FYI.

This story is over 5 years old.

Politik

In Russland ersetzen Untergrund-Sexpartys den fehlenden Sexualkundeunterricht

An russischen Schulen gibt es nach wie vor keinen Aufklärungsunterricht. Umso wichtiger ist die Arbeit von kleinen unabhängigen Gruppen, die die moralistische Gesetzgebung der Regierung kreativ umgehen.
Photo via Facebook

Es könnte genauso gut auch ein ganz normaler Freitagabend vor einem Theater sein. Vor einem Moskauer Veranstaltungszentrum stehen Frauen in hohen Schuhen und langen Mänteln und Männer in Anzug, die sich pärchenweise in der Schlange anstellen und leise miteinander sprechen, während die Männer ihre Hand sanft auf den Rücken ihrer Begleitung legen. Am Eingang wurde eine Frau gerade weggeschickt, weil sie in Jeans aufgetaucht ist.

Anzeige

„Aber ich wollte unbedingt rein!"

Nein.

Sie zieht ihre Jeans aus, faltete sie zusammen und steckt sie ihn ihre Tasche.

„Kann ich jetzt rein?"

Auf einem kleinen schwarzweißen Schild steht: Porn Pop Party.

Wie mir die stilvoll angezogenen Leute in der Schlange erzählen, ist es nicht so leicht, sich eine Eintrittskarte für diese Sexparty zu sichern. Die Anwärter müssen zunächst online ein Formular ausfüllen. Dann überprüfen die Veranstaltungsorganisatoren den Auftritt der Bewerber in den sozialen Medien, beurteilen die Leute anhand ihres „Looks" und sehen, ob sie gemeinsame Freunde haben.

Mehr lesen: Teenager werden von Pornos beeinflusst, finden es aber selbst nicht gut

Drinnen gibt es eine Tanzfläche, wo zwei Frauen mit Schimpansenmasken Die Antwoord spielen. In einem zweiten Raum sitzen die Gäste paarweise nebeneinander, während ihnen die 23-jährige Elena Rydkina über ein Mikrophon die Regeln erklärt.

„Berührt das Knie eures Partners."

„Jetzt zieht euch gegenseitig aus."

Neben den Frauen liegt ein Haufen Hightech-Dildos, die Bestandteil einer früheren Vorführung gewesen zu sein scheinen.

Im vergangenen Jahr haben Rydkina und ihre Freundin Tanya Dmitrieva die Gruppe Sexprosvet gegründet—ein Aufklärungsprojekt für Erwachsene mit dem Ziel, „die sexuelle Ignoranz in einem Land, in dem es keinen Sex gibt" zu beseitigen, so die Überschrift der Veranstaltung. Im Wesentlichen kümmert sich die Gruppe mit einer Reihe von Vorträgen und sexpositiven Veranstaltungen wie der Porn Pop Party um den sexuellen Analphabetismus der post-sowjetischen Gesellschaft. Grundlage der Lesungen sind Bücher wie „Ästhetische Gynäkologie und Urologie: Statistiken und soziale Anliegen" oder „Macht und Sexualität: Die Geschichte queerer Theorien." Sie organisieren aber auch Gesprächsrunden und Veranstaltungen zu Themen wie Polyamorie und BDSM, was—wie Dmitrieva sagt—in Moskau ein absolutes Tabuthema ist. Diese Bereiche der menschlichen Sexualität werden mit Kulten und Subkulturen in Verbindung gebracht wird, die den Ruf haben „pervers und verdorben zu sein—sogar unter Leuten und Familienfreunden, die ich sehr respektiere und liebe."

Anzeige

Dmitrieva ist Mitte 20 und spricht sehr schnell. Sie hat früher Mal Französisch an einer örtlichen Mittelschule unterrichtet, bevor sie schließlich zur Mitbegründerin von Sexprosvet wurde. Während der gesamten Veranstaltung rennt sie unentwegt zwischen den beiden Räumen hin und her und macht sich Sorgen wegen dem Aufbau des Fetisch-Labyrinths. Sie gibt mir ihre Visitenkarte: „Tanya Dmitrieva: Ich habe jeden Tag Sex."

Was Sex angeht, hat die Regierung einfach keine Ahnung.

Sie ist in den 90ern, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, groß geworden und denkt, dass sich viele der jungen Russen der Generation Y aufgrund der großen politischen Veränderungen in ihrer Kindheit so unwohl dabei fühlen, über Sex und Sexualität zu sprechen. „Die amerikanische Kultur ist sehr aggressiv über unsere Gesellschaft hereingebrochen", sagt sie. „Mit einem Mal haben wir überall im Fernsehen Sex gesehen, hatten in der Schule aber nie wirklich Aufklärungsunterricht."

Es gab viel zu viele Informationen und gleichzeitig auch nicht genug. Doch die aktuelle Situation ist, wie sie sagt, noch viel schlimmer. „Jetzt gibt es überhaupt keine Informationen mehr", sagt sie. „Putin ist gekommen und hat eine Politik etabliert, in der die Familie und die Kirche im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Werte stehen. Allem anderen hat er einfach einen Riegel vorgeschoben."

Die russische Regierung bietet noch immer keinen Sexualkundeunterricht in den Schulen an, trotz der steigenden Zahl an HIV-Erkrankungen. 2013 rechtfertigte Pavel Astakhov, der ehemalige Kinderbeauftragte, seine Einwände gegen den Aufklärungsunterricht in den Schulen damit, dass er sagte: „Russische Literatur ist die beste Sexualerziehung, die es gibt."

Anzeige

Sexprosvet soll aber, wie Tanya sagt, kein politischer Mittelfinger gegen die russische Politik sein, die mit aller Beharrlichkeit versucht, die Unschuld der Jugend der Nation zu bewahren. Wer an Veranstaltungen von Sexprosvet teilnehmen möchte, muss über 18 sein. „Wir halten uns an das Gesetz", sagt sie in ihrer sachlichen Lehrerstimme.

Das heißt aber nicht, dass sie das Gesetz gutheißt. „Viele der neuen Gesetze zielen nur darauf ab, uns dem Totalitarismus wieder ein Stück näher zu bringen", erklärt sie und bezieht sich damit auf das kontroverse Gesetz gegen „schwule Propaganda", das 2013 verabschiedet wurde sowie auf das neue „Big-Brother-Gesetz"—eine strenges Antiterrorgesetz, dessen Spitzname von niemand geringerem als Edward Snowden geprägt wurde.

Foto: Facebook

Sexprosvet ist zwar nicht die erste Organisation, die angesichts der moralistischen Gesetzgebung Putins versucht, ein kleines Stück sexuelle Befreiung in Moskau zu etablieren und zu fördern, sie sind für den Kampf aber besser gewappnet als ihre pornografischeren Vorgänger—jedenfalls bis jetzt. Fernab von der innerstädtischen Prunklandschaft, irgendwo in einer Sportbar außerhalb von Moskau, rollt Sergey Loginov, ein Mann Mitte 40, nur mit den Augen. „Was Sex angeht, hat die Regierung einfach keine Ahnung."

2003 stand plötzlich die Polizei vor dem Haus des selbsternannten „Erfinders der russischen Pornoindustrie." Sie haben seine Wohnung und seine Unterlagen durchsucht und haben seinen Kassettenrekorder sowie all seine Kassetten mitgenommen. Ein Moskauer Gericht hat ihn wegen der „illegalen Verbreitung" von pornografischen Inhalten unter dem Artikel 242 der russischen Verfassung—der jegliche „illegale" Produktion und Verbreitung von Pornografie verbietet—zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt. „Fantasieknast" wie es Loginov gern nennt. „Dumme, verrückte, faschistische Leute", sagt er.

Anzeige

Damit begann seine Karriere, wie er sagt. „Nachdem mich die Polizei durchsucht hat, habe ich mir gesagt: ‚Ihr versucht mich zu ficken, obwohl ich überhaupt nichts getan habe? Das nennt ihr Pornografie? Bilder von nackten Frauen sind Pornografie? Ich werde euch zeigen, was richtige Pornos sind.'" Von da an war sein Schicksal besiegelt: Allein im Jahr 2004 hat er mehr als 20 Filme produziert. „Die Polizei hat einen russischen Pornoproduzenten aus mir gemacht."

Da es in den Schulen keinen Aufklärungsunterricht gibt, stellen Pornos für junge Russen so etwas wie das Tor zu Sex und Sexualität dar. Im Laufe der 2000er-Jahre gab es mehrere Versuche, die fragwürdige Rechtsgrundlage von Artikel 242 zu klären. Die Frage war, was genau man unter dem Begriff „illegale Pornografie" versteht. Die Politiker im russischen Parlament haben die Besprechung allerdings vertagt, weil sie wussten, dass sie nicht in der Lage gewesen wären, das pauschale Verbotsgesetz, das sie sich wünschten, durchzusetzen. „Es gibt keinen Grund […] ein Gesetz zu verabschieden, das nicht funktioniert", sagte Oleg Morozov, Abgeordneter von der Partei Einiges Russland, im Jahr 2006—auch wenn er selbst der Meinung war, dass Pornografie „genauso ein Verbrechen ist wie Fremdenfeindlichkeit und Extremismus."

Um Pornografie in Russland verkaufen zu dürfen, müssen die Inhalte erst vom russischen Kulturministerium abgesegnet werden. Loginov sagt selbst, dass er 250 von der Regierung genehmigte Filme gemacht hat—mehr als sonst irgendwer in Russland, wie er behauptet.

Anzeige

In diesem Land versteht mich einfach niemand. Putin ist der Verbrecher—nicht ich.

„Es gibt nur zwei Unternehmen in Russland, die die Genehmigungen vom Ministerium haben, um legal zu arbeiten", sagt er. „Meine und die von Sergei Pryanishnikov."

Pryanishnikovs Spitzname ist „der russische Larry Flint"—vermutlich auch, weil er mehrere Jahre im Gerichtssaal verbracht hat. Er hat unter anderem die Polizei wegen illegaler Durchsuchungen und Diebstahl angezeigt und das Kulturministerium, das versucht hat, ihn wegen Titeln wie Anale Vorherrschaft oder Mutige Masturbatorin zu maßregeln.

Foto: Lisa

„Ich fand die gesetzlichen Aspekte an der Verbreitung von Pornografie sehr interessant", erzählt mir Pryanishnikov am Telefon. Der medienversierte Unternehmer lebt in Sankt Petersburg, wo er 2003 erfolglos versucht hat, als Bürgermeister zu kandidieren. Mit seiner Kandidatur hat er der Stadt damals eine sexuelle Revolution versprochen. Nichtsdestotrotz war seine vierteilige Serie Schlaflose Nächte in Sankt Petersburg, die er zu Ehren des 300. Geburtstags der Stadt gemacht hat, ein großer Erfolg.

Doch die Zeiten, in denen Pryanishnikov versucht hat, eine sexuelle Revolution zu starten, sind längst vorbei—mittlerweile ist er in der Immobilienbranche tätig. „Als ich angefangen habe [Pornos zu machen], war der Markt noch ziemlich unerschlossen", erzählt er mir, „aber die Branche ist mit dem Aufkommen des Internets gestorben. Es ist unmöglich gegen die Piraterie anzukommen."

Anzeige

Wenn es um Online-Pornografie geht, ist der Regierungswachhund Roskomnadsor zuständig und ersetzt das Kulturministerium in seiner Rolle als Moralpolizei. Ein 2012 verabschiedetes Gesetz gibt der russischen Kommunikationsbehörde das Recht, Seiten ohne richterlichen Beschluss zu sperren. Die Zensur reicht von Seiten mit kinderpornografischen Inhalten bis hin zu Seiten wie Pornhub, die vermeintlich „nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen propagieren und die Missachtung gegenüber den Eltern und anderer Familienmitglieder fördern."

Mehr lesen: „Ich akzeptiere keine Grenzen"—Nadja Tolokonnikowa von Pussy Riot im Interview

Loginov ist 150 Kilometer entfernt von Moskau aufgewachsen. Während seiner Kindheit in der Sowjetunion „war es komplett unmöglich, irgendetwas über Sex zu lesen", sagt er. „Nicht mal auf dem Schwarzmarkt konnte man was kriegen. Außerhalb von Moskau gab es das einfach nicht." Trotz seiner kurzen produktiven Phase in den 2000er-Jahren wurde auch Loginov durch den Siegeszug der Online-Pornografie dazu gezwungen, sein Glück woanders zu suchen. Seinen letzten Film hat er vor fünf Jahren gedreht—in der Wohnung direkt über der Bar, in der wir sitzen.

„In diesem Land versteht mich einfach niemand", sagt er. „Putin ist der Verbrecher—nicht ich. Wer kann anderen schon etwas über das Leben erzählen? Putin kann mir jedenfalls sicher nichts beibringen."

Anfang dieser Woche haben sich einige junge Unternehmer, darunter auch Elena Rydkina von Sexprosvet, in einem Coworking-Space im Zentrum von Moskau getroffen, um eine Podiumsdiskussion über die Zukunft von Sex zu organisieren. „Wir werden viele Experten aus der Sexindustrie da haben, die zu uns sprechen werden, aber niemanden aus der Pornoindustrie—die verstecken sich alle", erklärt Rydkina und zuckt mit den Achseln.