Sex

So hat man tollen Sex als Autistin

"Wir legen Metall in den Kühlschrank und benutzen es tantrisch. Ich finde, das entspannt meine Sinne."
Die Illustration ist bunt und zeigt zwei ineinander geschlugene Menschen. In dem Text geht es um Sex mit Autismus.
Illustration: Cath Virginia

Auch wenn sich Gespräche über Autismus meistens darauf konzentrieren, was Menschen mit Autismus schwerfällt, glaube ich fest daran, dass ich durch meinen Autismus in so ziemlich allem, was ich tue, besser bin – und dazu gehört auf jeden Fall auch Sex. Die Regeln zwischenmenschlicher Beziehungen waren für mich nicht immer offensichtlich. Also habe ich alles darüber gelesen, wie ich eine phänomenale Partnerin sein kann. Und dass ich hochsensibel auf bestimmte Reize reagiere, ist im Schlafzimmer oft sehr nützlich: Manchmal ist es schon erregend, wenn ich Atem auf meiner Haut spüre. 

Anzeige

Auch bei VICE: Giftiges "Was meine Abtreibung mit mir gemacht hat: Drei Frauen erzählen


Autismus wurde bei mir erst mit 31 Jahren diagnostiziert. Es wäre schön gewesen, bereits zu wissen, dass ich autistisch bin, als ich anfing, Sex zu haben. Dann hätte ich verstanden (und akzeptiert), dass meine Sexualität nicht genauso funktioniert wie die aller anderen. Ich hätte zum Beispiel verstanden, dass die irrationale Wut, die in mir aufkommt, wenn man mich leicht berührt, nicht unbedingt auf, sagen wir mal, ein Kindheitstrauma zurückzuführen ist. Für Menschen mit Autismus kann Wut oder Entsetzen als Reaktion auf eine Sinneswahrnehmung ganz einfach ein Zeichen von Reizüberflutung sein.

Autistische Menschen haben, genau wie neurotypische (das heißt nicht autistische), jeden Tag tollen Sex, aber viele von uns könnten wahrscheinlich noch besseren Sex haben, wenn wir Ratschläge bekämen, die speziell auf uns zugeschnitten sind. Deshalb sind hier einige Tipps von Menschen mit Autismus, von Fachleuten und Personen, die in beide Kategorien passen. So wird dein Sexleben unglaublich, wenn du im Autismus-Spektrum bist – oder wenn du einem autistischen Menschen gegenüber einfühlsamer sein willst.

Sinneswahrnehmungen beim Sex berücksichtigen und genießen

Viele Menschen mit Autismus sind hochsensibel. Sie reagieren stark auf das, was sie hören, sehen, fühlen, schmecken oder riechen. Im Schlafzimmer kann das dazu führen, dass eine autistische Person sowohl auf An- als auch Abturner sehr empfindlich reagiert. "Manchmal spüre ich meine Emotionen mit jeder Zelle meines Körpers. Wenn das also eine positive oder euphorische Emotion ist, kann das fantastisch sein", sagt Lauren Megrew, eine autistische Psychologin und Psychotherapeutin.

Anzeige

Wenn du diese ausgeprägtere Empfindsamkeit hast, wirst du eventuell schnell von unangenehmen Gefühlen und Gedanken abgelenkt. Wie schon erwähnt, gefallen manchen Menschen mit Autismus bestimmte Empfindungen nicht, wie zum Beispiel sehr sanft gestreichelt zu werden. "Es ist ihnen unangenehm oder macht sie sogar wütend", sagt Christine Henry, eine Psychologin, die mit autistischen Erwachsenen arbeitet. Außerdem könnten sie nach hochsensiblen Eindrücken außerhalb des Schlafzimmers etwas Hilfe brauchen, sich zu entspannen und in die Stimmung für Sex zu kommen. "Vielleicht haben sie eine Reizüberflutung davon, dass sie in der Nähe eines lauten Arbeitskollegen waren, der ein starkes Parfüm trug", sagt Henry. "Wenn sie nach Hause kommen, brauchen sie vielleicht etwas Abstand, um sich von der Überreizung zu erholen, und weisen jeden sexuellen Annäherungsversuch zurück."

Wenn dir bestimmte Sinnesreize schwerfallen oder du Zeit brauchst, um dich von einer Reizüberflutung zu erholen, teile das deinem Gegenüber mit. Lauren Megrew schlägt diesen Satz vor: "Ich bin auf jeden Fall dabei, aber ich brauche noch fünf Minuten, weil sich mein Kopf noch nicht beruhigt hat."

Einigen Menschen mit Autismus fällt das vielleicht nicht sofort leicht. Manchen von uns sei von klein auf beigebracht worden, unsere natürlichen Neigungen und Gefühle zu unterdrücken, um uns anzupassen (eine Strategie, die als Masking, engl. maskieren, bekannt ist), erklärt der autistische Sexualpädagoge Jack Duroc-Danner. Wenn wir jedoch lernten, mit unseren Partnern "offene, direkte Gespräche über unsere Bedürfnisse" außerhalb des Schlafzimmers zu führen, können wir ihnen helfen, mit etwaigen Besonderheiten umzugehen, sagt er. So stünden wir nicht unter dem Druck, alles sofort ansprechen zu müssen. Duroc-Danner empfiehlt, "von der Performance zum Vergnügen überzugehen" – in anderen Worten, "sich nicht darauf zu konzentrieren, wie es aussehen sollte, sondern darauf, wie du möchtest, dass Intimität sich anfühlt."

Anzeige

Wissen, wann man beim Sex planen und wann man sich einfach treiben lassen sollte

Bei manchen Menschen wirkt sich Autismus auf die Bewegungskoordination aus. Deshalb sei beim Sex manchmal bewusste Planung erforderlich, sagt Duroc-Danner. Einigen fallen zum Beispiel koordinierte Bewegungen schwer, oder sie wissen nicht genau, wo ihre Arme und Beine im Vergleich zum Rest ihres Körpers oder dem ihres Gegenübers sind. Es könne helfen, "Leute wissen zu lassen, wie du deinen Körper bewegen wirst, bevor du ihn bewegst", sagt Duroc-Danner. Außerdem empfiehlt er, sich langsam und bewusst zu bewegen.

Während Planung in manchen Situationen gut ist, können autistische Menschen sich so sehr in ihren Plänen verstricken, dass es ihnen schwerfällt, im Moment zu leben. "Ein anderes Thema, das für Kummer sorgen könnte, ist wenn sich jemand Sex oder Intimität auf eine bestimmte Art vorstellt und dann frustriert ist, wenn es nicht läuft wie vorhergesehen" sagt Henry. Wenn eine Person zum Beispiel, vielleicht wegen Pornofilmen, denkt, dass ihr oder ihrem Gegenüber eine bestimmte Art der Stimulation gefallen müsse, und das dann nicht so ist, kann sie das durcheinanderbringen.

Das kann jedem Menschen passieren, ob er autistisch ist oder nicht, aber Unberechenbarkeit im Schlafzimmer kann für Personen mit Autismus besonders schwer sein, da sie kognitiv inflexibel sind, ihre Einstellung also nur sehr schwer ändern können. Diese Inflexibilität geht wahrscheinlich auf die ständige Reizüberflutung zurück, die das Bedürfnis auslöst, die Kontrolle zu bewahren, wie Jack Duroc-Dammer erklärt. "Eine Folge der abweichenden Wahrnehmung und Motorik kann das Gefühl sein, dass der eigene Körper, andere Körper und die Welt nicht sicher und vorhersehbar sind", sagt er.

Anzeige

"Wenn mein Partner zu spät kommt, ich eine Kerze umwerfe, es chaotisch wird, das Timing nicht stimmt, oder was auch immer noch schiefgehen kann, krieg ich die Krise" sagt Rose Lauren Hughes, eine 29-jährige, autistische Spezialistin für Neurodiversität und Behinderung in Belgien. In solchen Fällen hilft es, sich daran zu erinnern, dass Sex fast nie so läuft wie geplant, und dass das OK ist (es ist sogar ein Grund, weshalb Sex so toll ist). Henry gibt den Tipp, sich daran zu erinnern, "dass es beim Sex kein festgelegtes Drehbuch gibt, und Leute in allen möglichen Varianten Sex haben". Wenn du also Pläne schmiedest, rechne auch damit, dass du überrascht werden wirst.

Du kannst Motive kognitiver Inflexibilität auch selbst beim Sex einbauen. So äußert sich diese oft als Bedürfnis nach einem strukturierten Zeitplan, was zu Bedenken darüber führen kann, wie lange der Sex dauert. "Ich habe mich auf eine Art Rollenspiel eingelassen, bei dem wir einen Timer benutzt haben. Das hat mir Spaß gemacht … die Zeit festzulegen und die Grenze zu kontrollieren", sagt Hughes. "Wenn ich sexuelle Aktivitäten genießen möchte, bevor ich irgendwo hin muss, sage ich, ‘OK, wir haben zehn Minuten’, und bitte Google, einen Wecker zu stellen. Die Situation wird dann intensiver, weil es ein Wettlauf gegen die Zeit ist. Aber es ist immer spielerisch, nicht übermäßig angeleitet!"

Angstauslöser beim Sex minimieren

Viele Leute haben Schwierigkeiten, beim Sex einen klaren Kopf zu behalten und sich zu konzentrieren. Das kann für Menschen mit Autismus besonders schwierig sein, weil ihr Verstand Überstunden leistet, um viele Informationen auf einmal zu verarbeiten, sagt Lauren Megrew.

Anzeige

Rose Lauren Hughes beschreibt ihren inneren Dialog beim Sex so: "Gerüche, Beleuchtung, Temparatur. Habe ich mich rasiert? Bin ich aufgebläht? Muss ich pinkeln? Rieche ich? Habe ich meine Zähne geputzt? Ist etwas in der Nähe, um mich sauber zu machen? Meine Schuhe in der Ecke stehen nicht ordentlich da … Das geht in meinem Kopf vor, obwohl es eigentlich heißen sollte: Ohh, das fühlt sich gut an."

In solchen Situationen findet Hughes es manchmal hilfreich, sich die Augen zu verbinden. "Wenn ich meine Augen schließe, besteht kein Risiko, von irgendwas abgelenkt zu werden", sagt sie und ergänzt, dass ihr Stellungen gefallen, bei denen sie von ihrem Gegenüber abgewandt ist. "Augenkontakt ist mit meinem Autismus richtig schwierig", erklärt Hughes, weshalb sie die starken Reize, die er für sie darstellen könne, lieber vermeide.

Manche Menschen mit Autismus finden bestimmte Stimuli wie Texturen oder Gerüche beruhigend, wenn sie sehr nervös oder ängstlich sind. Diese Menschen zieht es vielleicht auch zu BDSM. "Viele Leute benutzen Seile, weil ihnen gefällt, wie sie sich anfühlen", sagt Duroc-Dammer. Auch die Textur von Spielzeugen wie Federkitzlern oder Peitschen gefällt vielen.

Rose Lauren Hughes sagt, dass kalte, harte Oberflächen ihr Zaubermittel seien: "Wir legen Metall in den Kühlschrank und benutzen es tantrisch. Ich finde, das entspannt meine Sinne."

Eine andere Methode, mit der autistische Menschen sich beruhigen, ist, dasselbe Lied auf Repeat zu hören. Diese Strategie könne man auch beim Sex nutzen, sagt Lauren Megrew. Sie empfiehlt, eine Playlist mit nur ein paar wenigen sexy Lieblingsliedern zu erstellen, vielleicht ohne Text, um möglichst wenig Ablenkung zu schaffen. "Es ist eine Art Präventivschlag", sagt sie. "Wenn ich weiß, dass mein Gehirn von allem Möglichen, das ich höre, abgelenkt sein wird, spiele ich ihm lieber etwas vor, das es bei der Sache bleiben lässt, bei der ich sein möchte."

Anzeige

Über Erwartungen sprechen – oder sich von ihnen lösen

Wie alle anderen auch können autistische Personen davon profitieren, mit den Leuten, mit denen sie Sex haben, offene Gespräche über Erwartungen zu führen. Dadurch lassen sich auch Kommunikationsfehler vermeiden, die durch Schwierigkeiten bei der Einordnung zwischenmenschlicher Signale entstehen können. "Ich rede gerne über Sex, bevor ich ihn habe", sagt Rose Lauren Hughes. "Jede Person, ob neurodivers oder nicht, hat persönliche Vorlieben. Mir ist einfach klar geworden, dass ich meine Bedürfnisse verstehen und ausdrücken muss, wenn ich eine optimale Erfahrung haben möchte."

Diejenigen, die nicht genau wissen, wie sie sich in sozialen Situationen verhalten sollten, begrüßen es vielleicht, wenn es eine Art Struktur gibt, an der sie sich orientieren können. Noch ein Grund, weshalb BDSM praktisch sein kann. Lauren  Megrew empfiehlt BDSM manchmal autistischen Personen, die beim Sex einem Skript folgen möchten. "Eine der Sachen, die meinem Gehirn schwerfallen, ist, wenn ich nicht weiß, welche Erwartungen an mich gestellt werden", sagt sie. "Wenn ich die Rolle der dominanten oder unterwürfigen Person spiele, gibt es sehr klare Erwartungen daran, was ich zu tun habe und wie."

Dass Menschen mit Autismus sich nicht an irgendwelche sozialen Erwartungen halten, kann positiv sein. Es erlaubt ihnen, Sex zu haben, wie auch immer es ihnen gefällt und sich frei auszudrücken. "Wir autistischen Menschen sind sehr direkt und offen", sagt Amy Gravino, die sich für Autismus und Sexualität einsetzt. "So befremdlich das anfangs sein kann, es hat Vorteile. Als es mir irgendwann besser gelang, mich zu behaupten, wurde es eine Stärke, sagen zu können, "Ja, mehr, schneller’ oder ‘Das gefällt mir nicht.’"

Ich persönlich finde soziale Interaktionen oft unangenehm, und deshalb liebe ich die Art, wie ich mich beim Sex völlig in Einklang mit jemand anderem fühle. Für Menschen mit Autismus, die mit Beziehungen so ihre Schwierigkeiten haben, kann Sex sogar eine heilende Erfahrung sein, durch die sie mit anderen in Verbindung treten und sich ihnen nahe fühlen können. “Oft vermeiden neurodivergente Menschen bestimmte sinnliche Erfahrungen, aber wir können sie auf positive Weise neu lernen", etwa durch Sex, sagt Michelle Hunt, eine Psychotherapeutin mit dem Schwerpunkt Autismus. "Wenn wir lernen, dass Berührungen beim Sex von jemandem ausgehen, den wir lieben, können wir sie durch die positive Assoziation umdeuten. Zum Beispiel: ‘Ich werde nicht gerne angefasst – aber wenn es eine mir nahestehende Person ist, ist es in Ordnung.’"

Wie auch immer deine persönlichen Wünsche und Vorlieben aussehen, sie zu akzeptieren ist der Schlüssel für ein befriedigendes Sexleben, ob du autistisch bist oder nicht. "Es geht vor allem darum, dass deine Begierden bestätigt werden, damit du weißt, du bist OK, alles an dir ist in Ordnung", sagt Amy Gravino, "und einen Partner zu finden, der bereit ist, zuzuhören."

Folge VICE auf TikTok, Facebook, Instagram, YouTube und Snapchat.