eine sexuelle—und dieses Verhalten in gewisser Weise nachahmen. Ich habe zum Beispiel mit einem Mann gearbeitet, der Leute dabei fotografiert hat, wenn sie Oralsex mit ihm hatten, und diese Bilder dann ins Internet gestellt hat. In unserem Gespräch fragte ich ihn, ob er jemals Opfer von Missbrauch gewesen sei. Er verneinte. Ich fragte ihn dann nach seinem erstes Masturbationserlebnis. Er überlegte kurz und sagte dann: „Ah, ich erinnere mich wieder. Mein Vater gab mir ein Foto, auf dem meine Mutter Oralsex mit ihm hat, und sagte mir, ich solle masturbieren zu gehen." Er konnte beim besten Willen die Verbindung zwischen beiden Dingen nicht erkennen.

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Was ist mit Menschen, die pro Woche mit fünf verschiedenen Partnern Sex haben? Wenn das die Person selber nicht stört und sie auch niemand anderen dabei verletzt, hat man es dann wirklich mit problematischem Verhalten zu tun, das therapiert werden muss?
OK, nicht zwangsläufig. Aber was ist, wenn diese Person sagt: „Ich habe etwas zu viel getrunken und kein Kondom benutzt. Das mache ich nicht wieder." Aber dann macht sie es wieder, trinkt zu viel und benutzt kein Kondom. So kann man sich dann eine Geschlechtskrankheit einfangen. Und es gibt natürlich noch emotionale Konsequenzen wie Scham. Andersherum gibt es natürlich auch Leute, die zum Beispiel über Apps viele Dates haben und für die das total unproblematisch ist.

Es ist also OK, solange man sich keine Geschlechtskrankheiten holt?
Oder man zu sich sagt: „Scheiße, ich will eigentlich sesshaft werden und so wird das nichts." Es gibt viele Menschen, die jemand Tolles kennenlernen, aber dann noch andere tolle Menschen kennenlernen möchten. Die meinen dann, beide zu haben, aber tatsächlich haben sie keinen. Das ist eine ganz klassische Konstellation. Die Konsequenz daraus ist, dass sie nie eine Beziehung haben werden und sich auch nicht mit ihren Angst- und Nähe-Distanzproblemen auseinandersetzen. Sie wollen sich nicht an eine einzige Person binden, weil das zu viele schlechte Erinnerungen heraufbeschwört—zum Beispiel bei jemandem, von dem ein Elternteil gestorben ist, als er oder sie noch Kind war. Es kann also ziemlich kompliziert sein.

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Kannst du mir ein Beispiel von jemandem nennen, der jung und unverheiratet ist und bei Pathways behandelt werden müsste?
Nun, ich hatte gestern erst so einen Klienten hier. Wir haben uns über seine sexuelle Vergangenheit unterhalten und er entwickelt sich gerade wirklich gut. Er hat endlich eine feste Freundin gefunden und ist deswegen gerade auch ziemlich besorgt. Wir arbeiten gerade seine Vergangenheit auf—er ist in seinen Zwanzigern und es gab da diese eine Frau, mit der er während seiner Studienzeit etwas hatte.

Die hatten so eine Abmachung: sie kommt rüber, sie kochen etwas Schönes, dann haben sie Sex und sie geht wieder. Und sie hatten die Regel, dass die ganze Sache vorbei ist, wenn einer von beiden „Ich liebe dich" sagt. Das lief etwa ein Jahr lang so. Er meinte, sie hatten in der Zeit zwei oder drei Mal Sex am Tag gehabt. Sie rief ihn dann irgendwann an und sagte: „Ich liebe dich." Nach der Trennung fing er an, Panikattacken zu bekommen. Sie kamen also wieder zusammen. Er machte wahrscheinlich eine Art Dopaminentzug durch und erzählte von schweren Depressionen, Angst und Selbstmordgedanken. Sie hatten eine chaotische, zerstörerische Beziehung, die nur auf Sex basierte.

Und was für Konsequenzen hatte das am Ende?
Die Angst und die Depression, die nach dem Aus kamen.

Angst und Depression gehören doch auch zu einem gewissen Teil zu einem Beziehungsende dazu.
>Bei ihm lag das an dem Suchtcharakter der Beziehung. Er respektierte sie nicht wirklich und liebte sie auch nicht. In seiner Beziehung davor hatte er mit seiner Freundin gar keinen Sex. Er kiffte nur und masturbierte zu Pornos. Wenn sie Sex hatten, dann ging das für sie nur in einer einzigen Stellung. Sie war ebenfalls in der Vergangenheit sexuell missbraucht worden. Diese Beziehung ging in die Brüche und er stürzte sich Hals über Kopf in die andere Geschichte, die sehr destruktiv war.

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Wie sehen die Ziele für jemanden aus, der wegen zwanghaftem Sexualverhalten zu euch kommt? Nicht mehr masturbieren? Ist das wie bei den anonymen Alkoholikern, wo man ganz einfach nicht mehr die eine Sache machen darf, die einem am meisten Freude bereitet?
Bei den anonymen Alkoholikern ist Nüchternheit leicht zu definieren—man trinkt einfach nicht mehr. Bei einer Sextherapie gibt es fünf verschiedene Programme, die sich danach richten, wie man Nüchternheit definiert. Bei SA, die die strengste Regulierung haben, wird Nüchternheit als keine Selbstbefriedigung und kein Sex außerhalb der Ehe definiert—und die Ehe kann nur zwischen Mann und Frau bestehen. Das ist ziemlich extrem. Für chassidische Juden oder fromme Katholiken erfüllt das jedoch seinen Zweck.

SRA ist eine Abspaltung der SA. Ihr Kredo lautet: keine Selbstbefriedigung und kein Sex außerhalb von festen Beziehungen. Dann gibt es noch Programme wie SAA und SLAA, bei denen du selber mit festlegst, von welchen Verhaltensweisen du dich mit Hilfe eines Sponsors abhalten möchtest. Aber um deine Frage zu beantworten: Viele von ihnen haben so etwas wie Grundverhaltensmuster definiert, zu denen Selbstbefriedigung, Pornografie, One-Night-Stands, käuflicher Sex, der Besuch von Massagesalons oder die Verwendung von Apps gehören können.

Ich wäre jetzt davon ausgegangen, dass diese Programme, Selbstbefriedigung fördern würden—also, wenn man dort ist, weil man ständig ungeschützten Geschlechtsverkehr hat.
Es gibt auch zwei Arten von Abhängigen: Diejenigen, die in Beziehungen sind und nicht aufhören können, ihre Partner zu betrügen, und diejenigen, die süchtig nach Internetpornos sind und noch nie eine richtige Beziehung hatten. Letztere setzen sich zum Ziel, in einer stabilen Beziehung zu landen. Es gibt sehr wenig von diesen Menschen, die lieber zu Pornos masturbieren. Sie wollen etwas Festes, aber hängen im Internet fest.

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Stell dir die verschiedenen Programme einfach wie politische Parteien vor. SCA richtet sich zum Beispiel vor allem schwule Männer und das Programm ist dementsprechend angepasst. Bei ihnen ist es dann vielleicht akzeptiert, in eine Männersauna zu gehen und dort auch Sex haben, aber nur geschützt und dann nur einmal die Woche. Das wäre dann ein Programm zur Schadensminimierung.

Kann man denn zu viel Sex zu haben? Wenn ich jetzt zum Beispiel jeden Tag eine Flasche Wodka trinken würde, würde jeder denken, dass ich ein ernsthaftes Problem habe. Bei täglichem Sex wäre das jetzt aber nicht unbedingt der Fall, oder?
Wenn ich jeden Tag Sex hätte, würde ich mich etwas groggy und neben der Spur fühlen. Aber ein oder zweimal die Woche sind schon OK. Es geht immer um das gesunde Mittelmaß, nicht wahr? Oder wenn ich nur Sex mit meiner Frau möchte, um etwas Dampf abzulassen, dann fühle ich mich danach irgendwie beschissen. Ich fühle mich egoistisch. Menschen sind also sehr unterschiedlich und es hat immer mit der eigenen Definition zu tun. Ich befinde mich selber in einem Genesungsprozess und war früher bei den SLAA. Man spricht mit seinem Sponsor die Grundverhaltensmuster ab.

Kannst du mir etwas über deinen persönlichen Fall erzählen?
Ich hatte Sex mit verschiedene Menschen, mit denen ich keine feste Beziehung eingehen wollte, weil sie entweder selber verheiratet oder keine Menschen waren, die ich gerne meinen Freunden vorgestellt hätte. Mir gefiel also die SRA ganz gut, weil die ganze kein-Sex-außerhalb-einer-festen-Beziehung-Sache für mich alles sehr vereinfachte. Und die meinen es wirklich ernst mit ihrer 90-tägigen Assistenzperiode ohne Sex oder Selbstbefriedigung oder irgendetwas. Ich bin ein Jahr dorthin gegangen. Wie klar ich mich in dieser Zeit gefühlt habe … Ich konnte einige meiner alten Probleme mit meiner Mutter und meinem Vater aufarbeiten—und Traumata durch Trauer und Verlust. Das hier ist jetzt meine dritte Berufskarriere. Ich habe die zwei davor schon durch mein Verhalten ruiniert.

Wie kann man mit Sexsucht seine Karriere zerstören? Hast du einfach das Büro verlassen, um Sex mit Prostituierten zu haben?
Ich habe früher in Georgia gewohnt, wo ich eigentlich ganz erfolgreich war. Ich war auf dem Hunter College und habe mir dort den Arsch in der Theaterabteilung aufgerissen. Ich machte mich ganz gut und wurde Lichtdesigner. Je erfolgreicher ich wurde, desto mehr Panikattacken bekam ich aber auch. Das wurde dann so schlimm, dass ich irgendwann einfach nicht mehr dort aufgetaucht bin. Gleichzeitig hatte ich mit einer etwas laufen, die genau so verrückt wie ich war. Wir hatten zwei oder drei Mal am Tag Sex. Ich hatte One Night Stands. Ich konnte mich nicht konzentrieren. Ich ging meinen Verpflichtungen nicht mehr nach. Es gab einen bestimmten Punkt, an dem mir das eine wirklich gute Gelegenheit versaute. Sie meinte, ich solle lieber Jurist werden, aber ich hatte die Gelegenheit, als ich 22 war mit einem Designer zusammenzuarbeiten, der mit einem Tony Award ausgezeichnet worden war. Das war eine verdammt große Gelegenheit. Aber ich bin einfach nicht hin.

Motherboard: Die KI-Sexpuppen von RealDoll

Weil du die ganze Zeit nur mit Sex beschäftigt warst? Ich weiß nicht genau, worauf du hinauswillst.
Ich wurde von ihr beeinflusst. Sie meinte: „Nein, Theater ist nichts für dich. Ich will mit einem Juristen zusammen sein." Sie sagte mir ständig solches Zeug, aber in meinem sexsüchtigen Hirn war der Sex besser, als für mich einzustehen und zu sagen: „Du bist verrückt." Wenn ich das alles noch mal machen könnte, hätte ich vielleicht ein paar Mal mit ihr Sex und würde dann merken: ‚Verdammt, das schadet mir.' Aber damals stellte ich meine Beziehung an erste Stelle und bekam die Quittung dafür. Dann wurde ich Grafiker und das gleiche passierte mit jemand anderem.

Was ist dann das ultimative Ziel für die Menschen, die hier her kommen? Zu heiraten? Oder liegt das bei einigen schon jenseits der Möglichkeiten?
Eine Menge Menschen, mit denen ich arbeite, sind unglaublich davon gestresst, ein Doppelleben zu leben. Das kostet sie viel Geld und Zeit. Die dadurch verlorene Zeit mit ihren Kindern zieht ebenfalls emotionale Konsequenzen nach sich. Sie bereuen ständig und viel. Viele von ihnen führen jetzt ein neues Leben. Nicht alle, aber viele Klienten kommen zu dem Punkt, an dem sie zu sich sagen: „Was habe ich mir dabei nur gedacht?" Mir hat gerade erst einer meiner Klienten gesagt, dass es gerade sein zweijähriges Jubiläum gewesen sei, seit er seine Störung erkannt habe. Er erzählte mir, dass er und seine Frau es zwar nicht feiern wollten, aber sie schauten schon auf die Zeit damals zurück und erkannten, wie viel besser ihr Leben jetzt ist. Früher hatten sie keinen Sex und jetzt teilen sie Intimität. Er hatte früher Angst, mit seiner Frau Sex zu haben, jetzt haben sie ein Kind. Er hat auch einen besseren Job.

Das ist auch noch so eine Sache—viele Menschen leben unter ihren Möglichkeiten, weil sie so sehr von ihrer Sucht in Beschlag genommen werden. Es variiert einfach von Mensch zu Mensch. Ich würde sagen, dass es mehr als alles darum geht, den Leuten ihren Verstand zu retten.