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Musik

„Künstler sind nicht mehr so künstlich“: Alma und die Revolution der Popmusik

Egal ob es um die Verarbeitung einer tragischen Liebesgeschichten geht oder darum, allen, die sie früher gemobbt haben, den Mittelfinger zu zeigen: die 20-jährige Alma aus Finnland ist gekommen, um zu bleiben.
Alle Fotos: Grey Hutton

„I bring the karma" singt Alma in der ersten Singleauskopplung aus ihrem kommenden Album, „Karma". Tatsächlich ist die Finnin aber nicht nur gekommen, um ehemalige Partner zur Rechenschaft zu ziehen. Mit neongrüngelben Haaren, einer außergewöhnlichen Stimme und jeder Menge Attitüde steht sie stellvertretend für eine Generation junger Künstlerinnen, die sich nicht länger dem Popdiktat der schlanken Blondine im kurzen Kleidchen, die sich lasziv durch ihre austauschbaren Musikvideos tanzt, beugen möchten. Alma kennt es aus eigener Erfahrung, was es bedeutet, optisch nicht den Erwartungen zu entsprechen, die die Gesellschaft nach wie vor an eine „attraktive" Frau hat—doch sie nimmt dieses Gefühl und packt es in Songs, die Mut machen sollen.

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Dass es dafür durchaus ein Publikum gibt, zeigt der Erfolg der Felix-Jaehn-Kollabo „Bonfire". Die 20-Jährige hat allerdings noch mehr unters Volk zu bringen als schmissige Hooks. Wir haben sie in Berlin getroffen und unter anderem über einen Trend gesprochen, der sich langsam aber sicher abzeichnet: Frauen in allen Farben und Konfektionsgrößen, die sich ihren Platz in der Popmusik nicht mehr länger streitig machen lassen wollen.

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Broadly: Deine Musikkarriere hatte damals eigentlich mit einer Castingshow angefangen, richtig? Du warst 2013 bei der finnischen Sendung Idols.
Alma: Genau, da war ich 16. Das war was total anderes als das, was ich jetzt mache. Damals war ich sehr jung und ich hatte von nichts eine Ahnung. Ich habe mit nur einem Produzenten gearbeitet und immer wieder gefragt „Was soll ich machen?". Die Leute haben damals gesagt, dass ich nicht so wahnsinnig gut bin und ich habe mich schließlich von allen aus dieser Szene losgesagt und angefangen, mit PMA zu arbeiten. Dadurch habe ich auch Leute in Berlin kennengelernt. Auch wenn es damals was ganz anderes war, war es trotzdem gut, dass ich da mitgemacht habe. Ich glaube, ich säße heute nicht hier, wenn ich damals nicht bei Idols mitgemacht hätte. Sonst würde ich heute niemanden kennen und hätte meine Demos komplett ohne Produzenten aufnehmen müssen.

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Du bist also damals zum ersten Casting gegangen. Wie war die erste Reaktion auf dich? Du hast ja eine ziemlich einzigartige Stimme.
Ich habe gehört, dass sie eigentlich die ganze Zeit gedacht haben, dass ich das Ding gewinnen würde. Na ja. Habe ich dann nicht, aber das ist auch gut so. Sonst hätte ich ein beschissenes Album machen müssen, hätte einen schlechten Vertrag … Damals habe ich mich wirklich geärgert, mittlerweile sehe ich das aber anders. So kann ich jetzt machen, was ich wirklich machen möchte und was ich liebe. Trotzdem würde ich heutzutage nicht mehr bei so was mitmachen. Das war einfach nicht mein Ding. Ich habe das damals auch alles nicht so richtig durchschaut. Ich wollte einfach nur singen und dachte, dass das vielleicht der einfachste Weg wäre. Mittlerweile weiß ich, dass sie nach einem bestimmten „Look" bei den Teilnehmerinnen suchen—und das bin ich einfach nicht.

Es ist nicht mehr so wie vor 15 Jahren, wo es nur Britney Spears, Destiny's Child oder diese ganzen anderen schlanken, schönen Frauen gab und jeder genau wie sie aussehen wollte.

Kam es jemals zu einer Situation, wo jemand gesagt hat: Wir können dich groß rausbringen, du musst nur anders aussehen?
Glücklicherweise nicht. Bei mir meinten die Leute immer eher „Du hast eben deinen eigenen Stil, du bist zu abgedreht, wir können dich eh nicht ändern." Das schätze ich an den Leuten, die gerade um mich herum sind, wirklich: Sie wollten nie, dass ich mich ändere. Bei Idols war das ein bisschen anders. Da wollten sie zum Beispiel, dass ich Kleider trage, was ich einfach nie tue. Da musste ich mich definitiv durchsetzen und sagen: Nein, ich möchte so und so aussehen, das ziehe ich nicht an, nicht so viel Makeup und so weiter. Meine Mutter ist Modedesignerin und entwirft unsere Klamotten und das hat mich auf jeden Fall beeinflusst. Sie hat immer gesagt, dass wir alles tragen können, was wir wollen—egal wie verrückt es ist. Dadurch bin ich heute viel mutiger was meine Klamotten angeht.

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Wenn man sich gerade die Industrie anguckt, große Stars aus England oder den USA, dann haben die pinke Haare, Piercings, Tattoos. Es ist nicht mehr so wie vor 15 Jahren, wo es nur Britney Spears, Destiny's Child oder diese ganzen anderen schlanken, schönen Frauen gab und jeder genau wie sie aussehen wollte. Heute willst du vielleicht dasselbe Tattoo wie ein Star haben oder dieselbe Haarfarbe. Es ist nicht mehr wie in den 90ern.

Alle Fotos: Grey Hutton

Ich glaube, dass Adele sehr viel dazu beigetragen hat, dass weibliche Popstars, die unter anderem auch über Liebe und Beziehungen singen, nicht mehr einem bestimmten Bild entsprechen müssen.
Total. Als ich zum ersten Mal Adeles Album gehört habe, dachte ich mir: Das ist großartig, aber ob sie wirklich ein Star werden kann? Und sie hat es geschafft. Sie ist eins meiner Idole. Aktuell verfolge ich vor allem Sia. Sie macht gerade ziemlich coole Sachen. Sie ist kein typischer Popstar, finde ich. Ich war mal auf einem ihrer Konzerte, aber niemand hat sie so richtig gesehen. Wir mussten auch aus dem Backstage raus, als sie gekommen ist, aber ich glaube, sie verarscht die Musikindustrie. Dieses Ganze „Raus aus dem Backstage, ich komme jetzt"—ich glaube nicht, dass sie so ist.

Sie macht diese Popmusik, die sich einfach extrem gut verkauft, die sie aber selbst glaube ich gar nicht so mag. Sie macht einfach Geld. Sie hat diese Kunstfigur erschaffen und da steckt wahrscheinlich ein größerer Plan dahinter. Den verrät sie aber niemandem.

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Eigentlich ist die Zeit der Popdiva ja auch vorbei. Leute wie Mariah Carey, die sich nur in einem bestimmten Lichteinfall fotografieren lassen—so jemanden siehst du aktuell eigentlich gar nicht mehr. Die Leute sind nahbarer, natürlicher.
Es geht nicht mehr unbedingt darum, auf der Bühne gut auszusehen. Rihanna sieht ja zum Beispiel sowieso immer fantastisch aus, aber die schwitzt halt auch einfach bei ihren Konzerten. Als ich sie vor sieben Jahren zum ersten Mal gesehen habe, hat sie verschiedene Kleider getragen und sah einfach perfekt aus. Dieses Jahr waren ihre Haare total durcheinander, ihr Makeup war verschmiert, sie war verschwitzt und hat auf der Bühne einfach sehr „echt" gewirkt. Es gab keine Choreografien oder so, sie hat sich einfach nur das Herz aus der Brust gesungen. Ich glaube, selbst die größten Stars werden nahbarer. Künstler sind einfach nicht mehr so künstlich.

Deine erste Single „Karma" ist ja auch sehr nahbar, sehr persönlich. Beruht sie auf einer wahren Begebenheit?
Die Geschichte ist echt und beruht auf Erfahrungen, die ich gemacht habe. Ich war im Studio und meinte: Ich muss jetzt echt über diese Sache schreiben, ich bin total sauer. Dann habe ich angefangen zu schreiben. Ich schreibe meine Songs immer für mich selbst, dann sind sie einfach „echter". Aber ich denke auch nicht zu viel darüber nach. Ich war sauer, hatte von der ganzen Scheiße genug und habe deswegen diesen Song geschrieben. Auf mich kommen viele Leute zu, die mir erzählen, dass ihnen das Lied Kraft gibt und sie dieselben Erfahrungen gemacht haben und dieselbe Wut in sich tragen.

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Wenn du das Leben nicht mit all seinen Höhen und Tiefen mitbekommen hast—was fühlst du dann?

Manchmal bin ich eben wütend, manchmal werde ich scheiße behandelt und warum sollte ich darüber keinen Song schreiben können? Starke Gefühle sind die besten Sachen, über die man überhaupt schreiben kann. Wenn man jetzt zum Beispiel „Karma" nimmt: Ich würde nicht wirklich bei dir vorbeikommen und dich verprügeln. Es ist ein Song, nicht das echte Leben.

In „Bonfire" sprichst du auch über Leute, die einen negativen Einfluss auf dein Leben haben und dich unten halten. Hast du jemals Erfahrungen mit Mobbing machen müssen oder war das eine eher allgemeine Aussage?
Früher wurde ich in der Schule etwas gemobbt, aber darum geht es in dem Song eigentlich nicht. Wobei, eigentlich schon. Eigentlich ist der Song auch für jede Person, die mich jemals gemobbt hat. Gleichzeitig ist er aber vor allem für mich, weil ich immer, wenn es mir wegen anderen schlecht ging, einen solchen Song gebraucht hätte. Ich habe ihn geschrieben, weil es oft Situationen gibt, in denen man sich zwar nicht aufgibt, aber sehr in Frage stellt.

Es gibt ja diese Theorie, dass Leute, die in ihrem Leben viele negative Erfahrungen machen mussten, kreativer sind. Glaubst du, dass das stimmt?
Auf jeden Fall. Egal was du machst—ob Sängerin, Malerin oder Schauspielerin: Wenn du schmerzhafte Dinge durchgemacht hast, kannst du viel mehr geben. Wenn du das Leben nicht mit all seinen Höhen und Tiefen mitbekommen hast—was fühlst du dann? Ich kenne viele Stars aus Finnland, die schon ein bisschen älter sind, und sich fragen, worüber sie schreiben sollen. Das möchte ich nicht. Ich bin 20 und fühle gerade sehr viele Dinge. Ich schreibe jeden Tag, bin sehr produktiv und will das so gut wie möglich nutzen. Ich möchte nicht, dass das irgendwann wieder weggeht. Ich möchte über alles, was ich gerade mache und erlebe, schreiben.

Es gab diese große Studie, laut der junge Menschen sehr langweilig und sicherheitsbedürftig geworden sind. Dass ihnen sehr wichtig ist, nicht anzuecken. Siehst du das an dir selbst oder bei anderen jungen Menschen?
Vielleicht ein bisschen, aber dann gibt es eben auch diese ganzen Subkulturen, die immer weiter wachsen. Es ist also total OK, „anders" zu sein—zumindest in Städten wie Berlin, was gerade meine absolute Lieblingsstadt ist, und auch in Finnland. Auf meinem Album, das nächstes Jahr kommt, wird es auch viel um mich, meine Freunde und unsere verrückten Teenager-Jahre gehen. Wo ich aufgewachsen bin, wie Finnlands dunkle, kalte Kultur mich und meine Freunde beeinflusst hat …

Eigentlich ist der Song auch für jede Person, die mich jemals gemobbt hat.

Ich hatte bisher immer gedacht, dass Finnland dieses Vorzeigeland ist, in dem alle viel glücklicher sind. Auch, weil es bei Zufriedenheits- und Bildungsstudien immer so weit vorne landet.
Na ja. Also, ich bin quasi im „Ghetto" aufgewachsen, auch wenn es in Finnland keine richtigen Ghettos gibt, aber es war auf jeden Fall eine schwierige Gegend. Wir haben gute Schulen und so weiter, aber wir haben auch eine sehr hohe Selbstmordrate. Nur weil du gut ausgebildet bist, heißt das nicht zwingend, dass du glücklich bist. Ich liebe mein Land, wirklich, aber wir haben sehr lange Winter und es ist sehr dunkel und sehr kalt—und das für sechs Monate am Stück. In der Zeit scheint die Sonne vielleicht vier Stunden am Tag und das beeinflusst einen natürlich und man hat eher den Hang dazu, depressiv zu werden. Besonders für Jugendliche ist das schlimm, weil sie zusammen rumhängen wollen, aber dann nur von einem Haus zum nächsten gehen und niemals so richtig draußen sein können. Aber insgesamt sind wir natürlich schon glücklich. Finnland hat einfach eine eigene Kultur. Wir sind sehr seltsam, aber ich liebe es da trotzdem.