Die Autorin mit Camping-Ausrüstung; die Autorin erzählt von ihrem ersten Campingtrip
Die Autorin mit Camping-Ausrüstung | Alle Fotos: Philipp Sipos
Menschen

Ich war das erste Mal campen und es war grauenhaft

Das ist er jetzt also, dieser unbequeme Journalismus.

Vielleicht ist der Decathlon am Alexanderplatz der schrecklichste Ort auf der Welt. 

Wenn es um Camping geht, stelle ich mir eine Familie vor, die in so einer Yoghurtwerbung auftauchen könnte. Ich meine diese Werbespots, in denen das Wetter immer viel zu schön ist. Jetzt mit 30 Prozent weniger Fett! Die ganze Familie lacht dem Betrachter entgegen. Sie haben eigenhändig und mal eben so kurz nebenbei den Nahostkonflikt gelöst, sich noch nie bei Monopoly gestritten und holen all ihre Impfungen immer rechtzeitig nach. Und das sind auch genau die Leute, die mir am Freitagmorgen bei Decathlon begegnen. Sie sind wahrscheinlich auch schon alle vom Polyesterschlafsack zum Daunenschlafsack gewechselt. Ich könnte kotzen.

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Isomatte, Zelt, Schlafsack, zwei Thermoskannen mit Suppe und Tee. Ich bin ausgerüstet. Mein Rücken schmerzt schon auf dem halben Weg zur S-Bahn-Station. Ich bereue mir während des ersten Lockdowns keine Yoga-Routine angewöhnt zu haben. Ich mache das, was ich immer mache, wenn ich nervös irgendwo hin fahre: Ich schaue mir die anderen Leute in der S-Bahn an und stelle mir vor, wo sie gerade hinfahren und beneide sie dafür. Ich weiß gar nicht, wovor ich genau Angst habe. Vielleicht vor einem leeren Campingplatz im Oktober kombiniert mit dem Drang um drei Uhr morgens pinkeln zu müssen. Oder vor den Temperaturen nachts. Heute soll die kälteste Nacht dieser Woche werden.

Die Autorin mit Camping-Ausrüstung auf dem Bahnsteig

Doch wie habe ich es überhaupt geschafft, in 23 Jahren nie zu campen? Meine Eltern hielten nie viel vom Zelten. Lieber verbrachten sie eine Woche Winterferien in einer heruntergekommenen Berghütte in einem Dorf in Liechtenstein, wo es im Winter so kalt wurde, dass man die Toilette nicht mehr benutzen konnte, weil die Rohre zugefroren waren. Wahrscheinlich liegt es auch daran, dass ich wesentliche Stufen des Erwachsenwerdens ausgelassen habe. Festivals habe ich gemieden. Vor allem wegen der Kombination aus Sonnenbrand, Matsch und Wirtschaftstudentinnen, die auf Ecstasy den Tequila durch Trichter und Schläuche zu sich nehmen. Diese fast schon obligatorische Sinnkrise zu Beginn der eigenen Zwanziger, die mich hätte dazu bringen können, einen alten VW-Bus in einen Wohnwagen umzubauen, ist bislang auch ausgeblieben. Welche Folgen diese Versäumnisse nach sich ziehen, wird sich heute herausstellen.

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Der Campingplatz Kuhle Wampe liegt in Berlin an der Grenze zu Brandenburg. Er ist über zwei Wege zu erreichen. Auf der einen Seite führt eine Fähre über die Dahme, einen Seitenfluss der Spree, direkt zum Campingplatz. Der Landweg durch Berliner Vororte dauert länger. Weil heute die Fähre nicht fährt, nehme ich den längeren Weg durch den Wald. Das nächste Dorf liegt drei Kilometer entfernt. 

Die Autorin auf dem Campingplatz

Der Campingplatz sieht verlassen aus. Die Gaststätte neben dem großen Metalltor am Eingang ist heute geschlossen. Beschriftete Menütafeln versprechen aber, dass es mal Sommer war und hier mehr Leben. Wegweiser zeigen wo das Haus des Platzwarts und die Toiletten sind. Als mir nach ein paar Metern ein Mann und eine Frau entgegenkommen, muss ich trotzdem nachfragen, wo ich den Platzwart finde.

“Oh, das Haus ist direkt da vorne rechts. Kannst du eigentlich nicht verfehlen.” Sie scheinen gar nicht irritiert davon zu sein, dass ich im Oktober campen will. Das beruhigt mich.

Ich stehe vor dem Häuschen des Platzwarts. Hinter der Scheibe läuft der Fernseher, doch der Mann hat seinen Blick auf den Monitor vor sich gerichtet und spielt Tetris.
Als ich gegen das Glas klopfe, schreckt er hoch und öffnet das Fenster. Fragend hebt er seine Augenbrauen.
“Ich bin die Journalistin. Ich würde heute gerne hier zelten.” 
Er lacht und schüttelt den Kopf: “Bist du dir sicher, dass du das machen möchtest?” Heute Nacht sollen es vier Grad werden. 
Er erklärt mir, wie das Duschen mit den Marken funktioniert. Eine Duschmarke bietet 3 Minuten warmes Wasser, das kalte ist kostenlos. “Wenn jemand Zeit übrig lässt, hast du Glück.” Er lacht nochmal. “Meine Frau zeigt dir, wo du dein Zelt aufbauen kannst.”

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Der Zeltplatz liegt etwas abseits der Dauercamper auf einer kleine Landzunge. Für mein Zelt suche ich mir einen Platz vorne neben dem Steg aus. Zuerst breite ich eine Plane auf dem feuchten Boden aus. Dann baue ich das Zelt auf, haue die Heringe in den Boden. Ich freue mich über jedes bisschen Erde unter meinen Fingernägeln. So fühlt es sich also an, eins mit der Natur zu sein.

Später laufe ich zum Wasser. Alles sieht verwunschen aus. Die Kabel, die zwischen den Wohnwagen durch die Luft und über die Erde gezogen sind, fügen sich so sehr in die Umgebung ein, dass sie fast so aussehen wie Lianen. Es ist so friedlich und still, dass das Schild “Stop and Smile!” an einem der Wohnwagen fast zu fordernd klingt.

Ein blauer aufblasbarer Schwimmring hängt an der Außenwand eines Wagens. Es scheint fast, als würde der Sommer sich nur in einem dieser Wagen verstecken und gleich rausspringen, um mir zu sagen, dass das mit der Kälte heute nur ein Witz ist. In einem der Wohnwagen läuft ein Fernseher. Ich erinnere mich daran, dass ich als Kind Nachmittage im Wohnwagen meiner Tante am See verbracht hatte. Darin roch es immer süßlich nach Sonnencreme. Meine Fußsohlen brannten auf dem Plastikboden.

Die Boote

Hinter einem Gartentor führen schmale Stege bedeckt mit Vogeldreck in die Große Krampe, eine Bucht der Dahme. Einige Boote sind auf beiden Seiten festgemacht. “Seewolf” oder “Bernd das Boot” heißen die zum Beispiel. “Panama” heißt ein anderes, als träume da einer von einem Gewässer, das bisschen größer ist als die Große Krampe.

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Als es dunkler wird, setzte ich mich auf eine Bank vor das Zelt. Ich schraube die Thermoskanne auf und bin ich überrascht, dass mir Dampf entgegensteigt. Vor acht Stunden habe ich den Tee in die Kanne gefüllt. In einem Thermoskannen-Forum, das ich mir vor meiner Abreise angeschaut habe, behaupten die Leute ja dies und das bezüglich der Zeit, bis ein Tee abkühlt. Sobald ich wieder Zuhause bin, werde ich meine neu gefundene Expertise zu diesem Thema teilen.

Die Autorin putzt sich die Zähne

Auf dem Weg zum Zähneputzen begegne ich der Frau des Platzwarts: “Stell deine Schuhe abends unbedingt ins Zelt rein, sonst sind sie morgen weg. Wir haben einen Fuchs hier.” 

In einem Guide im Internet zum Thema Camping bei unter 10 Grad wird mir mit Nachdruck zu verstehen gegeben, dass ich unbedingt nochmal pinkeln soll bevor ich schlafen gehe. Warum? Der Autor meint, dass mein Körper Energie aufwendet, um meinen Urin warm zu halten. Das ist natürlich absoluter Blödsinn, weil eine volle Blase nicht wirklich einen Einfluss auf die Wärmezirkulation in einem Schlafsack hat. Trotzdem bin ich versucht die Schuld für meine eiskalten Zehen darauf zu schieben, dass ich ein bisschen pinkeln muss. Der Stoff am unteren Ende des Schlafsacks ist kalt. Ich ziehe meine Beine ein und hoffe das mir bald wärmer ist. Das ist er jetzt also, dieser unbequeme Journalismus. 

Das Zelt bei Nacht

Ich frage mich, ob ich schon mal einen unangenehmeren Urlaub hatte und denke an den Städtetrip nach Mailand. Mit einem Typ aus meinem Gymnasialjahrgang bin ich mit dem Zug nach Italien gefahren. Wir kannten uns noch nicht lange und am zweiten Abend gestand er mir, dass er mich sehr doll mag. Ich lächelte und fragte mich, wann es wohl okay wäre, das Ganze zu beenden. Als er am nächsten Tag davon sprach, sich ein Tattoo stechen zu lassen, kam die Panik. Der Gedanke einer Person das Herz zu brechen, die dann auch noch eine permanente Erinnerung daran unter der Haut trägt, ist irgendwie schlimmer als diese Isomatte.

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Ich höre die Tropfen auf dem Zeltdach und denke an den Wasserfleck an meiner Zimmerdecke in Neukölln. Den soll ich beobachten, schauen, ob er größer wird. Der sieht ein bisschen aus wie Neuseeland. Ich wache eigentlich jede Stunde auf. Die Geräusche, die ich höre, beruhigen mich so sehr, dass es jedoch nie lange dauert, bis ich wieder einschlafe. Weil um mich herum nur See und Wald ist, glaube ich das Rauschen der S-Bahn zu hören. Manchmal tauchen die Schwäne und Enten ins Wasser. 

Um 5:30 Uhr gebe ich das Weiterschlafen auf. Die Krähen in den Bäumen über mir sind auch schon wach. Im Schlafsack ist es so warm, dass ich gar nicht ans Umziehen denken möchte. Bis ich meinen ganzen Mut zusammen nehme und mich aus dem Schlafsack raus traue, um mich umzuziehen, vergeht eine Stunde. Ich stehe im Zelteingang und schaue raus auf das Wasser. Ein Paar Kanufahrer rudern vorbei.  Für sie sehe ich vielleicht aus wie eine leidenschaftliche Camperin. 

Der Tee aus der Thermoskanne ist kalt. Eine weitere Beobachtung, die ich mit dem Thermoskannenforum teilen kann. 

Manchmal fahre ich nachts Fahrrad. Die Straßen sind leer und ich muss die Ärmel über meine Finger ziehen, weil der Fahrtwind so kalt ist. Dann muss ich bisschen grinsen und fühle mich fast schon lächerlich dabei. Und beim nächsten Einatmen frage ich mich dann, wie so viel Glück in meiner Lunge Platz hat. So fühlt sich das gerade an. Wie ein Coming-of-Age-Film-Abspann. Ja, küss sie für mich, grüß sie von mir, ich bin hier ganz zufrieden.

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Doch das Gefühl verfliegt, als es darum geht, das Zelt wieder zusammenzufalten. In einem Video, das nur 58 Sekunden lang ist, demonstriert eine Frau auf einer Bergwiese, wie man das Zelt abbauen soll. Es fühlt sich so an als würde mir meine jüngere Cousine erklären, wie eine bestimmte TikTok-Choreografie geht. Der Wind ist stärker als gestern und meine Finger tun weh von der Kälte. Während ich auf dem Zelt knie, werde ich so wütend auf mich selbst, dass ich gerne ein paar Minuten heulen möchte.

Vögel über einem Wald

Für den Rückweg nehme ich die Fähre. Am Steg wartet niemand anderes. Auch auf der Fähre sind keine anderen Fahrgäste. Die Nacht auf der Isomatte macht sich in meinem Rücken bemerkbar. Von den Problemen, die mir vor meinem Campingtrip Sorgen gemacht haben, ist letztendlich wenig geblieben, weder die Kälte noch die Einsamkeit haben mich fertiggemacht. Vielleicht liege ich nächsten Sommer auch mit Sonnenbrand und Tequilakater vor meinem Zelt auf einer Festivalwiese. Eins ist aber sicher: ich will nie wieder in meinem Leben ein Zelt abbauen. 

Während das Boot über das Wasser schaukelt, fühlt es sich gar nicht so an, als wäre ich nur eine Dreiviertelstunde entfernt von zuhause. Es ist kurz fast ein bisschen wie Urlaub. Vielleicht muss es nicht Panama sein. Vielleicht reicht ein Seitenfluss der Spree.

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