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Die Amokläufer von Columbine, ihre weibliche Fangemeinde und ich

Der Amoklauf an der Columbine High School jährt sich zum 17. Mal und um die beiden Schützen Eric Harris und Dylan Klebold hat sich im Netz ein perfider Heldenkult entwickelt.
Art by rebvodka-closet-admirers

„Eric und Dylan bedeuten mir mehr als 90 Prozent der Leute in meiner Umgebung", schreibt ein 17-jähriges Mädchen unter dem Namen „reb420angel" in einem Post auf Tumblr. Sie spricht von Eric Harris und Dylan Klebold, den beiden Teenagern, die in den USA eine Ära der massiven Waffengewalt eingeläutet haben, als sie 13 Menschen an der Columbine High School im Bundesstaat Colorado niedergeschossen haben. Das war im Jahr 1999—im selben Jahr, in dem reb420angel geboren wurde. Der Vorfall jährte sich am 20. April zum 17. Mal.

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Reb420angel ist Teil einer kontroversen weiblichen Fangemeinde, deren Mitglieder sich selbst als „Columbiner" bezeichnen. Was sie verbindet, ist ihr gemeinsames Interesse an den Details des Massakers und vor allem an Dylan und Eric. Neben vielen jungen Teenagern gibt es auch einige Frauen in den Zwanzigern, die weltweit über den Amoklauf schreiben.

Dave Cullon ist der Autor von Columbine, einem der wichtigsten Werke zu diesem Thema. Er ist der Ansicht, dass Eric soziopathische Züge hatte. Dennoch war er charmant und viele Leute an der Columbine mochten ihn. Cullen beschreibt Eric als klugen, aber auch kühlen Menschen. Er rauchte, trank und hatte Dates. Er wurde zu Parties eingeladen und war gelegentlich high. Er wollte aussehen wie ein harter Typ, trug die Haare militärisch kurz und zu Stacheln gegelt, dazu schwarze T-Shirts und weite Cargohosen. Aus seinem Honda dröhnte deutscher Industrial Rock. Er scherte sich nicht um Regeln und gab sich selbst den Spitznamen Reb. Gleichzeitig machte er aber auch seine Hausaufgaben und war ein echter Einserschüler.

Eric schrieb das Tagebuch von Anfang an aus der Sicht eines Mörders. Er wusste, wie es enden würde. Dylan dagegen haderte mit seiner Existenz. Er hatte keine Ahnung, wie das alles ausgehen würde.

Dylan war hingegen einfach ein einsamer, depressiver und sensibler Junge, der eigentlich zu seinem Abschlussball und aufs College gehen wollte, sagt Cullen. Auch er hat in den zehn Jahren, in denen er an dem Buch geschrieben und dafür recherchiert hat, eine gewisse Sympathie für Dylan entwickelt. Als er die Tagebücher der Jungs durchsah, schrieb Cullen: „Eric schrieb das Tagebuch von Anfang an aus der Sicht eines Mörders. Er wusste, wie es enden würde. Jede Seite deutete in dieselbe Richtung. Er wollte sich nicht selbst finden—er wollte sich selbst zum Helden stilisieren. Dylan dagegen haderte mit seiner Existenz. Er hatte keine Ahnung, wie das alles ausgehen würde."

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Die selbsternannten Columbiner haben sich, was das Massaker angeht, zu echten Experten entwickelt und vertiefen sich in die Tagebücher, Notizbücher und in die berüchtigten „Kelleraufnahmen". Einige von ihnen sind angehende Psychologen und Kriminologen, deren Interesse primär forensischer Natur ist: Sie betrachten den Amoklauf als eine Art Puzzle oder Rätsel, das es zu lösen gilt, mit offenen Fragen, die an Verschwörungstheorien erinnern. Andere entwickeln indes eine intensive „Beziehung" zu Dylan und Eric—das reicht von Leuten, die ähnliche Erfahrungen mit Mobbing, Einsamkeit oder Depressionen gemacht haben, bis hin zu Liebesbeteuerungen. „Ich bin verliebt in einen toten Amokläufer", schreibt Ada, 22. „Was zur Hölle hat 2015 aus mir gemacht?"

Auf Tumblr teilen Ada und andere junge Frauen Fotos, Gifs und Zeichnungen von Dylan und Eric, verwenden Spitznamen und haben gemeinsame Insider-Witze—es erinnert ein wenig daran, wie man früher als Teenager kleine Zettel durch das Klassenzimmer geschickt hat.

„Ich möchte dieses Lächeln jeden Tag sehen können", schreibt ein Mädchen unter ein altes Schulfoto von Eric.

„Kannst du dir vorstellen, wie süß es gewesen wäre, mit Dylan auszugehen? Im Ernst! Ich wette, er hätte sich total ins Zeug gelegt und Blumen mitgebracht und so, der Süßi", schreibt ein anderes Mädchen gedankenversunken.

Auch unter den geteilten Fotos: Bilder von Waffen, unterschrieben mit Sätzen wie „Ah das will ich."

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Sie analysieren Dylans Gedichte, seine Liebesbriefe und seine Tagebucheinträge. Und sie schreiben Empfehlungen zu Dokumentationen und Büchern, die sie für „unvoreingenommen" halten. No Easy Answers von der Columbine-Absolventin Brooks Brown ist ein Favorit der Fangemeinde.

Unter dem selbstproduzierten Content befinden sich Persönlichkeitstests wie „Welches Columbine-Opfer wärst du?" und Trivialitäten wie „Wusstest du, dass Dylan eine Ratte namens Snowflake hatte?" Nein, wusste ich nicht. Und dann gibt es da natürlich auch noch (wie in jeder Fangemeinde) die zugehörigen literarischen Werke: Columbine-Fanfiction, Columbine-Erotika und andere Columbine-Schweinereien.

Die Objekte ihrer Begierde mögen schockieren, eigentlich sind die Columbiner aber nur Teil eines uralten Ritus. Seit Jahrzehnten bringen Mädchen ihre Schwärmereien kreativ zum Ausdruck. Bevor es Twitter, Blogs und Fanfiction gab, waren es Fanzines oder Wandcollagen, die man sich über das Bett hängte. Davor schrieb man seinem Lieblingsschauspieler oder -rockstar Briefe. Die moderne Technik hat dem Fantum und der Staranbetung lediglich einen neuen Rahmen gegeben. Das grundlegende Gefühl ist hingegen zeitlos—wie auch historische Präzedenzfälle beweisen.

Mehr lesen:Die Wahrheit hinter Boygroup-Hysterie und kreischenden Mädchen

In den 50er-Jahren schwärmten Scharen entschlossener Fans für Sinatra und Elvis. Zehn Jahre später wurden Massen junger Mädchen im sexuellen Delirium von Eltern und Experten für ihre fieberhafte Verehrung der Beatles kritisiert. Forscher sehen in der Beatlemania heute das Aufbegehren gegen sexuelle Unterdrückung.

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Heute können junge Frauen ihre Sexualität viel freier ausdrücken. Was sie nicht haben, ist ein Ventil für ihre Wut und ihren Ärger. Und an dieser Stelle kommen die Columbiner ins Spiel.

„Ich kann mich mit ihrer Hoffnungslosigkeit identifizieren und ich kann verstehen, dass sie wütend waren und keine Möglichkeit sahen, das zu ändern. Sie wollten akzeptiert und geschätzt werden", sagt mir die 18-jährige Trisha. „Keiner hat gemerkt, dass sie Probleme hatten und keiner hat ihren Schmerz ernst genommen", sagt die 16-jährige Emily. Was alle vierzig Tumblr-Blogger, mit denen ich gesprochen habe, gemeinsam hatten, war ihre Empathie für das emotionale Leid, dass Dylan und Eric erlebt haben, bevor sie ihre Mitschüler angegriffen haben.

Die Columbiner identifizieren sich mit den beiden männlichen Figuren, die ihre Angst nach außen gekehrt und sich „gerächt haben" und finden darin eine Art Katharsis. Nachdem die jungen Frauen ihre Wut niemals tatsächlich ausleben würden, leben sie ihre Gewaltfantasien stellvertretend durch Eric und Dylan aus, indem sie sich intensiv mit ihnen beschäftigen. Damit tun sie im ersten Moment natürlich niemandem weh—wenn man aber an das Pärchen denkt, dass von den Columbine-Schützen besessen war und einen Amoklauf geplant hat, bevor sie sich Anfang 2015 selbst umgebracht haben, wünscht man sich doch, dass sich die Mädchen Idole suchen würden, die weniger fehlgeleitet waren.

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Zum Teil fühlen sie sich mit Dylan und Eric auch so verbunden, weil sie selbst mit psychischen Problemen wie Depressionen, Ängsten und Suizidgedanken zu kämpfen haben. „Wenn man selbst psychisch krank ist, ist es leicht, sich mit den Schützen zu identifizieren oder eine Beziehung zu ihnen aufzubauen", erklärt Ada. Der Großteil der Blogger berichtet von Erfahrungen mit Mobbing oder dem Gefühl, ein Außenseiter zu sein. „Ich habe keine engen Freunde", erzählt mir die 16-jährige Columbinerin Natalie. „Ich weiß, wie es sich anfühlt, ein Außenseiter zu sein", schreibt eine 20-jährige Frau mit einem Blog namens columbinekings. „Als ich Dylans Texte gelesen habe, hatte ich das Gefühl, ich würde meine eigenen Gedanken lesen."

Viele Columbiner neigen auch dazu, Dylan und Eric zu verehren, weil sie—im Gegensatz zu Justin Bieber und One Direction—keine medialen Marketingprodukte sind, die direkt auf die vermeintlichen Wünsche von Frauen zugeschnitten wurden. Im Grunde haben die Mädchen die beiden Schützen umfunktioniert. Denn obwohl ihnen zu ihrer Zeit der Bravo-Look eines durchschnittlichen Teenagerschwarms immer gefehlt hat, wurden Dylan und Eric schließlich doch noch zu umschwärmten Lustobjekten. (Als sie damals in schwarzen Trenchcoats durch die Columbine High School zogen, sah das ganz anders aus.)

„Manchmal spüre ich diese Liebe zu Dylan und bekomme fast jedes Mal, wenn ich an ihn denke, Schmetterlinge im Bauch", gesteht Natalie. In ihrem Blog schreibt sie: „Ich möchte Eric küssen und Dylan auch." Ein anderes Mädchen schreibt: „Hast du dir schon mal vorgestellt, einfach zurück ins Jahr '99 zu reisen, um Dylan Klebold zu finden und ihn einfach zu umarmen? Oder ihm zu sagen, wie wertvoll und wunderschön er ist?"

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Viele dieser Bloggerinnen glauben, dass man das Blutbad hätte vermeiden können, wenn es jemanden gegeben hätte, der die beiden Jungs „so geliebt hätte, wie sie es verdient haben." In gewisser Weise sind sie die Autoren einer revisionistischen Geschichte; eines alternativen Universums, in dem der Loser das Mädchen kriegt und letztendlich niemanden umbringt.

Zu glauben, dass man einen Mörder verändern oder zum Besseren bekehren kann, ist typisch für Leute mit Hybristophilie, einer sexuellen Vorliebe, die auch Bonnie-und-Clyde-Syndrom genannt wird. Menschen mit Hybristophilie fühlen sich von Menschen angezogen, die Verbrechen begangen haben, insbesondere Vergewaltiger und Mörder. Anhand des Syndroms versucht man zu erklären, warum Serienmörder wie Richard Ramirez, Charles Manson und Ted Bundy während ihrer Zeit im Gefängnis eine solche Aufmerksamkeit von weiblichen Anhängern genossen haben.

Natürlich entsprechen nicht alle Columbiner dieser Beschreibung: Bei vielen geht es nur um eine unschuldige Schwärmerei—ohne jeglichen sexuellen Unterton. Ein 14-jähriges Mädchen sagt: „Ich fühle mich so zu ihnen hingezogen, dass ich mich mit ihnen hinsetzen und ein langes Gespräch führen möchte." Andere können dagegen nicht leugnen, dass sie sie auch körperlich anziehend finden und die potentielle Gefahr schürt das Feuer zusätzlich. „Eric weckt einen Teil in mir, der Angst haben möchte und ich denke mir: Ja, bring mich um. Mach, was du willst. Ich liebe dich!", sagt die 16-jährige Kelsey.

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Als ich 16 war, stand ich auch „Bad Boys"—ähnlich intensiv ausgeprägt. Ich sah mir immer und immer wieder …denn sie wissen nicht, was sie tun und Der Wilde an und habe Dean und Brando im Kunstunterricht gezeichnet. Dann brachte mir die Popkultur Eminem mit seiner toughen Arbeiterattitüde, seinem verschlossenen, finsteren Blick und seiner selbstverklärenden Musik, die von sexuellen Begegnungen und häuslicher Gewalt erzählte. Ich habe ein Foto aus einer Ausgabe des Rolling Stone aus dem Jahr 1999 ausgerissen, auf dem er bis auf eine strategisch platzierte Stange Dynamit komplett nackt ist, und habe es über mein Bett gehängt. Besonders anziehend fand ich ihn, weil ich selbst ängstlich und launisch war und meine angepassten Mitschüler hasste, die Britney Spears nacheiferten. Ich war der Meinung, Slim Shady wäre ein Rebel, der einfach „alles hatte."

Zum Zeitpunkt des Amoklaufs in Columbine war ich gerade in der achten Klasse. Ich habe von meinen Lehrer und aus der Zeitung davon erfahren. Ich hatte riesige Angst. Alle, die ich kannte, fanden Dylan und Eric einfach nur widerwärtig. Die Vorstellung, dass man die beiden auf irgendeine Weise attraktiv finden könnte, wäre einfach nur absurd gewesen. Aber wäre ich zehn Jahre später auf die Welt gekommen, hätte ich höchstwahrscheinlich dem Profil einer Columbinerin entsprochen. (Ich war ein unbeliebter Nerd aus der Schauspiel AG, der dabei war, zu einer ängstlichen jungen Frau heranzuwachsen. Ich hatte Probleme mit dem Erwachsenwerden und keine Ahnung, dass ich lesbisch war—ich wusste nur, dass ich irgendwie anders war.)

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Aus diesem Grund war ich auch nicht besonders schockiert, als ich durch die Columbine-Posts auf Tumblr scrollte, die zumeist zwischen Fotos von selbstzugefügten Wunden und ellenlangen Briefen von Mädchen auftauchen, die ihre „Leben hassen" oder „einfach nur sterben wollen". Ich spürte eher einen Anflug von Traurigkeit und Mitleid—und wenn ich einen schlechten Tag hatte, konnte ich mich in ihnen wiedererkennen.

Für die beiden ist es zu spät, um die High School unbeschadet zu überstehen. Aber wenn wir Dylan und Eric ‚im Stich gelassen haben', dann lassen wir auch ihre Bewunderer im Netz im Stich.

Junge Frauen sind kreativ, aber wir müssen mit dem auskommen, was uns die Gesellschaft zur Verfügung stellt. Wenn es keine weiblichen Rockstars und Rapper gibt, dann hängen wir uns eben an Männer, die getan haben, wozu wir vielleicht gerne fähig wären. Für Mädchen, die sich anders fühlen und unzufrieden sind, gibt es keine weiblichen Vorbilder (außer ein paar Schriftsteller, die sich vor Jahrzehnten selbst umgebracht haben). Dafür gibt es viele wütende Männer, die grässliche Verbrechen begangen haben, und deren Zahl täglich weiter zu steigen scheint.

Auf jeden Fall macht jeder, mit dem ich gesprochen habe, schnell deutlich, dass es keine Entschuldigung für das gibt, was Dylan und Eric getan haben. „Wir sind keine Verrückten oder angehende Mörder", stellen sie klar. Ein 18-jähriges Mädchen sagt: „Ich lehne es absolut ab, was sie getan haben, zu 100 Prozent. Ich bin eine der friedliebendsten Personen, die du jemals getroffen hast." Im Großen und Ganzen glaube ich ihnen das. Sie sind eine Gruppe, die allem voran Anschluss suchen. Bevor sie Tumblr entdeckt hat, erzählt mir ein 13-jähriges Mädchen, „dachte ich, ich wäre krank, weil ich mich für Mörder interessiert habe. Es war beruhigend zu sehen, dass sich andere Leute auch für so etwas interessieren."

Wer die Welt der Columbine-Fangemeinde über die Maßen verstörend findet, sollte im Hinterkopf behalten, dass dieser Kult zwei gut alte Traditionen miteinander verbindet: Zum einen sind Menschen seit jeher fasziniert von Verbrechen, was zusätzlich durch unseren Voyeurismus, unsere morbide Neugier und vielleicht auch durch unser Verlangen geschürt wird, uns mit den extremen, verstörenden Seiten menschlichen Verhaltens auseinanderzusetzen. Zum anderen ist es seit Rudolph Valentino gang und gäbe, seine romantischen Obsessionen als heranwachsende westliche Frau öffentlich auszuleben.

Bei vielen dieser Mädchen wird sich zeigen, dass ihre Besessenheit von Dylan und Eric einfach nur eine Phase war. Viele verlieren jetzt schon das Interesse. „Ich bin jetzt in der Oberstufe", sagt Emily. „und denke nicht mehr viel über Columbine nach."


Thumbnail-Foto: rebvodka-closet-admirers | Tumblr