Für schwangere Flüchtlingsfrauen ist jeder Tag ein Kampf ums Überleben
A pregnant woman at a refugee camp in Ritsona, Greece. (Photo by Panayiotis Tzamaros/NurPhoto via Getty Images)

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Für schwangere Flüchtlingsfrauen ist jeder Tag ein Kampf ums Überleben

Das Leben der Flüchtlinge, die über Schmugglerrouten nach Europa kommen, ist gefährlich genug. Für schwangere Frauen ist die Reise allerdings besonders riskant.

Helen* aus Eritrea war bereits im zweiten Monat schwanger, als sie auf einem LKW das Flüchtlingscamp in Calais verlassen hat. Als sie schließlich in London ankam, wusste sie, dass etwas nicht stimmte: „Ich hatte Schmerzen und als ich aufgewacht bin, lag ich in einer Blutlache."

Zusammen mit 29 weiteren verzweifelten Flüchtlingen ist sie auf den LKW gestiegen. Helen war die einzige blinde Passagierin, die nicht von der Polizei entdeckt wurde, als der LKW an der Grenze gefilzt wurde. „Ich habe mich unter dem Bodenverlag versteckt, damit sie mich nicht finden. Das ziemlich gefährlich. Die Polizisten liefen unwissentlich über mich drüber. Ich habe nicht an den Schmerz gedacht, sondern nur daran, dass ich nach England wollte", erinnert sie sich.

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Als sie es geschafft hatte und in England war, setzen plötzlich die Schmerzen und die Panik ein. „Der LKW-Fahrer hat mich angeschrien, als er mich gesehen hat. Ich habe ihn angefleht, dass er mich zu nächstgelegenen Polizeistation bringt", erzählt sie weiter. Ein Arzt im Krankenhaus hat später bestätigt, dass Helen eine Fehlgeburt hatte.

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Eine Schwangerschaft ist immer schwierig. Schlimmer, als in diesem Zustand aus seinem Heimatland flüchten zu müssen, können die Umstände aber kaum werden. Für Helen war diese Schwangerschaft von Anfang bis Ende traumatisch.

Wie so viele andere Frauen auch, wurde Helen auf ihrer Reise nach Europa von Menschenhändlern regelmäßig und wiederholt vergewaltigt. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat über mehrere Frauen berichtet, die vergewaltigt wurden und die Opfer von sexuellen Missbrauch auf den Routen der Schmuggler wurden.

„Keine Frau übersteht die Reise durch die Sahara nach Libyen, ohne vergewaltigt zu werden", sagt Helen. „Wir wurden alle vergewaltigt. Sie haben nicht verhütet. Was sie mir angetan haben, werde ich für den Rest meines Lebens mit mir herumtragen."

Auch für die Frauen, deren Schwangerschaft nichts mit Gewalt oder Ausbeutung zu tun hat, ist es eine unglaubliche Herausforderung. Laut einem aktuellen Bericht der Hilfsorganisation Ärzte der Welt (AdW) hat fast die Hälfte (43,6 Prozent) der schwangeren Flüchtlinge in Europa keinen Zugang zu frauenärztlicher Versorgung—oft, weil sie es sich nicht leisten können und Angst davor haben, verhaftet zu werden.

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20 Prozent der schwangeren Frauen, die behandelt, stecken mitten im Asylverfahren, während der Status bei 50 Prozent der Frauen unklar ist. Bei vielen wurde der Asylantrag abgelehnt oder sie haben keine Papiere.

Keine Frau übersteht die Reise durch die Sahara nach Libyen, ohne vergewaltigt zu werden. Wir wurden alle vergewaltigt.

Schwangere Flüchtlinge haben nicht nur keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, 48,8 Prozent beschreiben ihre aktuelle Wohnsituation außerdem als unsicher. Laut Bericht könnten „sich viele der Frauen nicht sicher sein, dass sie ein Dach über ihrem Kopf haben, wenn sie gebären."

Vor ihrer Reise nach England wohnte Helen im Flüchtlingscamp Isbergues, in der Nähe von Calais. Dort hat sie Marchu Girma von der britischen Hilfsorganisation Women for Refugee Women getroffen, die Helen seit ihrer Ankunft in England unterstützt. Es gab dort keine Toiletten oder Duschen in dem Camp, geschweige denn irgendeine Form ärztlicher Versorgung. „Wir haben uns einmal in der Woche gewaschen, als ein paar Freiwillige gekommen sind und uns zu den Duschen begleitet haben", erzählt Helen.

„Wir waren viele und der Platz war knapp. Auf eine Matratze kamen fünf Frauen und wir konnten einfach nicht schlafen. Am Tag sind die Menschen rein- und rausgelaufen. In der Nacht habe ich immer versucht, auf einen LKW zu kommen. Ich habe sogar eine Nacht im Stehen geschlafen. Ich habe nur an eins gedacht: England. Ein sicherer Ort, an dem mein Baby und ich die Chance auf ein gutes Leben haben und uns sicher fühlen können."

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Symbolfoto: imago | Westend61

Auch Nehla, die ebenfalls Patientin von AdW ist und aus Tunesien kommt, hat kaum Zugang zu einem Frauenarzt, trotz der hohen Risiken ihrer Diabetes-Erkrankung. Wie fast 70 Prozent der schwangeren Frauen, die AdW für den Bericht interviewt hat, hat Nehla keinen Zugang zu ärztlicher Versorgung. Die Hilfsorganisation musste eingreifen, damit sie die medizinische Notfallversorgung erhält.

Für die Ärztin Dr. Sarah Boutros, die in der Familienklinik von AdW in London arbeitet, klingen diese Schicksal leider allzu vertraut. Auch wenn Asylbewerber und anerkannte Flüchtlinge kostenlosen Zugang zu der Gesundheitsversorgung haben, hat die Mehrzahl der Frauen, die die Ärztin betreut, wegen ihres Asylstatus keinen Anspruch darauf.

„Mindestens 46 Prozent der schwangeren Frauen bei uns wurden irgendwann einmal Opfer von Gewalt, entweder von häuslicher Gewalt, von Gewalt auf ihrer Reise nach Europa. Ungefähr 15 Prozent sind Opfer von Menschenhandel geworden. Viele der Schwangerschaften entstehen durch Gewalt und Ausbeutung und die Frauen fühlen sich oft alleine gelassen", so die Ärztin.

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„Der Zugang zu medizinischer Versorgung ist ein großes Problem. Im letzten Jahr kamen 151 schwangere Frauen zu uns. Fast 90 Prozent davon hatten keinen Zugang zu einem Frauenarzt, als sie zu uns gekommen sind. Rund 60 Prozent der Frauen hatten in der 12. Woche keinen Ultraschall, 25 Prozent hatten in der 20. Schwangerschaftswoche keinen Ultraschall", erklärt. Dr. Sarah Bourtros. „Das führt bei den Frauen zu einem viel höheren Risiko bei der Geburt. Im letzten Jahr starben leider zwei Babys bei der Entbindung."

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Warum nutzen die Frauen nicht die staatliche Gesundheitsversorgung? Laut der Medizinerin liegt es vor allem daran, dass sie nicht wüssten, dass sie darauf einen Anspruch haben. Sie haben Angst davor, gemeldet zu werden und sie haben Angst vor den Kosten. „Durchschnittlich kostet eine unkomplizierte Geburt für Flüchtlinge zwischen 7.000 und 8.000 Euro—eine stattliche Summe, besonders wenn man bedenkt, dass der Großteil der Patienten von AdW unterhalb der Armutsgrenze lebt.

Sie übernachten auf der Couch bei Freunden und Familie, das sorgt bei den schwangeren Frauen für viel Stress.

„Die Regularien für den Zugang zu frauenärztlicher Versorgung sind sehr klar: Keiner Frau sollte aufgrund von finanziellen Faktoren der Zugang dazu verwehrt werden. Der Betrag soll nicht vorher gezahlt werden. Es gibt diesbezüglich aber viele Missverständnisse", erklärt Dr. Sarah Boutros weiter. „Ein Großteil unserer Zeit in der Klinik verbringen wir damit, den Frauen zu erklären, dass sie einen Anspruch haben. Wir unterziehen alle Frauen einem gründlichen Gesundheits-Check-up. Wir geben ihnen die Vitamine, die sie brauchen. Wir überweisen sie auch an ein Krankenhaus oder einen Hausarzt, je nachdem wie dringend es ist."

Dieses Problem tritt nicht nur in Großbritannien auf, sondern auch im Rest von Europa. Die Ungeklärte Wohnsituation ist für die meisten Geflüchteten ein großes Problem. „Viele leben mal hier und mal dort. Sie übernachten auf der Couch bei Freunden und Familie, das sorgt bei den schwangeren Frauen für viel Stress."

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„Vor Kurzem hatten wir den Fall einer Frau in der 35. Schwangerschaftswoche, die obdachlos geworden ist. Vier bis fünf Wochen wusste sie nicht, wo sie leben soll, deshalb ist nicht bei frauenärztlichen Terminen erschienen, das hatte für sie eben keine Priorität. Ihre psychische Verfassung war ein Desaster. Sie hatte große Angst."

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Boutros' Patientin Anna hat wiederholt Anrufe vom Krankenhaus erhalten, um das Geld einzutreiben. Das ging drei Monate nach der Geburt ihres Babys weiter, auch wenn sie in der Zwischenzeit als Opfer von Menschenhandel eingestuft wurde. „Die Rechnung sollte storniert werden, sobald eine Frau so eingestuft wird oder das Asylverfahren eröffnet wurde", fordert die Ärztin.

„Das sollte nicht Teil unseres Jobs sein, aber für die Frauen einzutreten, die im Asylverfahren stecken, macht einen großen Teil unserer Arbeit aus. Wir kämpfen für ihre Unterbringung, für die staatliche Unterstützung und wir sorgen dafür, dass ihre Rechnungen storniert werden. Es ist für Frauen in diesen Notsituationen und ihre Familie eine unglaubliche Belastung, die Unterstützung zu erhalten, die ihnen zusteht."

*die Namen wurden durch die Redaktion geändert.

Anmerkung der Redaktion: Die Autorin arbeitet in der PR-Abteilung der Hilfsorganisation Women for Refugee Women.


Titelfoto: imago | ZUMA Press