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Feminisme

Wie ein Göttinnenkult kastrierter Priester zu einem Stützpfeiler des Römischen Reiches wurde

Rechte romantisieren das antike Rom gerne als Bastion der Männlichkeit, die Realität sah anders aus.
Eine Marmorstatue der Göttin Kybele aus dem Metropolitan Museum of Art.
Eine Statue von Kybele || Foto: Metropolitan Museum of Art | Wikimedia Commons | gemeinfrei

2014 erschien auf der vorerst eingestampften Männerrechts-Seite Return of Kings ein Artikel, der die Tugenden des antiken Roms anpries. In seinem Text "Die Wurzeln der Männlichkeit im alten Rom" fragte der Autor: "Warum nicht damit anfangen, den Lebensstil zu übernehmen, der unsere Zivilisation zu der einst so großen Zivilisation gemacht hat?" Es ist keine Untertreibung, wenn man sagt, dass Rechte die Antike lieben. Ihre weißgewaschene Vorstellung einer rückschrittlichen Toga-Maskulinität, ist aber in etwa so akkurat wie die Darstellung der nordischen Mythologie in Marvels Thor.

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Neu ist das alles natürlich nicht. Seit dem Zusammenbruch des antiken Großreichs haben wir die alten Römer immer wieder gerne als Begründung für unsere Machtbestrebungen herangezogen – und das Bild von ihnen dabei jedes Mal auf unsere aktuellen Vorstellungen autoritärer Tugenden angepasst.

In Wahrheit war das Römische Reich allerdings ein multikulturelles Imperium, in dem auch Menschen ohne römische Abstammung zu vollwertigen Bürgern werden konnten und ursprünglich nichtrömische Bräuche und Götter in die Kultur des Reiches eingepflegt wurden. Die damaligen Vorstellungen von Sexualität und Geschlecht waren zweifellos extrem repressiv und toxisch, aber auch sehr anders als unsere heutigen. Nirgendwo wird das deutlicher als bei den Priestern der Kybele, die seit ihrer Einführung 204 vor Christus ein integraler Bestandteil der römischen Staatsreligion wurden.


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Die Römer waren sich schmerzlich bewusst, dass sie im Vergleich zu ihren griechischen, etruskischen und karthagischen Nachbarn zivilisatorische Nachzügler waren – und sie wussten auch, dass sie ihre Religion und den Großteil ihrer Kultur von den Griechen abgekupfert hatten. Auch deswegen waren sie so besessen davon, sich als Nachfahren der Überlebenden Trojas zu inszenieren. Indem sie ihre Wurzeln in der mythologischen Stadt im Nordwesten der heutigen Türkei verorteten, die im sagenumwobenen Krieg gegen die Griechen gefallen war, konnten sie ihre Ansprüche auf griechische Götter und die Errungenschaften der Trojaner rechtfertigen.

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Als ein Beweis der trojanischen Wurzeln adoptierte Rom auch eine mächtige Göttin mit dem Namen Kybele, deren Verehrung ihren Ursprung im heutigen Anatolien hat. Die Römer bestanden darauf, dass sie die verlorene Muttergöttin des antiken Trojas sei und mit ihrem Volk wiedervereint werden müsse. Dazu gehörte auch, einen heiligen Stein zu stehlen, einen faustgroßen Meteoriten, und ihn unter großem Tamtam nach Rom zu bringen.

Trotzdem ließ sich Kybele nicht einfach romanisieren. Ganz im Gegenteil sorgte sie unter Römern für einige Unsicherheit. Sie berührte sie nämlich genau dort, wo es am meisten wehtat: in ihrer fragilen und empfindlichen Männlichkeit.

Maskulinität im antiken Rom war eine bunte Mischung der schlimmsten Eigenschaften moderner Männlichkeitsvorstellungen. Der Akt der Penetration war geprägt von einem aggressiven heterosexuellen Denken: Ein römischer Mann penetrierte andere, unabhängig von deren Geschlecht. Damit demonstrierte er seine Überlegenheit und Herrschaft über seine Partnerin oder seinen Partner – viel öfter sein Opfer. Noch mehr demonstrierte er damit die Stärke und Dominanz des Römischen Reichs über den Rest der damaligen Welt.

Für einen römischen Mann war es undenkbar, sich penetrieren zu lassen. Das wäre nicht nur einem Männlichkeitsversagen gleichgekommen, sondern auch einem Angriff auf die kollektive Identität des Imperiums. Das Gender-Verständnis der Römer war dermaßen eng an ihre Körper gebunden, dass selbst die unfreiwillige Entfernung der männlichen Genitalien das Opfer gesellschaftlich entmannte. Die Vorstellung, dass irgendjemand freiwillig seine Geschlechtsteile und die damit verbundenen Privilegien abgibt, widersprach zutiefst ihren Vorstellungen von Geschlecht, Macht und Scham.

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Es gibt verschiedene Erzählungen über Kybeles Herkunft. Einer Sage nach entstand sie aus Agdistis, einem zweigeschlechtlichen Wesen. Weil Agdistis den anderen Göttern nicht geheuer war, schnitten sie dessen männliche Geschlechtsorgane ab. Aus dem entmannten Agdistis wurde Kybele. Aus seinem Penis entstand Attis, der schönste Mann der Welt. Kybele verliebte sich in ihn. Als Attis eine Königstochter heiraten wollte, strafte Kybele ihn aus Eifersucht mit Wahnsinn, in dessen Folge Attis sich kastrierte und starb. Überkommen von Schuld flehte Kybele Zeus an, Attis wieder zum Leben zu erwecken, der sorgte aber nur dafür, dass der Leichnam nicht verweste und seine Haare weiter wuchsen. Aus diesem Anlass wurde jedes Jahr Ende März ein großes Fest gefeiert, das den Frühlingsanfang markiert.

In einer anderen Version ist Attis ein sterblicher Priester, der von einem König kastriert wird, weil er sich gegen Vergewaltigung gewehrt hat. Aus Rache entsendet Kybele einen wilden Eber in die Region, der dort so lange alles verwüstet, bis die Einheimischen Kybele beschwichtigen, indem sie einmal im Jahr Attis' Tod betrauern. In einer weiteren Version kastriert sich Attis willentlich selbst, um die Fruchtbarkeit des Bodens zu garantieren und eine zweigeschlechtliche Identität anzunehmen, die es ihm erlaubt, Kybele für immer als Priester, Liebhaber und Wagenlenker zu dienen.

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Eine Statue von Attis || Foto: Maria-Lan Ngyuen | Wikimedia Commons | gemeinfrei

Egal, welcher Version sie auch folgten, alle von Kybeles Priestern, auch bekannt als Galli, kastrierten sich bei der finalen Initiation in den Kult selbst. Danach trugen sie nur noch Frauenkleider und präsentierten sich für den Rest ihres Lebens als Frauen.

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Es ist unmöglich, die Geschlechteridentität einer Person nach ihrem Tod festzustellen – vor allem, wenn sie aus einer Kultur stammt, deren Konstruktion von Geschlecht sich so sehr von unserer unterscheidet. Zwar mögen einige Priester Cis-Männer gewesen sein, die dem göttlichen Ruf gefolgt waren, aber es gibt auch stichhaltige Anhaltspunkte dafür, dass viele andere transfeminine Menschen waren, die in Kybeles Priesteramt einen Ort fanden, an dem sie ihre wahre Identität ausleben konnten.

"Die Galli wurden in der Literatur als Objekte des Ekels dargestellt. Freiwillige Selbstkastration war nichts, was ein guter Römer tat. Aber es gibt keinen Beweis dafür, dass die Priester diese Demütigung übernahmen", sagt Dr. Helen Morales, Altphilologin der University of Santa Barbara, zu Broadly.

Auch wenn die meisten römischen Männer und der Staat selbst von den Galli angeekelt waren, gab es genug Menschen in Römischen Reich, denen man bei der Geburt das männliche Geschlecht zugeordnet hatte, die im Beitritt eine Bereicherung sahen. Infolgedessen sah der römische Senat sich gezwungen, den Beitritt gesetzlich einzuschränken – römische Bürger durften nicht Priester werden.

Trotz allem konnten sich die Römer nicht eingestehen, dass sie einen Fehler begangen hatten und die Göttin einfach wieder zurückschicken. Das wäre einem großen Ehrverlust gleichgekommen. Außerdem war Kybele ein wichtiger Teil ihrer trojanischen Abstammungsgeschichte. Kybele aufzugeben, hätte in etwa bedeutet, die Herkunft von Stammvater Aeneas aufzugeben – dem trojanischen Sohn der Venus und einem der mythischen Gründer Roms.

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"Die Galli waren ein Paradox. Ihr außergewöhnlicher Ausdruck von Geschlecht marginalisierte sie und machte sie zu Grenzüberschreitenden."

Ihre Lösung war es, die Verehrung aufzuteilen: Die Galli durften sich den Großteil des Jahres nur in ihrem Tempelbezirk bewegen und es wurde ein römischer Offizieller ernannt, der für die öffentlichen Kybele-Festlichkeiten verantwortlich war. Diese waren der einzige Zeitpunkt, zu dem die Galli in die Stadt durften. Schließlich wurde das Priesteramt auch für nichtkastrierte Männer geöffnet und damit radikal geändert.

Nichtsdestotrotz traten Menschen weiterhin den Galli durch die traditionelle Kastrationsmethode bei und veranstalteten feierliche Prozessionen durch die Straßen Roms, bis das Christentum als offizieller Glaube angenommen wurde und die religiöse Toleranz ihr Ende fand. Man geht sogar davon aus, dass die Galli sich im Imperium ausgebreitet haben, weit bis nach Catterick im Norden Englands.

"Die Galli waren ein Paradox", sagt Morales. "Ihr außergewöhnlicher Ausdruck von Geschlecht marginalisierte sie und machte sie zu Grenzüberschreitenden. Die offizielle Inkorporierung ihres Kults in die römische Religion gab ihnen eine zentrale Bedeutung und verlieh ihnen Legitimität. Sie wurden wegen ihres Eunuchen-Status entmenschlicht und gleichzeitig wegen ihrer engen Beziehung zur Göttin als fast heilig angesehen."

Die römischen Männer mögen die Galli nicht gemocht haben, gleichzeitig verstanden sie aber, dass das Imperium sie brauchte. Das erklärt jedenfalls, wie eine Gruppe Gender-nonkonformer Menschen zu einem derartig integralen Bestandteil von Roms politischer Legitimität und seinem Streben nach Macht wurde. Das Römische Reich war alles andere als perfekt, aber es war weitaus interessanter und vielfältiger, als sich moderne Rechte eingestehen wollen.

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