Wenn Minderjährige an der Stange tanzen
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Sport

Wenn Minderjährige an der Stange tanzen

Die International Pole Sport Federation steht immer wieder in der Kritik, weil sie selbst junge Mädchen an Wettbewerben teilnehmen lässt. Dabei ist Poledance nicht einfach nur ein Synonym für "strippen".

Die elfjährige Paige Olson sitzt in einem Freizeitzentrum im Süden Londons. Sie ist zu schüchtern, um zu reden. Sie hat strahlend blaue Augen und farblich passende Strähnen in ihren dunklen Haaren, die sie als Bob trägt. Ihr Bühnenkostüm wurde mit Federn verziert. Paige ist ein Einzelkind und wird nur von ihrer Mutter aufgezogen. Wenn sie nervös wird—was ziemlich oft passiert—, spricht ihre Mutter, die 44-jährige Jennifer Balow, für sie.

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Sie kommen aus Tucson im US-Bundesstaat Arizona und sind hierher geflogen, damit Olson an der diesjährigen Weltmeisterschaft der International Pole Sport Federation (IPSF) teilnehmen kann. Der Wettkampf findet in diesem Jahr zum fünften Mal statt und die Teilnehmer kommen aus der ganzen Welt, um hier gegeneinander anzutreten. Olson ist, wie ich bald herausfinde, die aktuelle Favoritin unter den zehn besten Neulingen—ein Wunderkind in einem Raum voller zehn- bis vierzehnjähriger Mitstreiterinnen, die die Schwerkraft besiegen, während sie sich in vier Metern Höhe um eine Stange drehen.

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Viele finden die Vorstellung, dass sich präpubertäre Mädchen an ein Sportgerät schwingen, das in der Regel vor allem mit Strippern in Verbindung gebracht wird, extrem abschreckend. Aus diesem Grund hat der Sport auch Probleme dabei, als Breitensport anerkannt zu werden—und allein die Tatsache, dass es den Kinder- und Jugendverband gibt, führt immer wieder zu großen Meinungsverschiedenheiten. Die Poledance-Gemeinschaft besteht allerdings nachdrücklich darauf, dass Poledance kein Synonym für „strippen" ist. Der Sport erfordert viel Training und ein hohes Maß an Fertigkeiten, die man von Leistungsturnern oder professionellen Tänzern kennt—zwei Disziplinen, die nicht als sexuell aufgeladen gelten. Und tatsächlich hat der Großteil der Athletinnen, mit denen ich während dem Wettbewerb spreche, früher geturnt oder kommt aus dem zeitgenössischen Tanz oder Calisthenics.

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Früh am Morgen treffe ich mich mit der 39-jährigen IPSF-Präsidentin Katie Coates—einer Powerfrau in High-Heels und Bleistiftrock—am Eingang des Crystal Palace National Sports Centre in London. Sie führt mich herum. Coates ist das Herz der Pole-Sport-Bewegung und führt unter anderem auch die Verhandlungen, bei denen entschieden werden soll, ob Poledance eine Olympische Sportart wird oder nicht. Ich erzähle ihr, dass ich total begeistert von einem ihrer Online-Videos bin, in dem sie zuerst zu Tchaikovskys Schwanensee tanzt, bevor sie nahtlos zu David Guettas „Love Don't Let Me Go" übergeht. Sie hingegen scheint sich eher dafür zu schämen: „Nein! Ich wünschte, ich könnte das verschwinden lassen."

Amerikanische Fans. Alle Fotos: Alice Zoo

In der Halle treffe ich auf unzählige Mädchen in Team-Trainingsanzügen und ihre Trainer, die noch einmal die ausgefeilten, schmerzhaft wirkenden Frisuren der Mädchen festziehen oder noch etwas klebrigen Himbeer-Lipgloss auftragen, während über die Lautsprecher alte J-Lo-Songs dröhnen. Nebenbei höre ich, wie Eltern ihren Kindern versprechen, ihnen was an den Ständen zu kaufen, die sich im Eingangsbereich aufreihen. Die Outfits, die dort verkauft werden, sind greller und mit mehr falschen Diamanten besetzt als Chers Wohnsitz in Las Vegas. Wäre da nicht das Versorgungszentrum speziell für Poledance-Verletzungen mit einem eigenen Bereitschaftssanitäter, könnte man meinen, man wäre bei irgendeiner x-beliebigen Turn- und Tanzveranstaltung.

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An den Ständen wird Poledance-Merchandise verkauft.

Auch wegen all des Glitters ist der Pole-Sport in einer eher ungünstigen Lage—zumindest noch. „Die Leute glauben, dass alles sexualisiert wird", erklärt Coates, „was uns auch für Sponsoren unattraktiv macht. Sie wollen kein Risiko mit uns eingehen." Die IPSF ist komplett selbstfinanziert. Die Athleten wie auch die Mitarbeiter investieren hierfür ihre Freizeit und ihr Erspartes.

Coates erzählt, dass sie ihren Vollzeitjob gekündigt hat und sich jetzt sechs Tage die Woche um den Erfolg der IPSF kümmert. „Wir glauben alle fest an das, was wir tun und an unsere Ziele", sagt sie über ihr Team. „Das ist das Ding am Poledance. Man verliebt sich so sehr in diesen Sport, dass man alles andere dafür aufgeben würde."

Der Pole-Sport wird generell oft missverstanden. Darunter haben die jungen Poledance-Athletinnen am allerschlimmsten zu leiden. Erst vor Kurzem wurde in einem Beitrag einer britischen Fernsehshow darüber diskutiert, ob Pole-Fitness kindgerecht ist. Hierzu wurde unter anderem auch ein Pole-Dance-Trio gezeigt, das in der konservativen Tagespresse Schlagzeilen gemacht und zu wütenden Reaktionen auf Twitter geführt hat. Gegner sagen, dass Poledance junge Mädchen sexualisieren würde und dass der Sport aufgrund seiner Entstehungsgeschichte nicht für Minderjährige geeignet wäre. Die Pole-Sport-Vereinigung reagierte darauf und meinte, dass die zukünftige Generation der Pole-Sport-Athleten „gefeiert" werden sollte. Was auch immer man nun darüber denken mag, das internationale Interesse an den Kindern, die Poledance machen, ist riesig: Dieses Video des 8-jährigen ukrainischen Wunderkinds Emily Moskalenko beispielsweise wurde über 30 Millionen mal angeklickt.

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Auch Balow hatte bereits mit Anfeindungen zu kämpfen, die viele Eltern von minderjährigen Poledancern erleben. „Manche Menschen werden ihre Meinung dazu wohl nie ändern. Sie sind entweder total engstirnig und können es nicht als das betrachten, was es ist, oder aber sie haben im Leben irgendetwas erlebt, was sie davon abhält. Meine Schwester zum Beispiel möchte sich ihre Auftritte nicht ansehen und auch nicht darüber sprechen, obwohl sie Paige über alles liebt. Das liegt daran, dass ihr Mann sie betrogen hat und in Stripclubs gegangen ist und das verbindet sie jetzt natürlich auch mit Poledance."

Paige Olson und ihre Mutter Jennifer Balow.

„Es macht Spaß", antwortet Olson schüchtern, als ich sie frage, was sie am meisten an Poledance mag. Sonst noch was? „Ich weiß nicht." Sie dreht sich fragend zu ihrer Mutter um.

„Wir versuchen immer eine Figur zu Paiges Musik zu erschaffen", sagt Balow und wechselt das Thema. „Heute ist sie ein Vogel. Siehst du die Federn?"

Ich habe den Eindruck, dass Coates nicht die Einzige ist, für die Poledance ein alles konsumierender Hobby ist. Olson trainiert an sechs Tagen die Woche jeweils drei Stunden. „Zwischen dem Training unterrichte ich sie zu Hause, gehe arbeiten und kümmere mich um den Haushalt—das ist alles", seufzt Balow. „Ich mache nichts. Ich habe kaum Zeit für mich."

Balow—eine bescheiden wirkende Frau mit denselben mandelförmigen Augen wie ihre Tochter—wird überraschend emotional. „All ihre Auftritte", sagt sie und versucht ihre Tränen zu unterdrücken, „fühlen sich an, wie die längsten drei Minuten meines Lebens. Das rührt mich zu Tränen. Ich bin so stolz."

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Annika vor ihrem Auftritt.

Am anderen Ende des Raums treffe ich die 13-jährige Annika Winkler aus Sachsen. Sie lächelt fröhlich, während wir miteinander sprechen, obwohl ihre Haare—ein Haufen Kunsthaar voller Gummibänder—aussehen, als wären sie qualvoll streng nach hinten geflochten. Ihr Bruder übersetzt und sagt mir, dass sie um 6 Uhr morgens aufgestanden ist, damit ihre Trainerin noch eine Stunde an ihren Haaren arbeiten konnte. „Wenn ich älter bin, möchte ich Pole-Sport-Trainer werden", sagt sie mir, „oder in einer Bäckerei arbeiten."

Während einem Auftritt.

Bevor der Wettbewerb beginnt, heizt Deb Roach die Menge an. Ihre Routine sieht aus, als würde sie mit ihrem Körper Tetris spielen, was durch die Tatsache, dass Roach nur einen Arm hat, noch beeindruckender wird. (Roach wurde mit einer Behinderung geboren.) Nach langem Applaus folgt die erste Teilnehmerin—ein zierliches japanisches Mädchen um die elf Jahre. Sie klettert bis an die Spitze der Stange und lässt sich mit Schwung vier Meter nach unten fallen. Man hört den metallischen Klang der Stange, während sie nach unten rutscht. Kurz vor dem Boden bremst sie gekonnt ab.

Jede Routine beinhaltet eine obligatorische Bodenkür, welche zum Endergebnisses gezählt wird. Ich bin überrascht, welche Ähnlichkeiten Poledance und rhythmische Gymnastik haben: die überstreckten Gliedmaßen, die ausgebreiteten Arme, die eleganten, schwungvollen Zehenbewegungen. An der Stange macht sie langsame, grazile Drehungen und achtet dabei ganz besonders auf die kontrollierte Ausführung. Ihre Beine und ihre Körpermitte sind die ganze Zeit über fest angespannt. An einem Punkt balanciert sie an der Stange und nutzt hierzu nur ihren Nacken und ihre Ferse. Das gesamte japanische Team, darunter auch eine Frau, die angezogen ist wie eine Geisha und sich die Nationalflagge in die Haare gesteckt hat, feuert sie bei jeder ihrer Bewegungen und jedem Trick an.

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Zoe Blair.

Die dreizehnjährige Zoe Blair hat rote Haare und trägt einen Trainingsanzug sowie eine Brille. Sie sieht nachdenklich vom Publikum aus zu. Sie ist gestern angetreten, hat es aber nicht bis ins heutige Finale geschafft. Das scheint ihr jedoch nichts weiter auszumachen. „Ich fühle mich großartig, wenn ich Poledance mache. Im wahren Leben bin ich eigentlich viel schüchternen und zurückhaltender, aber beim Poledance gehe ich aus mir heraus. Das pusht mich ziemlich."

Die Jury gibt ihre Wertung bekannt. Das japanische Team wirkt enttäuscht. Ich frage Blair, was ihre schwierigste Figur ist. „Ich kann den Rainbow Marchenko, aber das finde ich gar nicht so schwer. Das ist eine Bewegung, für die es einen Punkt gibt. Das sollte eigentlich ziemlich schwer sein, aber das finde ich gar nicht. Aber ich habe Probleme mit Chopsticks, obwohl es dafür nur 0,6 Punkte gibt." Laut der Punktevergabeskala des IPSF wird jede Figur nach ihrem technischen Schwierigkeitsgrad bewertet und je höher die Punktezahl ist, desto schwieriger ist sie. Sie macht eine kurze Pause. Dann sagt sie sichtlich ernst: „Diese eine Figur kriege ich einfach nicht hin."

Ein anderer Auftritt.

Während ich mir die Auftritte ansehe, überkommt mich ein Gefühl der vollkommenen körperlichen Unzulänglichkeit—als wäre ich in einem Abspecklager, das von Victoria's Secret-Models geleitet wird. Ein Mädchen in einem glitzernden Trikot krabbelt die Stange mit gespenstischer Leichtigkeit nach oben und posiert dort wie eine Gottesanbeterin. Sie zeigt zum Publikum, macht ein ernstes Gesicht und stürzt sich nach unten. Ungefähr drei Zentimeter über dem Boden kommt sie zum Stehen.

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Ich fange immer mehr an, die Choreografien hinter Poledance zu verstehen. Die Routinen beginnen in der Regel mit einem sehr dynamischen Element, um seine Beweglichkeit und Flexibilität zu demonstrieren. Danach wechselt die Teilnehmerin an die zweite Stange und führt dort langsamere Bewegungen aus, um zu zeigen, wie viel Kraft sie hat und dass sie die Bewegungen kontrolliert ausführen kann.

Wettbewerbsteilnehmerinnen.

Irgendwann kommt Olson auf die Bühne, um ihre an einem Vogel inspirierte Routine vorzuführen. Sie besiegt die Schwerkraft mit einer trägen Leichtigkeit—eine Mischung aus der Beweglichkeit eines jungen, modernen Neos und der Schwerelosigkeit eines Helden aus einem Christopher-Nolan-Film. Schräg neben mir sitzt Balow. Während ich sie heimlich beobachte, erinnere ich mich daran, dass sie gesagt hat, die Auftritte ihrer Tochter wären für sie die längsten drei Minuten ihres Lebens. Ganz oben an der Stange angekommen, nimmt Olson eine Pose ein und breitet ihre Flügel aus, als würde sie jeden Moment abheben.

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Nach dem Auftritt setzen sich Olson und ihre Mutter auf ein paar Plastikklappstühle und warten auf die Wertung der Jury. Sie hat einen neuen Weltrekord aufgestellt: 47.25 Punkte. Das ist noch besser, als es sich die beiden erhofft hatten. Olson bricht in Tränen aus. Zum ersten Mal bemerke ich, dass auch Olsons Vater zugesehen hat. Er sitzt ganz ruhig neben den anderen in der Halle. Ich frage ihn, wie er den Sieg seiner Tochter feiern wird.

Kostüme für die Erwachsene.

„Sie liebt Donuts. Vielleicht hole ich ihr einen."