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Psychologie

Eine wissenschaftliche Betrachtung des „mürrischen alten Mannes”

Wir haben einen Experten gefragt, was dran ist, an diesem wiederkehrenden Klischee der Popkultur.
Photo by Alexey Kuzma for Stocksy

Über Shakespeares König Lear sowie unzählige Kinofilme bis hin zum sonntäglichen Fernsehkrimi—die Figur des mürrischen alten Mannes, genauer gesagt des mürrischen alten Menschens, gibt es schon seit langer, langer Zeit. Mittlerweile gibt es sogar konkrete Fakten und Zahlen, die nahelegen, dass wir mit zunehmendem Alter tatsächlich weniger sozial, voreingenommener und ungeniert rassistisch werden.

Da die Bevölkerung in vielen westlichen Ländern immer weiter altert, könnte das auch bedeuten, dass mürrische alte Menschen auf dem demografischen Vormarsch sind. Werden Menschen mit dem Alter aber tatsächlich selbstgerechter, engstirniger und antisozial? Oder werden sie von jungen Leuten nur missverstanden?

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Wissenschaftler behaupten seit Jahrzehnten, dass ältere Menschen, egal ob männlich oder weiblich, in der Regel weniger gesellig sind als ihre jüngeren Ebenbilder. Eine dieser Theorien nennt sich „Loslösung" und sagt, dass der relative Wert unserer restlichen Tage steigt, wenn uns bewusst wird, wie kurz das Leben ist. Folglich werden wir mit zunehmendem Alter immer wählerischer, was die Gestaltung unserer wertvollen Zeit angeht und das schließt auch die Frage mit ein, mit wem wir diese Zeit verbringen wollen. Stichwort weniger Zeit für neue und oberflächliche soziale Abenteuer.

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Das würde bedeuten, dass ältere Menschen einfach nur anspruchsvoller sind und nicht vorsätzlich menschenfeindlich. Diese Tendenz kann aber nicht nur beim Menschen beobachtet werden: Eine aktuelle Untersuchung hat bei Makaken festgestellt, dass die ergrauten Mitglieder der Primatenfamilie ähnlich wählerisch sind, wenn es um soziale Beziehungen geht. Eine deutsche Studie, die im Juli veröffentlicht wurde, stellte fest, dass die Affen mit dem Alter wählerischer werden, während die Zahl ihrer Gruppe schrumpft.

Ein gruppenloser Makake. Foto: Shreyas Desai | Wikimedia Commons | CC BY-SA 4.0

Das bedeutet allerdings nicht, dass sich die Affen nicht mehr um ihr soziales Leben kümmern. Sie betrachteten die Fotos ihrer Freunde nach wie vor länger als die Bilder von beliebigen Affen. Außerdem antworteten sie noch immer auf die Rufe der Affen aus ihrem sozialen Kreis, besonders auf die ihrer engsten Freunde.

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Der Unterschied ist nur, dass sie im Gegensatz zu früher, als sie noch jung und unbedarft waren, nicht mehr jedem alten Affen das Fell lausten. Stattdessen gingen sie dazu über, nur noch Affen aus ihrem zunehmend exklusiven Freundeskreis zu lausen.

Affen sind sich ihrer eigenen Sterblichkeit—soweit wir wissen—nicht bewusst. Diese Erkenntnisse werfen also echte Zweifel an der Theorie mit den verbliebenen Tagen, welche auf den Menschen angewandt wird, auf. Julia Fischer, leitende Forscherin der Studie, erklärt: „Motivationale Veränderungen im Alter scheinen nicht primär mit dem Bewusstsein für die begrenzte, verbliebene Lebenszeit zusammenzuhängen."

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Es handelt sich höchstwahrscheinlich vielmehr um „ein Gleichgewicht zwischen dem zunehmenden Mangel an Energie und der Tendenz, negative Interaktionen zu vermeiden." Negative Interaktionen sind sehr viel kostspieliger für unser Wohlbefinden, je älter wir werden, weil wir im Vergleich zu früher nicht mehr so leicht wieder Tritt fassen.

Es gibt nicht besonders viele Studien, die die unterschiedlichen Level an Griesgrämigkeit zwischen Männern und Frauen vergleichen, aber einige Experten sprechen auch von dem sogenannten „Syndrom des gereizten Mannes." Wenn der Testosteronspiegel von Männern abfällt, so die Theorie, nimmt ihre Reizbarkeit zu und laut einer Studie deutscher Unikliniken hat jeder fünfte deutsche Mann in hausärztlicher Behandlung einen zu niedrigen Testosteronspiegel.

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„Testosteron ist ein Hormon, das für den Muskelausbau verantwortlich ist, Körperfett reduziert, den Energiehaushalt beeinflusst und das sexuelle Verlangen steigert", sagte Dr. Ridwan Shabsigh, Leiter der Internationalen Gesellschaft für Männergesundheit, 2012 gegenüber NBC. „Es hat allerdings auch neuropsychologische Auswirkungen. Bei einigen Männern, denen wir im Rahmen unserer Arbeit begegnen, werden diese Gemütsbewegungen deutlich sichtbar und zwar in Form von Antriebslosigkeit und Reizbarkeit."

Älteren Menschen fällt es schwerer, Stereotypen zu unterdrücken.

Andere Studien legen dagegen nahe, dass ältere Menschen in Wirklichkeit sehr viel besser gelaunt und empathischer sind als junge Menschen. Der Psychologe Robert Levenson von der Berkeley University hat Menschen unterschiedlichen Alters verkabelt, um ihre Emotionen zu messen. „Im Vergleich zu jungen Menschen sind ältere Menschen nicht so gut darin, Emotionen auf Fotos von emotionalen Gesichtsausdrücken zu identifizieren", sagt er gegenüber Broadly.

„Wir haben aber auch festgestellt, dass ältere Menschen dafür sehr viel besser darin sind, die Veränderung von Emotionen in sozialen Situationen zu erkennen—zum Beispiel während einem Streit mit dem Ehepartner."

Levensons Untersuchung hat auch festgestellt, dass ältere Personen Menschen in Not sehr viel eher helfen. Außerdem merkt er an, dass das Wohlbefinden mit dem Alter generell zunimmt. Was aber ist mit dem zunehmenden Level an Vorurteilen und Intoleranz?

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Bill von Hippel, Experte für Evolutionspsycholgie und soziale Intelligenz von der University of Queensland, sagt, dass das nicht von der Griesgrämigkeit kommt. Diese unangenehmen Eigenschaften scheinen größtenteils durch altersbedingte Veränderungen in unserer Gehirnfunktion bedingt zu sein—genauer gesagt, durch einen Rückgang der kognitiven Kontrolle, wenn wir mit den vielen Stereotypen unserer Gesellschaft konfrontiert werden.

„Das Endergebnis dieses Prozesses ist, dass es älteren Menschen schwerer fällt, Stereotypen zu unterdrücken. Folglich, kommen ihnen solche Gedanken und Ansichten häufiger als in jungen Jahren", sagt von Hippel. „Man könnte auch sagen, alte Leute sind im Wesentlichen gegen ihren Willen voreingenommen."

Während ältere Menschen—egal ob männlich oder weiblich—also mit sich ringen, scheint uns die Wissenschaft ans Herz zu legen, dass die frischen, jungen Geister etwas Nachsicht mit den (anscheinend) mürrischen Senioren haben sollten—eine gute Übung, mit der wir unsere eigenen Fähigkeiten im Hinblick auf das Unterdrücken von Stereotypen trainieren können, so lange es noch geht.


Foto: Alex Pearson | Flickr | CC BY-SA 2.0