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Ernährung

"Breatharianisten" glauben, dass sie nur von Luft leben können

Die esoterisch angehauchte Bewegung gibt es seit Jahrzehnten – und forderte unter ihren Anhängern bereits mehrere Todesopfer.
Foto: Imago | Mint Images [Symbolfoto]

Es war "Liebe auf den ersten Blick", sagt Ana-Maria Stefania über den Moment, in dem sie zum ersten Mal auf den Breatharianismus gestoßen ist – einer Bewegung, bei der Esoterik auf radikale Ernährungstheorien trifft. "Je weniger Nahrung ich zu mir nahm, umso besser und präsenter fühlte ich mich." Vor drei Jahren fand die Gesundheitsberaterin und Hypnosetherapeutin aus Zypern ihre "Berufung". Inzwischen ist sie eine von tausenden Breatharianisten weltweit.

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Breatharianisten glauben, dass man allein von Prana, der Energie aus Luft und Licht, leben kann und verzichten deshalb nahezu vollständig auf Wasser und feste Nahrung. Die meisten beginnen damit, sich vegetarisch oder vegan zu ernähren und steigen dann schrittweise auf rein energetische "Nahrung" um.

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In den meisten Religionen wie im Islam, Christentum oder dem Jainismus gibt es Fastenzeiten. Der Breatharianismus hingegen ist eine einzige große Fastenzeit. Die selbsternannte Breatharianisten-Anführerin Jas Jasmuheen, Autorin von Living on Light: The Source of Nourishment for the New Millennium, behauptet, dass sie vier Jahrzehnte lang verschiedene Möglichkeiten erforscht hat, um ohne Nahrung überleben zu können. Inzwischen bräuchte sie "monatelang nicht mehr als eine Tasse Tee".

Mediziner betrachten das Ganze hingegen mit Sorge. "Ich halte die Behauptung, man könne größtenteils ohne Nahrung oder Wasser überleben, für überaus gefährlich", sagt Professor David Oliver, Vizepräsident des Royal College of Physicians in London. "Luft und Licht versorgen uns weder mit Kalorien, noch mit Flüssigkeit. Wer behauptet, er könne mit dieser Ernährungsweise ein stabiles Körpergewicht halten, sagt wahrscheinlich nicht die Wahrheit."

Ein ziemlich guter Punkt. Schließlich wurde Jasmuheen bereits von einem Journalisten dabei beobachtet, wie sie sich im Flugzeug essen bestellte. Außerdem musste sie eine Fastenkur, die im Fernsehen übertragen wurde, schon nach knapp vier Tagen abbrechen. (Auf unsere Anfrage zum Thema hat sie leider nicht reagiert.) Ebenfalls durch die Medien ging der Fall eines Breatharianisten, der behauptet hatte, sich seit 30 Jahren nur noch von Luft zu ernähren. Davon abgehalten, 1999 einen Supermarkt mit Süßigkeiten, Fastfood und Softgetränk zu verlassen, hat ihn das aber trotzdem nicht.

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Genug Anhänger, die sich in Online-Foren munter über Atemtechniken und Methoden zur Nahrungsumstellung unterhalten, gibt es immer noch. Wie kommt man aber überhaupt auf die Idee, sich von Licht und Luft zu ernähren, obwohl man sich Essen mittlerweile innerhalb weniger Minuten nach Hause bestellen kann?

"Mir bekommt Essen nicht gut. Mit Licht tanke ich am schnellsten Energie", sagt Stefania. "Es ist das Beste. Man fühlt sich, als wäre man in einem Kokon, aus dem man niemals ausbrechen möchte. Man ist toleranter, liebevoller und dankbarer und ganz im Einklang mit sich selbst."

Obwohl sie immer wieder betont, dass sie schon zehn Tage oder sogar drei Wochen ohne Nahrung aushält, sagt Stefanie, dass es bei der Nahrungsumstellung eines Breatharianisten nicht darum geht, Tage zu zählen. Ein Breatharianist zu sein, bedeutet in ihren Augen, eine wirksamen Methode zu haben, um "zur Ruhe zu kommen. Ich fühle mich viel unbeschwerter. Außerdem fällt es mir leichter, meine Umgebung zu spüren und wahrzunehmen und mich spirituell weiterzuentwickeln."

Ana-Maria Stefania beschreibt Breatharianismus als ihre "Berufung". Foto: Ana-Maria Stefania

Die 31-jährige Nina Valentina hat sich lange Zeit über mit vegetarischer und veganer Ernährung beschäftigt. Breatharianismus war da nur die logische Konsequenz und der nächste Schritt. "Ich habe schon immer bewusst darauf geachtet, was ich esse und wie sich meine Ernährung auf meine Gesundheit auswirkt", erklärt sie.

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Die Hypnosetherapeutin aus Wien sieht Ernährung untrennbar mit Emotionen verbunden. Deswegen glaubt sie, dass sich Menschen durch Breatharianismus selbst heilen können. "Angststörungen, Depressionen und Fettleibigkeit sind in unserer Gesellschaft weit verbreitet. Wir essen nicht, weil wir Hunger haben, sondern um unsere Gefühle zu unterdrücken. Wir trösten uns mit Essen, ohne darüber nachzudenken, was dahinter steckt."

Im Verlauf der letzten beiden Jahre hat Valentina immer wieder monatelang sogenannte Trockenfasten-Kuren gemacht. "Nach drei oder vier Monaten konnte ich viel klarer denken, wurde nicht mehr so schnell müde und war voller Energie, wenn ich morgens wach wurde. Dieses Gefühl hielt meist den ganzen Tag über an. Man kommt in einen Zustand der Selbstliebe und der Akzeptanz."

Gesunde Menschen können problemlos in regelmäßigen Abständen fasten, sagt Miller. Wer allerdings langfristig auf Nahrung verzichtet, riskiert, dass der Blutdruck und die Körpertemperatur massiv absinken. Das kann zu Übelkeit führen und macht uns schlussendlich krank. "Der Körper kann über einen bestimmten Zeitraum von Reserven wie beispielsweise Körperfett leben. Unsere körpereigenen Überwachungssysteme wie der Blutzuckerspiegel, registrieren den anhaltenden Nahrungsmangel allerdings schon nach kurzer Zeit und fahren alle nicht überlebenswichtigen Körpervorgänge herunter, um lebenswichtige Organfunktionen zu erhalten."

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Die Folge: Die Herzfrequenz, der Blutdruck und die Körpertemperatur nehmen ab und man wird müde und antriebslos, weil der notwendige "Treibstoff" fehlt. "Wenn man seinen Hunger weiter ignorieren und diesen Zustand verlängert, kann das zu Verwirrtheit oder Halluzinationen und schließlich zur Bewusstlosigkeit führen. In diesem Fall besteht ein reales Risiko zu sterben."

Bedauerlicherweise gab es bereits Fälle, in denen sich Breatharianisten zu Tode gehungert haben, darunter eine Frau aus Schottland, die 1999 verstarb. In ihrem Tagebuch hatte sie auch die Theorien von Jasmuheen erwähnt. Lani Morris, eine australische Anhängerin der Bewegung, soll Berichten zufolge eine schwarze Flüssigkeit abgehustet haben, bevor sie schließlich nach sieben Tagen ohne zu essen oder zu trinken verstorben ist. Das Ganze war angeblich Teil ihrer dreiwöchigen Einführung in den Breatharianismus.

Es ist nicht schwer nachzuvollziehen, warum viele Menschen Breatharianismus mit einer Essstörung vergleichen. Gleichzeitig hört man immer wieder von Anhängern, die mit dieser restriktiven Form der spirituellen Ernährung bestehende Erkrankungen zu verschleiern versuchen.

Dr. Stacey Rosenfeld arbeitet als klinische Psychologin und ist Expertin für Essstörungen. Ich frage sie, ob Breatharianismus die Kriterien einer Essstörung erfüllt. "Eine Essstörung wird normalerweise darüber definiert, dass die Betroffenen Angst vor einer Gewichtszunahme haben, das Gewicht und die Körperform überbewerten und unter einem verzerrten Körperbild leiden", erklärt Rosenfeld. "Manche Menschen verzichten aber auch aus ganz anderen Gründen darauf zu essen, zum Beispiel weil sie sich in einem politisch motivierten Hungerstreik befinden. Eine Anorexie liegt im Grunde nur dann vor, wenn die oben genannten Kriterien erfüllt werden – vorausgesetzt diese besonderen Einschränkungen bei der Nahrungsaufnahme beziehen sich nicht auf das Gewicht."

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Obwohl Breatharianismus nicht als Essstörung klassifiziert wird, "ist diese Form der Ernährung dennoch gestört", sagt Miller.

Brynn Byrne sagt, dass ihr kurzer Flirt mit den Breatharianisten Teil ihrer Essstörung war. Foto: Brynn Byrne

Brynn Byrne kommt das alles sehr bekannt vor. Die 31-jährige Yoga-Lehrerin aus Texas hatte mit 23 mal einen kurzen "Flirt" mit dem Breatharianismus . Allerdings war das Ganze eine Folge ihrer Binge-Eating-Störung. "Ein Breatharianist zu werden, erschien mir wie die einfachste Lösung. Ich schwankte immer wieder zwischen unkontrollierbaren Essattacken und meiner tiefen Abscheu vor Essen. Ich hatte das Gefühl, nie wieder Kontakt mit Essen haben zu wollen oder es auch nur riechen oder ansehen zu müssen", erzählt sie. "Ich fand die Vorstellung überaus reizvoll, die Ursache für mein Leid und meinen inneren Konflikt einfach aus meinem Leben verbannen zu können."

Byrne sagt, dass ihr immer bewusst war, dass Breatharianismus keine dauerhafte Lösung sein würde. Damals erschien ihr das Ganze aber "einfacher als der tägliche Kampf gegen meine Essstörung". Letztendlich endete ihr Selbstversuch damit, dass sie ihre Kalorienzufuhr über mehrere Tage stark eingeschränkte und merkte, dass die Anforderungen der Breatharianisten unerfüllbar waren.

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Es ist allerdings nicht nur riskant, nichts zu essen. Breatharianisten, die wieder anfangen zu essen, riskieren an den Folgen eines Refeeding-Syndroms zu erkranken, warnt Miller. "Wenn Menschen über einen längeren Zeitraum komplett auf Nahrung verzichten und dann wieder anfangen, normal zu essen, kann der Mangel an Elektrolyten (wie Magnesium, Kalium und Phosphat) in Verbindung mit einem plötzlichen Anstieg des Insulinspiegels durch die Nahrungsaufnahme zu einer zellulären Dysfunktion führen. Das kann wiederum Herzrhythmusstörungen, Krämpfe und Bewusstseinsstörungen nach sich ziehen. In solchen Fällen müssen Betroffene umgehend im Krankenhaus behandelt werden." Wer nach einer derart extremen Mangelernährung wieder normal essen möchte, sollte das deshalb langsam und schrittweise tun.

Brynn hat ihre Essstörung inzwischen überwunden und sieht ihren Ausflug in die Breatharianisten-Szene nun mit ganz anderen Augen: Essen ist ihr heilig geworden und sie findet, dass es "nichts Simpleres oder Schöneres gibt, als Essen genießen zu können".

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Foto: Imago | Mint Images [Symbolfoto]