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Mode

Die Ära des Push-up-BHs ist endgültig vorbei

Wenig ist erleichternder, als nach einem langen Tag den BH ausziehen zu können. Umso schöner, dass der Wunsch nach Bequemlichkeit und Natürlichkeit endlich auch in Industrie und Gesellschaft angekommen ist.
Foto: Foundry | Pixabay | CC0

Hand auf's Herz: Wer kennt nicht das befreiende Gefühl, abends nach Hause zu kommen und die Häkchen des BHs zu lösen? Shirt drüber, fertig, Feierabend. Zahlreiche Memes im Internet scheinen es zu belegen: Eine große Anzahl an Frauen fühlt sich offenbar tagsüber eingeengt und zelebriert dieses abendliche Ritual. Wir können es kollektiv gar nicht erwarten, das Teil loszuwerden. Warum also tun wir es uns überhaupt an?

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Zahlreiche Stars machen den Trend 'BH-frei' vor - allen voran Kendall Jenner, die unter ihren, auch gerne durchsichtigen, Shirts keine Spitze oder wattierten Cups duldet. Nicht nur, dass diese Freizügigkeit gesundheitlich besser für die Brust ist, sie sieht auch verdammt sexy aus. Der Grund, weshalb viele zögern, liegt also vermutlich darin, dass weibliche Nippel, die auf diese Weise zum Vorschein kommen, sexualisiert und tabuisiert sind, und dass wir uns wohl ein bisschen nackt und anrüchig fühlen, wenn wir sie zur Schau stellen. Für männliche Brustwarzen hingegen gilt das nicht.

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Ganze Kampagnen beschäftigen sich damit, den weiblichen Brustwarzen Gleichberechtigung zu verschaffen. So existiert auf Instagram ein Account namens genderless_nipples, der es sich zum Ziel gemacht hat, die Doppelmoral der Bildersharing-Plattform sichtbar zu machen. In Close-ups sieht man dort Brustwarzen, bei denen nicht klar ist, ob sie zu einem männlichen oder weiblichen Körper gehören. Da Instagram weibliche Nacktheit streng zensiert, männliche aber nicht, wird diese Vorgehensweise hier ad absurdum geführt und unserer Gesellschaft in feinster Till Eulenspiegel-Manier ein Spiegel vorgehalten. Es geht beim Weglassen des BHs also auch um Gleichberechtigung und darum, der weiblichen Brustwarze ihre Sexualisierung zu nehmen.

Auf den roten Teppichen von Golden Globes über die SAG Awards konnte man die BHs an einer Hand abzählen. Was vorherrschte, waren natürliche Dekolletés ohne Stütze. Seltsam, hatte doch die britische Vogue gerade im Dezember das Dekolleté für 'out' erklärt. Natürlich kann ein Körperteil nicht ‚out' sein. Was gemeint war: Vorbei die wattierten, zusammengepressten Brüste, wie sie in den Wonderbra-Jahren – Vorsicht, Wortspiel – gepusht wurden. Stattdessen steht jetzt eine natürliche Brust im Rampenlicht.

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"I hate bras. Bras are, like, the devil", sagte Nicki Minaj im Interview mit Ellen DeGeneres, ihr offenherziges Oberteil einen 1A-Under-Sideboob freilegend. Mit dieser Überzeugung ist sie nicht allein: Rihanna, Jennifer Lawrence, Jennifer Aniston, sie alle wagen sich regelmäßig oben ohne aus dem Haus. Es scheint, so ziemlich jede Frau könne sich mit dem befreienden Gefühl des BH-Ablegens identifizieren und BHs seien tatsächlich eine Erfindung des Teufels.

Kein Wunder, ist er doch nichts anderes als das letzte Überbleibsel des Korsetts, dessen wir uns vor etwa hundert Jahren mit Hilfe von Kleidungsreformern, Modemachern wie Paul Poiret und Coco Chanel und Frauen, die sich dafür auslachen und anfeinden ließen, entledigten. Was bei der Betrachtung dieser heroischen Befreiungsaktion aber meist unter den Tisch fällt, ist die Tatsache, dass zeitgleich mit dem Abstreifen der textilen Fesseln dem weiblichen Körper ein neues Disziplinierungswerkzeug übergestreift wurde: Die Leibesertüchtigung. Mit dem Erobern neuer Freiheiten wie Tennisspielen, Gymnastik und Radfahren musste die neue Kleidung den Frauen Bewegungsfreiheit ermöglichen. Doch im Gegenzug für diese Freiheiten musste frau auch zunehmend sportlich sein, um sich diese Ästhetik erlauben zu 'dürfen'. Das Schönheitsideal veränderte sich hin zu einer sportlichen Silhouette, die immer noch unsere Zeit beherrscht.

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Foto: Hans | Pixabay | CC0

Diesen letzten Rest des Korsetts wollten die Feministinnen der zweiten Welle 1968 anlässlich des Miss America Wettbewerbs in Atlanta verbrennen, allerdings kamen sie nicht dazu. Weil sie sich auf dem öffentlichen Bürgersteig befanden, verboten ihnen die Polizisten, die Tonnen anzuzünden. Die liebevoll 'Freedom Trash Cans' genannten Mülleimer beinhalteten neben BHs auch Ausgaben des Playboy, künstliche Wimpern und andere Symbole, die nach Meinung der Aktivistinnen für weibliche Unterdrückung standen. Das Image der BH-verbrennenden Feministin ist dennoch geblieben. So hat der BH hat seine Symbolkraft bis heute nicht eingebüßt.

Dank dieser Geschichte interpretiert man es beinahe unweigerlich als Befreiungsschlag, dass sich der Push-Up, der über Jahre Dekolletés zusammenpresste und Brüste zu zwei künstlichen, ballrunden Halbkugeln machte, auf dem Rückzug ist. Wer nicht brafree gehen kann oder will, greift heute oft zum Modell 'Bralette', ohne Bügel und Wattierung, sportlich oder in zarter Spitze.

"Tragekomfort ist derzeit eine vorherrschende Thematik in der Mode im Allgemeinen. Die heutigen BH-Konsumentinnen, insbesondere Millennials, suchen sowohl körperlichen, als auch persönlichen Komfort", bestätigt auch Marshal Cohen, Chief Industry Analyst bei der NPD Group, einer Meinungsforschungsgesellschaft aus den USA. Der Bericht der Konsumforscher stellt außerdem einem 19-prozentigen Rückgang der Verkäufe von traditionellen BHs bei einem gleichzeitigen Anstieg an Kundinnen, die bequeme Alternativen präferieren, fest. Es zeichnet sich also ein klarer Wandel in Büstenhalter-Präferenz der Kundinnen ab.

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Auch in Deutschland lässt sich diese Entwicklung beobachten: Laut einer BH-Umfrage der niederländischen Lingerie-Kette Hunkemöller, an der 750 deutsche und niederländische Kundinnen teilnahmen, ist das wichtigste Kaufkriterium heute 'Komfort'. Selbst bei Victoria's Secret heißt es im Bralette-Kampagnenvideo: "No Padding Is Sexy Now!"

Diane-Sophie Durigon, die in Köln das Lingerie-Geschäft Le Pop Lingerie betreibt, bestätigt diesen Trend ebenfalls: "Es gibt eine Rückkehr zur natürlichen Form des Busens, den ich selbst bei großen Körbchen beobachte. Ab etwa D-Körbchen geht es zwar nicht ganz ohne Bügel, aber eine Schale ist für einen guten Halt nicht notwendig. Ein guter Bügel und ein hochwertiger Stoff reichen völlig."

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Gabriele Meinl, Co-Gründerin des Karlsruher Lingerielabels Aikyou, das sich auf Büstenhalter für kleine Brüste spezialisiert hat, freut sich über das größere Bewusstsein von Diversität, das heute herrscht: "Eine Zeit lang stieß man, wenn man als Frau mit kleiner Brust im Wäschehandel nach einem BH ohne Wattierung gefragt hat, auf Unverständnis. Nach dem Motto 'Wieso, Sie müssen doch ihre Brust vergrößern wollen?' Das hat sich zum Glück geändert."

Ist das nun ein Befreiungsschlag? Erobern sich Frauen mit dem Weglassen des BHs tatsächlich ein Stück ihres Körpers und die Entscheidungshoheit darüber zurück? Möglich ist es. Doch kann es auch sein, dass die 2010er-Jahre einfach geprägt sind von einer Sportswear- und Athleisure-Ästhetik, die den 'porno-chic' der 2000er Jahre ablöst. Auf den Catwalks von New York bis Paris und Mailand sind sportliche Ensembles, gar Jogginganzüge, der letzte Schrei. Dazu passt ein Sport-BH, der Bewegungsfreiheit garantiert, oder eben gar keiner. 'Fit is the new skinny' lautet die Maxime des idealen Körpers unserer Zeit – und das gilt auch für die Brüste.

Wo sich die eine Schönheitsnorm verabschiedet, wird damit allerdings direkt wieder eine neue aufgemacht. Die neu gewonnene BH-Freiheit, weibliche Brüste und Nippel so zu zeigen, wie sie von Natur aus sind, schließt dann nicht alle, sondern nur jene von sportlichen, jungen Frauen ein. Es sei denn, wir schaffen gemeinsam eine nicht-wertende Atmosphäre, in der schön ist, was jeder Frau selbst gefällt. Daran können wir alle arbeiten, beginnend mit uns selbst.


Titelfoto: Foundry | Pixabay | CC0