„Im Spiegel sah ich ein Monster”: Das Leben mit einer Körperschemastörung
Illustration by Vivian Shih

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Psychologie

„Im Spiegel sah ich ein Monster”: Das Leben mit einer Körperschemastörung

Menschen, die unter einer Körperschemastörung leiden, achten zwanghaft auf die vermeintlichen Makel ihres Körpers. Das kann zu Depressionen oder sozialen Ängsten führen—und im schlimmsten Fall sogar zu Selbstmordgedanken. Wir haben Experten gefragt...

Mit 26 Jahren wollte Natalie* Schauspielerin werden. Nach einigen erfolglosen Vorsprechen fing sie jedoch an, den Glauben an sich selbst zu verlieren. „Ich dachte, es läge an meinem Aussehen", erinnert sie sich. „Ich fing an, mich hässlich zu fühlen und alles an mir zu hassen. Ich hasste meine Taille, meine Haare, meine Hautfarbe, meine Größe … Es war schrecklich." Mit der Zeit wurden ihre negativen Gedanken immer zwanghafter, bis sich Natalie irgendwann nur noch auf ihre vermeintlichen Makel konzentrieren konnte.

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Sie entwickelte starke soziale Ängste. Wenn sie es überhaupt mal schaffte das Haus zu verlassen, zog sie sich weite Kleidung an und versuchte, ihr Gesicht zu verstecken. „Ich war davon überzeugt davon, dass mich die anderen genauso sahen, wie ich mich selbst sah", erklärt sie. „Irgendwann kam ich an den Punkt, dass ich über Selbstmord nachdachte. Ich habe mir selbst gesagt: ‚Ich bin depressiv. Ich hasse meinen Körper. Ich muss zum Arzt. Und wenn das nicht hilft, wird mir überhaupt nichts mehr helfen können. Ich bin nicht hübsch genug, um zu leben."

Die Notfalltelefonseelsorge empfahl Natalie, sich einen Therapeuten zu suchen. Kurz darauf wurde bei ihr eine Dysmorphophobie—auch Körperschemastörung genannt—diagnostiziert. Laut Angaben des Deutschen Ärzteblatts geht man davon aus, dass 0,7 bis fünf Prozent der deutschen Normalbevölkerung unter einer Körperschemastörung leiden. Einige Experten glauben allerdings, dass die Prävalenz deutlich höher sein könnte und man von einer hohen Dunkelziffer ausgehen muss. Bei einer Körperschemastörung handelt es sich um eine Wahrnehmungsstörung, bei der die Betroffenen auf ein eingebildetes, negatives Körperbild fixiert sind und sich exzessiv damit beschäftigen. In vielen Fällen hat das schwere emotionale Probleme zur Folge und kann auch dazu führen, dass die Betroffenen Schwierigkeiten im Alltag haben. Häufig beobachtet man bei Betroffenen abnorme Gewohnheiten wie das Quetschen und Kratzen bestimmter Hautstellen, exzessives Bräunen, das unentwegte Bedürfnis nach der Bestätigung anderer und eine starke Fixierung auf Körper- und Kopfhaare.

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Obwohl Studien festgestellt haben, dass Männer und Frauen gleich stark von der Wahrnehmungsstörung betroffen sind, gibt es dennoch Unterschiede bei der Prävalenz bestimmter Typen von Körperschemastörungen: Frauen sind meist stärker auf ihre Hüften, ihr Gewicht, ihre Haut und auf das Überdecken von Makeln mit Makeup fixiert. Männer legen dagegen einen stärkeren Fokus auf ihren Körperbau (was oft zu Muskeldysmorphie führt), ihre Genitalien und dünner werdendes Haar. In den schlimmsten Fällen werden Menschen aufgrund der Körperschemastörung arbeitsunfähig und können weder zur Arbeit noch zur Schule gehen. Außerdem sind viele aufgrund der lähmenden Angst, wegen ihrem Aussehen verurteilt oder ausgelacht zu werden, nicht in der Lage, soziale Kontakte zu pflegen, auszugehen oder überhaupt nach draußen zu gehen.

„An Tagen, an denen Menschen, die unter einer Körperschemastörung leiden, das Gefühl haben, dass sie besser aussehen, wirkt die Welt in ihren Augen auch sicherer ", erklärt Scott Granet, Direktor der OCD-BDD Clinic in Kalifornien, im Telefonat mit Broadly. „Das ist etwas, worüber ich mit vielen meiner Patienten spreche: dass es bei einer Körperschemastörung um eine Form von Sicherheit geht. All die Energie, die sie in ihr Aussehen stecken, dient oft nur dazu, dass sie sich sicherer fühlen."

Obwohl eine Körperschemastörung dazu führt, dass sich Menschen zwanghaft mit ihrem Äußeren beschäftigen, betonen Experten, dass sich die Störung längst nicht nur auf das Äußere bezieht. Wer unter einer Körperschemastörung leidet, hat oftmals Schwierigkeiten, Beziehungen aufrecht zu erhalten und neigt dazu, bestimmte Körperteile, die in den Augen des Betroffenen mangelhaft sind, mit Make-up oder einer Extraschicht Kleidung zu kaschieren (sogenannte „Sicherheitsverhalten"). Ein solches zwanghaftes Verhalten ist zeitraubend, repetitiv und stammt meist von dem Bedürfnis, die negativen Gedanken in Bezug auf die eigene äußere Erscheinung abzuschwächen. „Das hat nichts mit Eitelkeit zu tun", sagt Granet. „Es geht rein ums Überleben. Die meisten Menschen mit einer Körperschemastörung haben überhaupt nicht das Bedürfnis, perfekt auszusehen—sie wollen einfach nur nicht negativ auffallen."

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Ich hasste meine Taille, meine Haare, meine Hautfarbe, meine Größe … Es war schrecklich.

Dr. Ari Winograd, Gründer und Direktor der Body Dysmorphic Disorder & Body Image Clinic in Los Angeles, glaubt, dass Menschen, die unter einer Körperschemastörung leiden, nicht einfach nur das Bedürfnis nach Anpassung haben, sondern auch unter der tiefgreifenden Scham ihrer vermeintlichen Makel leiden. „Meiner Meinung nach ist Dysmorphophobie keine Form von Angststörung", sagt Winograd. „Die Betroffenen haben zwar Angst, aber eigentlich beruht die Störung vor allem auf Scham. Menschen mit einer Körperschemastörung haben Angst, weil sie nicht gedemütigt werden wollen."

Der Großteil der Betroffenen entwickelt diese Unsicherheit und diese Scham in der Jugend und in den frühen Teenagerjahren, wenn Kinder am anfälligsten für das Urteil von Gleichaltrigen sind. Die genaue Ursache einer Körperschemastörung ist bisher zwar noch nicht bekannt, Ärzte gehen aber davon aus, dass Anomalien im Gehirn, Gene und Umweltfaktoren, wie Bilder in den Medien und unsere kulturelle Fixierung auf Äußerlichkeiten, Faktoren sind, die dazu beitragen können, dass Menschen Schwierigkeiten mit ihrem Selbstbewusstsein haben und beginnen, sich auf einen oder mehrere vermeintliche Makel zu konzentrieren.

Matt*, ein ehemaliger psychiatrischer Pfleger, hat Anfang der 90er-Jahre als Teenager unter einer Körperschemastörung gelitten, die mit seinen Haaren begann. Bei Männern ist das recht häufig und hängt oft damit zusammen, dass sie Angst davor haben, eine Glatze bekommen. Deswegen verstecken viele Betroffene ihre Haare unter Mützen, Haarteilen, Perücken und Kopftücher oder lassen kosmetische Eingriffe und Haartransplantationen vornehmen. Darüber hinaus gibt es viele betroffene Männer, die auf ihre Gesichtsbehaarung fixiert sind oder darauf, dass sie zu viel oder zu wenig Körperbehaarung haben—weswegen sie sich andauernd rasieren, wachsen oder die Haare auszupfen. Das kann nicht nur sehr zeitaufwendig sein, sondern auch zu Infektionen, Deformationen und Narben führen.

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Matt fing schon während seinem letzten Schuljahr an, sich mit seinen Haaren zu beschäftigen und verbrachte Stunden vor dem Spiegel. Er verunsicherte ihn, wenn seine Haare durcheinander waren, also fing er an, sie bis zur Perfektion zurecht zu zupfen. Nach seinem Abschluss zog er wieder zurück in seinen Heimatstaat Utah. Matts Symptome entwickelten sich in dieser Zeit zu einem ausgewachsenen Zwang. „Im Spiegel habe ich ein Monster gesehen, ein Zerrbild meiner eigentlichen Erscheinung", sagt er. „Mir wurde klar, dass ich immer wieder ins Badezimmer ging und mich auf nichts anderes mehr konzentrieren konnte. Ich konnte mich einfach nicht vom Spiegel lösen."

Nach kurzer Zeit wurde es immer schlimmer und irgendwann geriet Matts Leben außer Kontrolle. „Es fing damit an, dass ich immer wieder zu spät zur Arbeit kam", erinnert er sich. „Ich konnte nicht zur Schule gehen und musste das Studium schmeißen. Die ganze Erfahrung war unglaublich lähmend. Ich war nicht in der Lage, einen Stelle über mehrere Jahre zu halten, weil ich an meinen Badezimmerspiegel gefesselt war. Das ist so peinlich. Ich war so sehr auf mein Aussehen fixiert, dass es mein komplettes Leben bestimmt hat. Ich war zu nichts mehr fähig." Matt hat sich Hilfe bei einem örtlichen Psychologen gesucht, doch der Arzt konnte ihm anfangs auch nicht helfen, weil er sich selbst nicht eingestehen konnte, dass er unter den Symptomen einer Körperschemastörung litt. „Ich habe ihm nicht viel gesagt, womit er hätte arbeiten können. Ich habe ihm ziemlich viel verschwiegen", sagt er.

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Es gibt viele Ärzte, die nicht die Erfahrung oder die Ausbildung haben, um die Anzeichen einer Körperschemastörung zu erkennen, was die Betroffenen umso verwundbarer macht. Dr. Sabine Wilhelm, Gründerin der BDD Clinic am Massachusetts General Hospital und Autorin von Feeling Good About the Way You Look: A Program For Overcoming Body Image Problems, glaubt, dass es zwar auch viele Patienten gibt, die nicht offen über ihre Symptome sprechen, das eigentliche Problem sieht sie aber vielmehr bei den zuständigen Ärzten und Therapeuten. „Viele Ärzte können die Zeichen nicht richtig deuten", sagt Wilhelm, „selbst wenn der Patient direkt vor ihnen sitzt. Als Dysmorphophobie noch nicht so bekannt war, hatte ich viele Patienten, die mir erzählt haben, dass sie schon seit Jahren in Behandlung sind, ihre Körperschemastörung aber bisher nicht diagnostiziert wurde und sie auch nie danach gefragt wurden."

In Wilhelms Augen hat es daher oberste Priorität, Ärzte und Therapeuten so zu schulen, dass sie wissen, wie man eine Körperschemastörung erfolgreich behandelt. Seit Mitte der 90er arbeitet er gemeinsam mit Katherine Phillips, der Gründerin und Direktorin des Dysmorphophobieprogramms am Rhode Island Hospital und Autorin von The Broken Mirror, an Behandlungsleitlinien, Modulen und Therapiestudien. Einer ihrer Schwerpunkte ist die kognitive Verhaltenstherapie—eine Behandlung, die Patienten dabei helfen soll, die Quelle ihrer Angst zu bestimmen und Gedanken wie „Ich bin nicht liebenswert" zu bekämpfen.

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„Bei der kognitiven Verhaltenstherapie bringen wir den Patienten bei, das Gesamtbild zu sehen", sagt Wilhelm, „und sich nicht an einem Detail aufzuhängen. Im Rahmen der Behandlung arbeiten wir auch an ihrem Selbstbewusstsein, weil ihr gesamtes Selbstwertgefühl meist an ihrer äußeren Erscheinung hängt, wenn sie zu uns kommen. Im Verlauf der Behandlung verändert sich das."

Die meisten Menschen mit einer Körperschemastörung haben überhaupt nicht das Bedürfnis, perfekt auszusehen—sie wollen einfach nur nicht negativ auffallen.

Für einige Patienten erweist sich der Ansatz mit der Verhaltenstherapie als äußerst nützlich: Jennifer* litt jahrelang unter einer Körperschemastörung, bevor sie mit der Verhaltenstherapie begonnen hat. Am Anfang waren ihre Symptome wie Depressionen und Bulimie so stark, dass sie weder zur Schule noch zur Arbeit gehen konnte. In den ersten Sitzungen hat ihr Arzt eine Methode angewendet, die sich Wahrnehmungstraining mit Spiegelfeedback nennt. Auf diese Weise sollte Jennifer eine gesündere Beziehung zu ihrem Spiegelbild aufbauen, was anschließend auf die Behandlung ihrer Körperschemastörung übertragen wurde. „Es ging viel darum herauszufinden, warum ich das Gefühl hatte, die Kontrolle haben zu müssen", sagt Jennifer. „Es geht nicht so sehr darum, was man sieht, sondern vielmehr darum, die Kontrolle über eine Situation zu haben. Entsprechend ging es auch nicht so sehr darum, dass ich erkennen sollte: ‚Oh, ich bin schön und ich bin ein guter Mensch.' Ich sollte die Ursache für meine Angst und meine Depression finden und als ich die Gründe dann gefunden habe, ging es darum, eine Lösung zu finden."

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Innerhalb der kognitiven Verhaltenstherapie gibt es noch weitere Methoden, wie eine Körperschemastörung behandelt werden kann. Hierzu gehört unter anderem die Reizkonfrontation, bei der Patienten solange mit bestimmten angstauslösenden Situationen konfrontiert wird, bis die Angst verschwindet. Hierbei sollen vor allem Vermeidungs- und Fluchtreaktionen verhindert werden. Darüber hinaus gibt es noch die Möglichkeit, Körperschemastörungen mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) zu behandeln, also mit Antidepressiva wie Citalopram, Fluoxetin, Paroxetin und Sertralin, die normalerweise verwendet werden, um schwere Depressionen und Angststörungen zu therapieren. Studien und klinische Versuche haben gezeigt, dass SSRIs ungefährlich sind und zur Folge haben, dass das Stresslevel und die Angst der Betroffenen zurückgeht und sich ihre Lebensqualität mit der Zeit deutlich verbessert—vor allem in Verbindung mit einer kognitiven Verhaltenstherapie. „In Zukunft wird es hoffentlich noch mehr Medikamentenstudien geben", sagt Phillips. „Die bisherigen Studien haben alle gezeigt, dass die Medikamente meist sehr erfolgreich eingesetzt werden können, um die Ängste und das zwanghafte Verhalten der Betroffenen zu reduzieren. Ihre Zwänge sind dann nicht mehr ganz so stark und die Angst und Selbstmordgedanken nehmen ebenfalls ab."

Jeder Experte, mit dem ich gesprochen habe, hat betont, wie wichtig es ist, die Körperschemastörung ganzheitlich zu betrachten und sich im Rahmen der Behandlung mit den zugrundeliegenden Ursachen der Störung zu beschäftigen. „Jeder Mensch, der unter einer Körperschemastörung leidet, hat eine Geschichte, obwohl sie meist sehr ähnliche Symptome haben", sagt Winograd. „Wir versuchen den Leuten aber immer klar zu machen, dass es keine 0815-Lösung gibt. Das würde nicht nur ihre persönlichen Erfahrungen herabwerten, es würde auch nicht funktionieren. Die Symptome haben bei jedem Menschen einen anderen Ursprung und unsere Aufgabe ist es herauszufinden, wer der Patient ist und ihn dann auf Grundlage dessen, wie sich seine Körperschemastörung entwickelt hat, zu behandeln."

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Da sich die Behandlungsmethoden und die Forschung ständig weiterentwickeln, ist es wichtig, ein Bewusstsein für Dysmorphophobie unter Ärzten und in der Bevölkerung zu schaffen. Die gesteigerte Medienaufmerksamkeit der letzten Jahre hat zu einem besseren Verständnis von der Entwicklung und Behandlung von Körperschemastörungen geführt, es gibt allerdings noch immer entscheidende Lücken bei der Aufklärung—sowohl bei den Behandelnden als auch bei den Betroffenen. „Ich glaube, das größte Problem ist momentan, dass die Behandlungsmethoden nicht überall verfügbar sind", sagt Wilhelm. „Das muss sich unbedingt ändern."

Genau wie Wilhelm glaubt auch Phillips, dass es viel mehr Behandlungsplätze geben und noch mehr Studien durchgeführt werden müssten. Allerdings muss hierfür erst ein gesteigertes Bewusstsein für die Menschen, die unter Symptomen einer Körperschemastörung leiden, geschaffen werden. „Wir müssen die Leute darüber aufklären, dass es wirksame Behandlungsmethoden für Körperschemastörungen gibt und ihnen damit wahrscheinlich geholfen werden kann", sagt Phillips. „Mit der richtigen Therapie oder den richtigen Medikamenten in der richtigen Dosis, ist es sehr wahrscheinlich, dass es ihnen schnell besser geht. Ich würde jedem nahelegen, es wenigstens zu versuchen."


*Namen wurden geändert.