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Reproduktive Rechte

Von leidenden Embryonen bis Unfruchtbarkeit: Abtreibungsmythen im Faktencheck

In den Augen von Abtreibungsgegnern sind Abtreibungen eine äußerst blutige Angelegenheit, die nicht nur das Brustkrebsrisiko erhöhen, sondern auch unfruchtbar machen. Wir haben eine Expertin gefragt, was sie zu den Schauergeschichten selbsternannter...
Foto: imago | Future Image

Abtreibungen sind ein Thema, das unsere Gesellschaft spaltet. Während die eine Seite sie als wichtigen Bestandteil der Selbstbestimmung über den eigenen Körper sieht, wettert die andere leidenschaftlich gegen gewissenlose "Kindermörder" – oder wird Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika und verabschiedet inmitten anderer Menschen, die sich niemals Gedanken über ungewollte Schwangerschaften machen müssen, einfach Beschlüsse, die die reproduktiven Rechte von Frauen beschneiden.

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Ob man als Frau nun selbst abtreiben würde oder nicht, muss jeder für sich selbst entscheiden. Interessant ist allerdings: Im Geiste des postfaktischen Zeitalters hören auch Abtreibungsgegner, wenn es um die Gesundheit von Frauen und ihre reproduktiven Rechte geht, lieber auf ihr Bauchgefühl statt auf wissenschaftliche Fakten. Erschwerend kommt sicherlich hinzu, dass es Ärzten in Deutschland nach wie vor durch § 218 und 219 des Strafgesetzbuches verboten ist, öffentlich Informationen über Abtreibungen zu verbreiten. Die Abtreibungsmythen, die selbsternannte "Pro Life"-Aktivisten in die Welt setzen, klingen allerdings oft so dystopisch und düster, dass sie direkt aus einem Horrorfilm stammen könnten.

Deswegen haben wir uns einige der gängigsten Gerüchte rund um den Schwangerschaftsabbruch genauer angesehen und die Gynäkologin Dr. Meira Dühlmeyer nach ihrer Einschätzung gefragt.

Mehr lesen: Was in Deutschland mit Embryonen und Föten nach einer Abtreibung passiert

"Die Pille danach ist eine Abtreibungspille."

Das Gerücht: Es sind längst nicht nur Abtreibungsgegner, die die Pille danach immer wieder fälschlicherweise als "Abtreibungspille" bezeichnen. Eine 2016 erschiene Umfrage des Meinungsforschungsinstituts TNS Emnid ergab, dass rund 30 Prozent der Frauen im Alter von 14 bis 39 Jahren die Pille danach ablehnen, weil sie ihre Wirkung mit einer Abtreibung gleichsetzen.

Die Fakten: In Wirklichkeit ist die Umstrukturierung der Gebärmutterschleimhaut, durch die die Einnistung einer befruchteten Eizelle letztendlich verhindert werden würde, nur marginal, sagt Dr. Dühlmeyer. "Die Pille danach gibt es mittlerweile in zwei verschiedenen Wirkstoffen, die beide insbesondere eine hormonelle Verzögerung des Eisprungs bewirken. Die Verzögerung des Eisprungs ist also der eigentliche schwangerschaftsverhindernde Faktor." Darüber hinaus beginnt eine Schwangerschaft, wie die Expertin erklärt, nach deutschen Strafrecht erst mit dem Zeitpunkt der Einnistung. In dem unwahrscheinlichen Fall, dass es also trotz der Einnahme des Medikaments zu einer Befruchtung käme, würde eine Einnistung verhindert, wodurch es letztlich nie zu einer Schwangerschaft käme.

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"Nach der Ausschabung muss das Kind wie ein Puzzle zusammengesetzt werden, um zu prüfen, ob alle Teile vollständig entfernt wurden."

Das Gerücht: Eine weiterer gruselig anmutender Abtreibungsmythos ist, dass das Operationspersonal nach einer Ausschabung die Aufgabe hätte, "die Leichenteile wie Arme, Beine, Kopf und Rumpfteile wie ein Puzzle zusammenzusetzen, um sicherzugehen, dass die Gebärmutter leer ist".

Die Fakten: Man muss wahrscheinlich kein Mediziner sein, um sich spontan die Frage zu stellen, ob es nicht leichter wäre, einfach ein Ultraschallgerät zu verwenden. Dr. Dühlmeyer bestätigt meine Vermutung: "In Zeiten von Ultraschall jahrzehntelang überholt." Sie schätzt, dass dies vor den Zeiten des Ultraschalls bei fortgeschrittenen Schwangerschaften durchaus üblich gewesen sein könnte, allerdings hat auch hier der medizinische Fortschritt Einzug gehalten. Von "scharfen Messern" und "Leichenteilen" zu sprechen, ist in ihren Augen vollkommen sinnfrei.

"Eine Abtreibung erhöht das Risiko, an Brustkrebs zu erkranken."

Das Gerücht: Vor einigen Jahren veröffentlichte eine Gruppe von Epidemologen um den Wissenschaftler Yubei Huang eine Studie, die den Zusammenhang zwischen Abtreibungen und Brustkrebs untersuchte. Dabei kamen die Forscher zu dem Schluss, dass das Risiko, an Brustkrebs zu erkranken, angeblich mit jedem Schwangerschaftsabbruch weiter steigt: nach dem ersten um 44 Prozent, nach dem zweiten um 76 Prozent und nach dem dritten sogar um 89 Prozent.

Die Fakten: Die Behauptung ist laut Dr. Dühlmeyer völlig haltlos. "Es existieren keine Studien oder wissenschaftlichen Arbeiten zu dieser Behauptung", sagt sie. Auch der deutsche Krebsinformationsdienst gibt Entwarnung: Die Daten der Studie ließen, wie Kritiker bemängelten, weder eine Aussage über den direkten Zusammenhang zwischen Schwangerschaftsabbrüchen und einem erhöhten Brustkrebsrisiko zu, noch konnte eine Krebshäufung unter betroffenen Frauen zweifelsfrei nachgewiesen werden. Vielmehr vermutete auch der Krebsinformationsdienst, dass die Studie nur dazu dienen sollte, die Argumente von Abtreibungsgegnern zu untermauern.

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"Medikamentöse Abtreibungen lassen das Kind qualvoll ersticken oder verhungern."

Das Gerücht: Während Ärzte die Wirkung der Abtreibungspille Mifegyne immer wieder mit einem spontanen Abgang vergleichen, glauben viele Abtreibungsgegner, dass dem Embryo infolge der Einnahme des Medikaments "jede Lebensgrundlage entzogen wird." Das soll wiederum letztendlich dazu führen, dass er "in einem qualvollen Todeskampf, der bis zu 48 Stunden dauern kann, erstickt" oder – wie auch oft behauptet wird – wortwörtlich "verhungert". Hinzu kommt angeblich, dass die Mutter den vermeintlichen Todeskampf des Kindes "hautnah miterlebt".

Die Fakten: "Da Embryonen und Föten weder atmen noch essen, ist diese Schlagzeile völlig sinnfrei", meint Dr. Dühlmeyer. In den Wochen, in denen in Deutschland ein Schwangerschaftsabbruch aus sozialer Indikation erlaubt ist, existiert noch keine Plazenta – erst Recht nicht in der Zeit, in der ein medikamentöser Schwangerschaftsabbruch durchgeführt wird. Es gibt lediglich einen Dottersack, ähnlich wie bei einem Hühnerei, der von der Wirkung der Abtreibungspille allerdings völlig unbeeinflusst bleibt.

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Die Einnahme von Mifegyne wirkt in Wahrheit einfach nur konkurrierend zu dem Schwangerschaftshormon ß-HCG, erklärt Dr. Dühlmeyer. Es bindet sich an die Rezeptoren des Schwangerschaftshormons und blockiert sie. Das hat wiederum einen Mangel an ß-HCG zur Folge, sodass die notwendige hormonelle Unterstützung für eine intakte Schwangerschaft fehlt und es zu einem Abbruch der Schwangerschaft kommt – ähnlich wie bei einem Spontanabort. Tatsächlich ist eine Gelbkörperschwäche, die bei Schwangeren mit zunehmendem Alter auftreten kann, mit Aborten verbunden, die genau so sind, wie medikamentös induzierte Schwangerschaftsabbrüche, sagt die Gynäkologin.

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"Wenn der Embryo abgesaugt wird, hat er Schmerzen und leidet unter Todesangst."

Das Gerücht: Der Gynäkologe und selbsternannte Lebensschützer Dr. Bernhard Nathason veröffentlichte mit Der stumme Schrei 1984 den vermeintlichen Beweis für das Schmerzempfinden und das Bewusstsein von Embryonen. Er war der Meinung, dass seine Aufnahmen einen unter Schmerzen und Todesangst strampelnden Embryo in der zwölften Schwangerschaftswoche zeigen.

Die Fakten: Seine Interpretation der Ultraschallaufnahme haben genauso viel mit der Wirklichkeit zu tun wie die verwackelten Aufnahmen einer Yeti-Sichtung.Abgesehen davon, dass er das Modell eines Fötus hochhält, der eindeutig größer ist als ein Embryo in den zwölften Schwangerschaftswoche, lässt die neuronale Entwicklung der Embryonen in diesem Entwicklungsstadium schlichtweg keine Empfindungen wie Schmerz zu. "Es gibt noch kein funktionierendes Nervensystem", erklärt Dr. Dühlmeyer. Eine Studie des Obstetricians and Gynaecologists konnte ebenfalls zeigen, dass Schmerzempfindungen nicht vor der 24. Schwangerschaftswoche möglich sind. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass die Großhirnrinde des Fötus in einem früheren Entwicklungsstadium noch nicht funktionsfähig ist. Das macht auch die Wahrnehmung oder das Bewusstsein von Schmerz schlicht unmöglich.

"Bei einer Ausschabung wird häufig die Gebärmutter perforiert."

Das Gerücht: Wenn Abtreibungsgegner den Ablauf einer Ausschabung oder Kürretage beschreiben, hört es sich meist an, als würde Michael Myers den Eingriff persönlich vornehmen: Zunächst müsse der Muttermund mit Gewalt erweitert werden, um dann "ein scharfes, gebogenes Messer durch die Scheide einführen [zu können]", mit dem der Körper des Kindes angeblich letztendlich "in Stücke zerschnitten" wird Vor diesem Hintergrund wirkt es eigentlich nur folgerichtig, dass die Abtreibungsgegner auch davon ausgehen, dass die Gebärmutterwand bei diesem Eingriff "oft durchstoßen" wird.

Die Fakten: Grundsätzlich, meint Dr. Dühlmeyer, besteht bei einer Ausschabung sowie bei einer Absaugung immer das Risiko einer Perforation – insbesondere bei älteren Patientinnen und Voroperierten. Allerdings ist auch eine Perforation in den meisten Fällen vollkommen harmlos. Nur in extrem seltenen Fällen führen diese heute noch zum Verlust des Uterus. Illegal durchgeführte Schwangerschaftsabbrüche bringen hingegen nach wie vor ein sehr hohes Risiko an Uterusperforationen mit sich, warnt die Expertin.

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"Abtreibungen haben zur Folge, dass man unfruchtbar wird."

Das Gerücht: Die Annahme, Abtreibungen wären nur etwas für selbstsüchtige, gefühllose Feminazis, die sowieso nie Kinder haben wollten, ist mittlerweile so überholt, dass man auf derartige Behauptungen eigentlich nur noch in der Mannosphäre stößt. Stattdessen spielen viele Abtreibungsgegner mit der Angst der Frauen, nach einem Schwangerschaftsabbruch keine Kinder mehr bekommen zu können oder zumindest in Zukunft Schwierigkeiten damit zu haben, wieder schwanger zu werden.

Die Fakten: Auch an dieser Stelle kann Dr. Dühlmeyer beruhigen: "Wir haben Patientinnen, die sieben bis neun Mal bei uns waren und wir haben Patientinnen, die nicht einen vollständigen Zyklus zwischen der nächsten Schwangerschaft haben, da sie direkt nach dem nächsten Eisprung, also 14 Tage nach dem Abbruch, wieder schwanger werden", sagt Dr. Dühlmeyer. "Ein Abbruch hat also keinerlei nachhaltige Wirkung." Hinzu kommt, dass es keine entsprechenden Daten gibt, die eine solche Behauptung stützen würden. Was dagegen bewiesenermaßen zu Unfruchtbarkeit führt sind, wie die Expertin sagt, "Adipositas, Untergewicht, falsche Ernährung, Geschlechtsverkehr (Chlamydien und HPV), Medikamente, hoher Stress, jahrzehntelange Pilleneinnahme, illegale Schwangerschafsabbrüche".

"Wenn ein Kind bereits lebensfähig ist, wird es oft einfach liegen gelassen, bis es stirbt."

Das Gerücht: Unter Abtreibungsgegnern ist immer wieder die Rede von Spätabtreibungen, die per Kaiserschnitt oder durch die künstliche Einleitung der Geburt lebend zur Welt gebracht und anschließend einfach liegen gelassen werden, bis sie sterben. Manchmal würde das bereits lebensfähige Kind angeblich sogar "direkt in die Mülltonne geworfen, bis es nach langen Todesqualen stirbt, oder aber es wird direkt vom Abtreiber getötet (beispielsweise durch Ersticken oder durch eine Atemlähmungs-Spritze)."

Die Fakten: "Dieses Vorgehen", sagt Dr. Dühlmeyer, "hat rein gar nichts mit den alltäglichen Schwangerschaftsabbrüchen bis zur zwölften Schwangerschaftswoche nach Empfängnis zu tun." Nach dem pränatalen Diagnostikgesetz darf eine Schwangerschaft im Falle schwerer Fehlbildungen auch in hohen Wochen noch beendet werden. Wenn sich ein Paar dann dafür entscheidet, ein Kind zu bekommen, obwohl davon ausgegangen werden muss, dass es nicht lebensfähig sein wird, kann die Frau das Kind auf natürlichem Wege oder per Kaiserschnitt zur Welt bringen. Auf lebenserhaltende Maßnahmen nach der Geburt kann in Absprache mit den Eltern und nach Abwägung der jeweiligen Situation verzichtet werden. Mit einem Schwangerschaftsabbruch hat das allerdings nichts zu tun. Vielmehr unterstützt es die Trauerarbeit der Eltern und schützt ihre Entscheidungsfreiheit.

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Noch schauerhafter als die Abtreibungsmythen selbst sind allerdings die Effekte, die sie auf die betroffenen Frauen und Familien haben – zumal solche Gerüchte meist nicht der Aufklärung dienen sollen, sondern eher darauf abzielen, Frauen zu verunsichern und sie in ihren schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen.

Angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen scheint es daher umso wichtiger, die Arbeit von Organisationen wie pro familia zu unterstützen und Frauen auch in Zukunft den Zugang zu sachlichen Informationen zu ermöglichen. Denn nur so sind Frauen, Paare oder Familien letztendlich auch in der Lage, eine informierte Entscheidung zu treffen und ihr Recht auf Selbstbestimmung auch wirklich in Anspruch zu nehmen.


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