Illustration einer schlafenden Person, umgeben von Cannabis-Blättern
Illustration: Jennifer Kahn

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Wissenschaft

Die Wahrheit hinter dem Gerücht, dass Kiffer nicht träumen

Dass Menschen, die Marihuana rauchen, nicht oder weniger intensiv träumen, gilt vielen als bewiesene Tatsache. Die Wissenschaft sieht das allerdings etwas anders.

Anfang der 70er-Jahre—als die Schlafforschung immer mehr an Bedeutung gewann—gab es mehrere Studien, die untersucht haben, inwiefern Cannabis unseren Schlaf beeinflusst. Hierfür brachten die Forscher in der Regel eine Handvoll hilfsbedürftiger Kiffer ins Labor, hängten sie an ein Elektroenzephalogramm (EEG) und überwachten ihre Gehirnaktivitäten, während die Stoner friedlich durch die verschiedenen Schlafphasen wanderten.

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Die Erkenntnis, zu der die Forscher damals kamen, hatte einen großen Einfluss darauf, was wir heute über den Einfluss von Marihuana auf unseren ruhenden Geist zu wissen glauben: Durch einige der ersten Experimente stellte man fest, dass der REM-Schlaf—also die Schlafphase, in der unser Gehirn am aktivsten ist und wir am meisten träumen—durch den Einfluss der Droge verkürzt wird. Daher auch die Vorstellung, dass man nicht träumt, wenn man Gras geraucht hat—ein Dauerthema in den Kommentar-Threads zahlreicher Foren, das mittlerweile schon beinahe zum Allgemeinwissen zählt.

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Ich gebe es zu: Ich habe schon oft Gras geraucht, bevor ich schlafen gegangen bin und hatte dennoch immer die verrücktesten Träume. Die Vorstellung, Kiffer würden nicht träumen, hat in meinen Augen deswegen auch noch nie Sinn gemacht. Mal habe ich geträumt, dass ich ein Kind hatte, das ich bis dahin vergessen hatte und mal nahm ich an einem Rennen teil, bei dem jeder außer mir normal rennen durfte—ich musste auf auf allen Vieren krabbeln und konnte mich einfach nicht aufrecht hinstellen, weil ich nicht gegen die Schwerkraft ankam. Manchmal hatte ich sogar Träume, in denen ich fliegen konnte.

Anderen Kiffern, mit denen ich gesprochen habe, ging es da ganz ähnlich. „Ich rauche jeden Abend Gras und kann mich fast immer am Morgen an meine Träume erinnern", erklärt meine Freundin Mira entschlossen. „Meiner Meinung nach alles Bullshit."

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Wie sich herausgestellt hat, scheint die Meinung über den Zusammenhang von Gras und Träumen auch gar nicht so einhellig zu sein, wie viele glauben. Eine Studie aus dem Jahr 1976, die auch eine kurze Analyse themenbezogener Literatur miteinschloss, untersuchte den Einfluss von Gras auf unseren Schlaf und kam zu dem Ergebnis, dass der Großteil der Untersuchungen, die es zum damaligen Zeitpunkt gab, „uneindeutig" ist.

Der Autor der Studie, Schlafforscher Ismet Karacan, merkte darüber hinaus auch an, dass im Rahmen der ersten Experimente festgestellt wurde, dass „der Anteil von REM-Schlaf tendenziell abnahm", wenn ihre Probanden Gras geraucht hatten—anders als in den Nächten, als sie nur ein Plazebo bekommen hatten. Als Karacan die Arbeiten allerdings genauer untersuchte, stellte er dabei fest, dass sie voller statistischer Fehler steckte und ihre Ergebnisse nicht nachgebildet werden konnte.

„Das Problem ist, dass keine der durchgeführten Untersuchungen—und davon gibt es einige—sorgfältig überprüft wurde", erklärt mir Timothy Roehrs, Forschungsdirektor des Henry Ford Sleep Disorder Center, am Telefon. „Außerdem wurde die Dosis von THC nicht gut dokumentiert und es gab auch keine Plazebo-kontrollierte Studie. Wenn man sich die Studien ansieht, stellt man fest, dass der Einfluss von Cannabis auf den REM-Schlaf mehrdeutig ist. Aus den Daten wird nicht ersichtlich, ob Gras konsistente Auswirkungen auf den REM-Schlaf hat."

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Karacans Studie fechtet viele der Ergebnisse früherer Untersuchungen an. Er fand heraus, dass Marihuana zwar die Zeit, die die Probanden zum Einschlafen benötigten, verlängerte, dafür nahm aber auch die Länge und der Anteil des REM-Schlafs im Rahmen des Schlafzyklus zu. Allerdings ist diese Feststellung auch nicht ganz eindeutig. Karacans Studie wurde anhand der Daten von Kiffern aus Costa Rica durchgeführt und hatte durchaus auch einige Mängel. Einige der Teilnehmer wurden im Verlauf des Experiments disqualifiziert, weil sie nicht autorisierte Nickerchen gemacht oder Joints geraucht haben. Außerdem sollten die Teilnehmer ihr Gras alle selbst besorgen. (Er merkt auch an, dass er sich wahrscheinlich selbst ein Bein gestellt hat: „Dass in beiden Gruppe so oft zwischendurch geschlafen wurde, könnte zumindest zum Teil auch daran liegen, dass in Südamerika für gewöhnlich Siesta gemacht wird. Bei zukünftigen Untersuchungen sollen die Schlafgewohnheiten und die Schlafdauer detaillierter betrachtet werden.")

Aktuellere und zuverlässigere Untersuchungen bieten solidere Gegenargumente. Eine Doppelblindstudie aus dem Jahr 2004, die auch durch eine Plazebo-kontrollierte Studiengruppe überprüft wurde, untersuchte vier Männer und vier Frauen, denen jeweils 15 mg THC verabreicht wurden. Dabei stellten die Forscher fest, dass die Droge nahezu keinen Einfluss auf den Schlaf hatte. „Die vorliegende Untersuchung bot keinen Hinweis darauf, dass 15 mg THC den Schlafprozess beeinflusst haben", schlussfolgerten die Forscher. Ihre Studie legte nahe, „dass bei einzelnen Probanden die Dauer des Tiefschlafs zugenommen haben könnte", aber das muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass dadurch auch die Träume beeinflusst wurden. Tiefschlaf ist eine Form von Non-REM-Schlaf (NREM-Schlaf). Man geht davon aus, dass dieser Schlaf die erholsamste Phase unseres Schlafzyklus ist und dass wir in dieser Phase häufiger träumen als in anderen NREM-Phasen.

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Als ich Roehrs nach seiner Einschätzung zum traumlosen Stoner frage, meint er, dass im Rahmen seiner Forschungsarbeit nichts darauf hingedeutet hat, das bestätigen würde, dass Gras den REM-Schlaf verkürzt. Gemeinsam mit seiner Kollegin Leslie Lobel hat Roehrs eine Schlafstudie mit schweren Cannabiskonsumenten durchgeführt. (Die Studie war Teil einer größeren Studie zum Konsum von Cannabis und wurde derzeit noch nicht veröffentlicht.)

„An manchen Tagen erhielten die Probanden Plazebo-Zigaretten und an anderen Tagen, bekamen sie Zigaretten mit drei Prozent THC. Sie rauchten am Morgen sowie am Nachmittag und in der Nacht haben wir dann ihre Schlafmuster aufgezeichnet", erklärt er. Roehrs fand heraus, dass in den Nächten, in denen die Teilnehmer Gras geraucht hatten, kein Unterschied im Vergleich zu der gleichaltrigen Kontrollgruppe von Nicht-Konsumenten festzustellen war.

„Der REM-Schlaf wurde nicht beeinflusst", sagt er weiter. „Es gab keinerlei Hinweise darauf, dass der REM-Schlaf bei den schweren Cannabiskonsumenten gestört wurde, wenn ihnen eine aktive Zigarette verabreicht wurde."

Was ist dann mit den Leuten, die sagen, dass sie zu einem traumlosen Leben verdammt sind, wenn sie Gras rauchen? Roehrs sagt, dass sie wahrscheinlich nichts anderes erleben als Menschen, die nüchtern sind und sich nicht an ihre Träume erinnern können. Er meint, dass es einfach schwieriger ist zu sagen, was im Schlaf passiert ist, wenn man die ganze Nacht über friedlich geschlummert hat und man kein Traumtagebuch oder so etwas in der Art führt, wo man gleich nach dem Aufwachen aufschreibt, was man geträumt hat. (Es gibt sogar eine Studie, die nahelegt, dass die Erinnerung an unsere Träume noch nicht einmal davon abhängen, aus welcher Schlafphase wir aufwachen—obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass man sich erinnert, etwas höher ist, wenn man aus dem REM-Schlaf aufwacht.)

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„In der Nacht, als die Teilnehmer Gras geraucht haben, haben sie die Nacht durchgeschlafen und sind nicht wach geworden. Sie haben ganz normal geschlafen", sagt er. „Viele Menschen erinnern sich nicht an ihre Träume, wenn sie normale Mengen von Schlaf bekommen."

Was die Tatsache betrifft, dass Menschen intensiver zu träumen scheinen, wenn sie kein Gras rauchen, sagt Roehrs, dass er glaubt, dass es sich dabei auch nur um eine Sache der Erinnerung handelt. „Wenn wir die Probanden in der Plazebo-Nacht beobachtet haben—also als sie kein Marihuana geraucht haben—, haben sie schlechter geschlafen, in etwa so wie Menschen mit Schlafstörungen. Sie sind häufig wach geworden", erklärt er. „Menschen berichten oft davon, dass sie unruhig träumen [wenn sie kein Gras rauchen], aber das liegt eher daran, dass sie mitten in der Nacht wach werden." In anderen Worten: Deine Träume sind nicht zwangsläufig intensiver, du kannst dich am Morgen nur besser an sie erinnern, weil du plötzlich und vermutlich während dem REM-Schlaf wach geworden bist.

Letztendlich ist es genauso wie bei vielen anderen Untersuchungen im Zusammenhang mit Gras: Es werden noch viele weitere Studien notwendig sein.