"Positiv denken" hilft nicht gegen Depressionen – Medikamente schon
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Psychische Gesundheit

"Positiv denken" hilft nicht gegen Depressionen – Medikamente schon

Viele halten die Krankheit für eine Phase, die man irgendwann hinter sich lässt. Wer Pillen schluckt, hat in ihren Augen versagt. Dabei können Antidepressiva Leben retten.

Wenn es um die Psyche geht, halten sich sehr viele Menschen plötzlich für Mediziner. Wer mit psychischen Problemen kämpft, muss sich oft eine ganze Liste gut gemeinter Ratschläge anhören. Rat, um den man gar nicht gebeten hat. Ein Thema, das immer wieder auftaucht: Psychopharmaka. Der allgemeine Konsens scheint zu sein, dass Pillen für die Psyche etwas Schlechtes sind. Vor Kurzem sprach Mariah Carey mit dem People-Magazin über ihre Bipolar-II-Diagnose. In dem Interview erwähnt sie auch, dass Menschen mit psychischen Krankheiten oft zusätzlich stigmatisiert werden, wenn sie medikamentös eingestellt sind. Und damit hat sie absolut Recht.

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Wenn ich erzähle, dass ich Tabletten gegen meine Depressionen nehme, werde ich oft behandelt, als hätte ich versagt. Als hätte ich mich einfach nicht genug bemüht, glücklich zu sein und zu funktionieren. Letztes Jahr habe ich einem Mitpassagier in einem Lyft-Taxi erzählt, dass ich unter anderem über psychische Gesundheit schreibe. Er erklärte mir daraufhin ausführlich, dass Chemikalien im Leitungswasser dafür verantwortlich seien, dass bei immer mehr Menschen Depressionen diagnostiziert werden. Sein ungefragter Tipp an mich: Ätherische Öle könnten vielleicht gegen die Giftstoffe in meiner Blutbahn helfen. Als eine ehemalige Vorgesetzte herausfand, dass ich vor einigen Jahren zwei verschiedene Antidepressiva genommen habe, warnte sie mich, vorsichtig zu sein – sie habe schon zu oft gesehen, dass Bekannte aus der Kreativbranche von Antidepressiva "wie betäubt" gewesen seien.

Wenn ich in Unterhaltungen mein ADHS erwähne, werden plötzlich alle zu Soziologen: ADHS sei eine pseudomedizinische Störung, die in Wirklichkeit von der ständigen Smartphone-Nutzung herrühre, sagen sie dann. Das bedeute auch, dass eigentlich alle und somit auch niemand ADHS hätte. Wer Medikamente dagegen nähme, könne gleich Gift schlucken.

Ich bin heute 27 und nehme seit einem Jahrzehnt Medikamente gegen schwere Depressionen und Angstzustände. Wenn Fremde mir online erklären wollen, wie ich meine psychischen Erkrankungen eigentlich angehen sollte, antworte ich mittlerweile einfach nicht mehr. Der emotionale Preis, den ich zahle, wenn ich meine Lebensrealität rechtfertigen muss, ist einfach zu hoch. Überzeugen können werde ich sie so oder so nicht. Eine psychische Krankheit zu haben, ist schlimm genug. Dieser allgegenwärtige Widerstand gegen Psychopharmaka bringt Menschen wie mich allerdings dazu, dass wir gar nicht mehr darüber sprechen wollen. Dabei haben diese Medikamente mir und zahllosen anderen Menschen ein Leben ermöglicht, das wir sonst nie hätten führen können.

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Die Stigmatisierung von psychischen Krankheiten passiert oft unbemerkt, weil sie als gut gemeinte Sorge daherkommt. Die Folgen sind jedoch schwerwiegend: Laut einer Studie von 2011 suchen sich rund 40 Prozent der Betroffenen keine Hilfe, weil sie nicht als psychisch krank gelten wollen. Das führt dazu, dass viele psychische Erkrankungen nicht angemessen behandelt werden: "Das Stigma und die daraus resultierende 'Kultur des Misstrauens' gelten als grundlegende Ursachen für die anhaltenden und allgegenwärtigen Mängel in der psychischen Gesundheitsversorgung", heißt es dazu in einer Studie von 2007.

Eine psychische Krankheit zu haben, ist schlimm genug. Aber dieser allgegenwärtige Widerstand gegen Psychopharmaka bringt Menschen wie mich dazu, dass wir schon gar nicht mehr darüber sprechen wollen.

Auch ich bin skeptisch gegenüber großen Pharmakonzernen und dem Impuls, Probleme in Medikamenten zu ersäufen, wenn es eigentlich zweckdienlichere Lösungen gäbe. Aber können wir nicht vielleicht diese Skepsis vor einer Milliardenindustrie wahren, die immer mehr Menschen von Medikamenten abhängig machen will, und gleichzeitig an die Forschung glauben, die zeigt, dass viele diese Medikamente tatsächlich brauchen?

Die Berichterstattung über die Behandlung psychischer Krankheit konzentriert sich oft auf Negativaspekte. Im April verkündete die New York Times: "Viele, die Antidepressiva nehmen, stellen fest: Sie können nicht mehr aufhören". Der Artikel zeigt auf, welche relativ unerforschten Langzeitfolgen Antidepressiva haben können; Entzugserscheinungen, vor denen einen niemand warnt, die es aber fast unmöglich machen, das Mittel abzusetzen. Auch ich habe verschiedene Nebenwirkungen kennenlernen müssen, bis ich meine passende Dosis gefunden hatte. Das bedeutete aber nicht, dass ich auf die Medikamente für meine Krankheit komplett verzichten musste – ich musste einfach die Medikation finden, die für mich funktionierte.

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Dass die medikamentöse Behandlung psychischer Erkrankungen oft als optional abgetan wird, hat auch damit zu tun, dass die Krankheiten an sich nicht ernstgenommen werden. "Wir sind inzwischen an einem Punkt, zumindest im Westen, an dem es scheint, als wäre jede zweite Person depressiv und auf Medikamenten. Wir müssen uns fragen, was das über eine Kultur aussagt", sagte Edward Shorter, ein auf Psychiatrie spezialisierter Historiker an der University von Toronto, gegenüber der New York Times. Der ziemlich offensichtliche Subtext des Ganzen: Unsere Depression folgt angeblich einem oberflächlichen Trend, sie ist gar kein medizinisches Problem, sondern ein kulturelles. Man kann sie überwinden, wenn man sich nur bemüht. Aber wie Danielle Tcholakian für The Cut schreibt: "Für viele Menschen ist Depression eine chronische Krankheit."


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Viele Debatten über die Nebenwirkungen der Medikamente übersehen diese Tatsache. "An keiner Stelle erwähnt der [ Times-]Artikel, dass das Absetzen der Medikamente bei Menschen mit Depressionen häufig zum Tod führt", schreibt Tcholakian. "Dass viele Menschen sich aufgrund der Medikamente besser fühlen und vergessen, wie schlecht es ihnen vorher ging, sodass sie sie absetzen. Oder dass für viele Menschen die Alternative zu diesen Nebenwirkungen ein Gefühl ist, dass meiner Meinung nach schlimmer ist als der Tod – oder die Alternative ist der Tod selbst."

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Ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Symptome mich krank machen und geradezu lähmen würden, wenn ich aufhören sollte, meine Medikamente zu nehmen. Ich habe jahrelange Erfahrung damit, und trotzdem wird mir immer wieder gesagt, ich solle es doch mal mit Meditation versuchen oder ins Fitnessstudio gehen oder auf Gluten verzichten. Ja, vielleicht würde Meditation dabei helfen, einige der Symptome zu lindern – ich informiere mich dazu gerade schon. Ich habe mir sogar eine App heruntergeladen! Ich mache Sport, ich esse Obst und Gemüse, ich schreibe Tagebuch und ich nehme genug Flüssigkeit zu mir. Ich mache alles, was mir immer wieder von Außenstehenden vorgeschlagen wird, wenn sie mir erklären wollen, dass ich nicht depressiv, sondern einfach nur schlecht drauf bin. Und trotzdem brauche ich Tabletten. Wäre ich nicht medikamentös eingestellt, ich hätte nicht nur mein Studium abgebrochen, sondern auch alle meine bisherigen Jobs verloren.

Seitdem ich ein Teenager bin, werde ich komisch angeguckt, weil ich Psychopharmaka nehme. Deswegen greift es mich nicht länger an, wenn Leute aus meinem Umfeld oder auf Twitter Vorurteile mir gegenüber haben. Was mich allerdings wirklich fertig macht ist die Tatsache, dass selbst Leute mit psychologischem Hintergrund diese Vorurteile bekräftigen. Die Tatsache, dass dieses Stigma überhaupt existiert, wird gerade zum ersten Mal überhaupt kritisch beleuchtet. 2017 erschien im Magazin Health: An Interdisciplinary Journal for the Social Study of Health, Illness and Medicine ein Artikel, der sich dem Thema genauer annahm. Die Soziologin Jean E. Wallace schrieb, dass die zunehmende Stigmatisierung psychischer Erkrankungen in der Medizinwelt damit zusammenhinge, wie angehende Medizinerinnen und Mediziner ausgebildet werden würden, und wie Krankenversicherungen und medizinische Organisationen mit dem Thema umgingen.

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WUOTE

Eine Studie aus dem gleichen Jahr fand außerdem heraus, dass dieses Stigma Betroffene davon abhalten kann, sich Hilfe zu suchen. “Untersuchungen zeigen immer wieder, dass Versicherungen die Chancen auf eine Genesung eher pessimistisch einschätzen, was als Quelle eines Stigmas und als Hürde von den Leuten wahrgenommen wird, die nach Hilfe für die Behandlung ihrer psychischen Erkrankungen suchen”, heißt es in der Studie. Dieser “therapeutische Pessimismus” führe auch dazu, dass Medikamente oft nur ungern verschrieben werden würden. Wenn die Situation sowieso nicht in den Griff bekommen werden kann – wieso dann überhaupt Pillen schlucken?

Mehrere Studien zeigen: Weil es selbst auf Seiten von psychologisch geschultem Personal so viel Unwissenheit darüber gibt, inwiefern psychische Erkrankungen überhaupt behandelt werden können, wird es oft erst gar nicht erst versucht. Mir fällt kein anderer medizinischer Bereich ein, in dem jahrzehntelange wissenschaftliche Beweise dafür, dass eine medikamentöse Behandlung wirklich helfen kann, so regelmäßig beiseite gewischt werden.

Ich bin dieses Jahr mehrere Monate lang zu einer Therapeutin gegangen, die meine Medikamente als “einfache Lösung” abgetan hat. Ich solle lieber an den traumatischen Umständen arbeiten, die zu meiner Depression und meinen Angstzuständen führen würden.

Immer wieder verkaufte sie mir die Tatsache, dass ehemalige Patientinnen und Patienten von ihr mittlerweile keine Pillen mehr nehmen müssten, als erstrebenswerte Erfolgsgeschichten. Ein Ziel. dass ich mir ebenfalls vornehmen sollte. Irgendwann beschloss ich, mir eine andere Therapeutin zu suchen.

Natürlich kann eine Therapie dabei helfen, Depressionen, Angstzustände und viele andere psychische Erkrankungen zu lindern, die mit Medikamenten behandelt werden könnten. Tatsächlich ist eine Kombination aus beiden Behandlungsformen sogar eine ziemlich gute Idee. Wer allerdings die vererbbare und biologische Komponente von psychischen Erkrankungen verschweigt, verstärkt das Vorurteil, dass es sich dabei nur um eine Art Phase handelt. Etwas, was man hinter sich lassen kann, wenn man einfach nur ein bisschen positiver denkt oder mit jemandem über seine Probleme spricht.

Ich denke nicht sonderlich oft darüber nach, ob jemals ein Punkt kommen wird, an dem ich meine Medikamente absetze. Egal wie oft mir das von Außenstehenden als einzig richtiges Ziel verkauft wird. Ich mache mir nur um eine Sache Gedanken: so gesund zu sein, wie es für mich möglich ist.

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