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Das kontroverse Vermächtnis von Iraks "Wüstenkönigin"

Gertrude Bell reiste als Archäologin, Spionen und Entdeckerin durch den Mittleren Osten. In die Geschichtsbücher hat die "weibliche Lawrence von Arabien" es trotzdem nicht geschafft.
Gertrude Bell. All photos courtesy of Verve Pictures

Wenn die Presse über die britische Schriftstellerin, Entdeckerin, Archäologin und Spionin Gertrude Bell berichtete, geriet ihre Arbeit meist in den Hintergrund. Der Großteil der Geschichten drehte nur um eins: ihr Geschlecht. Das störte sie – und zwar ziemlich.

Gertrude Bell hat nach dem Ersten Weltkrieg daran gearbeitet, den neu gegründeten Staat Irak zu stabilisieren. Leider wurde die Arbeit der sogenannten "Wüstenkönigin" im Verlauf der Geschichte vollkommen zunichte gemacht. Die imperialistische Agenda der Briten, der sich Bell verpflichtet hatte, hinterließ im Mittleren Osten eine hundertjährige Schneise der Zerstörung. Die Nachwirkungen dieser Entwicklungen haben den Irak in einen Krieg aus Autobomben, Luftangriffen und tausenden zivilen Opfern gestürzt.

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Was würde Bell über dieses Erbe sagen, obwohl sie selbst für ihre Sympathie gegenüber den Menschen im Mittleren Osten bekannt war? "Ich glaube, sie wäre am Boden zerstört", sagt Zeva Oelbaum. Sie hat gemeinsam mit Sabine Krayenbühl bei dem neuen Film Letters To Baghdad: The Untold Story of Gertrude Bell and Iraq Regie geführt. "Sie war ungemein optimistisch und hat sich wirklich mit Leib und Seele für den Irak eingesetzt, um aus ihm einen stabilen Staat zu machen."

Auch Janet Wallach, die eine der ersten Biografien über Bell geschrieben hat, zählt zu ihren Bewunderern. Sie hat eine ähnliche Einschätzung, was Bell und ihre potenzielle Sicht auf die heutigen Verhältnisse im Irak angeht. "Sie würde in Tränen ausbrechen und sich die Haare raufen", sagt Wallach. "Das ist eine einzige Katastrophe. Wenn sie sehen könnte, was die USA und Großbritannien angerichtet haben, wäre sie entsetzt. Sie sind einmarschiert und haben eine komplette Gesellschaft zerstört."

In einigen Quellen wurde sie einfach nicht erwähnt.

Oelbaum und Krayenbühl begannen ihre Nachforschungen mit 1.600 von Bell verfassten Briefen, die mittlerweile von der Universität von Newcastle archiviert wurden. Als sie anschließend zu anderen Quellen übergingen, waren sie erstaunt, wie wenig ihre Zeitgenossen über Bell geschrieben haben. "Sie stand zwar oft im Protokoll, doch in den Memoiren ihrer männlichen Kollegen wurden letztendlich alle angeführt – nur sie nicht", sagt Oelbaum. "In einigen Quellen wurde sie einfach nicht erwähnt."

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Doch was hat die junge Engländerin überhaupt dazu bewegt, ihr Leben lang, allein durch den Mittleren Osten zu reisen? Bell wurden am 14. Juli 1868 im englischen Durham geboren. Die Tochter einer wohlhabenden Familie studierte moderne Geschichte in Lady Margaret Hall und war die erste Frau, die an der University of Oxford einen Abschluss mit Auszeichnung machte. Zu ihren Zeitgenossen in Oxford zählte unter anderem TE Lawrence – auch bekannt als Lawrence von Arabien –, ein weiterer großer Name aus der Geschichte des Mittleren Ostens in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg.

Gertrude Bell, 1900. Foto: Verve Pictures | aus dem Gertrude Bell Archive der Newcastle University

Bell wollte nicht über ihr Geschlecht definiert werden. Auch ihre politischen Ansichten wurden nicht im Geringsten davon beeinflusst, dass sie eine Frau war. Das ging soweit, dass sie sich öffentlich gegen das Frauenwahlrecht aussprach. "Sie war ziemlich eigen", erklärt Wallach. "Ob sie der Ansicht war, dass sie Suffragetten gute Arbeit leisteten? Nein. Sie fand sie zu schrill und zu direkt und hielt die Bewegung für geschmacklos."

Im Jahr 1892 verließ Bell Oxford und reiste nach Teheran, wo ihr Onkel Sir Frank Lascelles als britischer Minister arbeitete. So begann das Abenteuer ihres Lebens fernab von der Welt, in der sie groß geworden ist. "Sie wuchs in der Zeit der Romantik auf und wollte sich von dieser nach innen gekehrten, biederen Gesellschaft, zu der sie und ihre Familie gehörten, lösen", sagt Wallach. "Ihr war das alles zu langweilig, zu stumpfsinnig und zu trist. Sie erwartete mehr vom Leben."

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Und sie bekam, was sie wollte: Bell verbrachte die kommenden zehn Jahre damit, um die Welt zu reisen. Sie bestieg Berge in der Schweiz, traf Stammesgemeinschaften in der Wüste und lernte Arabisch, Persisch, Französisch und Deutsch. Als das Osmanische Reich zusammenbrach, war sie gerade in Mesopotamien – einer Region, die sich über den heutigen Osten von Syrien, den Irak, Kuwait und den Südosten der Türkei erstreckt hat.

Ihr Wissen und ihre umfassenden Kenntnisse, die sie sich über die Gegend angeeignet hatte, führten dazu, dass Bell nach dem Ersten Weltkrieg von der britischen Armee angeheuert wurde. Großbritannien war damals als Besatzungsmacht in drei der ehemaligen Provinzen des Osmanischen Reichs – Mosul, Baghdad und Basra –, die mit den Briten und den ehemaligen osmanischen Herrschern über ihre Unabhängigkeit verhandeln mussten.

Gertrude Bell (zweite Reihe, zweite von links) bei der Kairo-Konferenz von 1921 gemeinsam mit Winston Churchill (Mitte) and TE Lawrence (zweite Reihe, vierter von rechts). Foto: Verve Pictures

Bell hatte eigentlich nie vor, in die Politik zu gehen, wurde aber schon bald zu einer Schlüsselfigur in den Beziehungen zwischen dem Mittleren Osten und dem Westen. Sie war Mitglied der Arbeitsgruppe, die den Auftrag hatte, König Faisal – einen sunnitischen Führer in der Arabischen Revolte gegen das Osmanische Reich – als Oberhaupt des neuen Staates Irak einzusetzen.

In einem ihrer zahlreichen Briefe aus der damaligen Zeit sah Bell schon einige der Probleme voraus, die den Irak auch heute noch lähmen. "Wir sind wie üblich ohne einen umfassenden politischen Plan in die Situation hinein gerauscht", schrieb sie 1916. "Nun wursteln wir uns so durch! Ganz genau das tun wir: Wir waten durch Blut und Tränen, die niemals hätten vergossen werden müssen." Sie stellte vor allem eine Frage: "Können wir Menschen davon überzeugen, unsere Ansichten anzunehmen, solange wir nicht bereit sind, auch ihre anzunehmen?"

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Bells Privatleben war genauso bewegt wie ihr berufliches. Ihr große Liebe war Henry Cadogan, ein Offizier aus der britischen Armee. Doch ihr Vater verbot ihr, ihn zu heiraten. "Ihre Liebe zu Cadogan und sein plötzlicher Tod haben sie in vielerlei Hinsicht dazu bewegt, seine Seele im Mittleren Osten zu suchen", sagt Wallach. "Sie wusste, dass sie dort gemeinsam ihr Leben verbracht hätten."

Nachdem sie zur Geburt des Iraks beigetragen hatte, blieb Bell im Land und gründete das archäologische Museum in Bagdad – das heutige Irakische Nationalmuseum. Sie starb zwei Tage vor ihrem 58. Geburtstag an einer Überdosis Schlaftabletten.

Ähnlich kompliziert wie ihr Privatleben waren auch ihre Beziehungen zu den Männern, mit denen sie zusammengearbeitet hat. Ihre Vorgesetzten hatten zwar eine hohe Meinung von ihr und schätzten ihre Fähigkeiten, doch die Männer ihres Ranges und darunter waren ihr weniger zugetan. Mark Sykes, ein konservative Politiker, der ein Abkommen mit Frankreich ausgehandelt hat, um die Kontrolle über die ehemaligen osmanischen Gebiete zu regeln, beschrieb Bell als "eine dumme, schnatternde Quasselstrippe und ein arrogantes, schmalbrüstiges Mannsweib, das um die Welt reist, herumschwänzelt und dumm daher redet."

Solange wir sie nicht in die Geschichtsbücher aufnehmen, wird jede Frau das Rad neu erfinden müssen, um Geschichte schreiben zu können.

Dabei galt Bell (oder "Miss Bell", wie sie vielen Irakern in Erinnerung blieb) als die einzige Person aus ganz Großbritannien, zu der die Araber zur damaligen Zeit Vertrauen hatten. Und dass, obwohl ihr Versuch, den Irak unter der Herrschaft von König Faisal zu stabilisieren, scheiterte, nachdem sein Enkel und Nachfolger bei einem Staatsstreich 1958 ermordet wurde.

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"Angesichts der zunehmenden Intoleranz der heutigen Zeit wurde uns vor allem eins bewusst: Gertrude Bell respektierte fremde Kulturen", ist Oelbaum überzeugt. "Sie hat die Iraker und all ihre Religionen und Ethnien bewundert und respektiert. Sie hatte ein ehrliches Interesse an ihnen und all den anderen Menschen, mit denen sie sich traf."

Bell wird zwar nicht gerade wegen ihrer Unterstützung der englischen Frauenrechtsbewegung in die Geschichte eingehen, doch sie hat ihr Möglichstes getan, um die Situation der Frauen im Irak zu verbessern. "Sie hat sichergestellt, dass die Frauen Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung hatten", erklärt Wallach. "Außerdem hat sie alles in ihrer Macht stehende getan, damit die Frauen innerhalb ihrer Familie und ihrer eigenen vier Wände mit Würde behandelt wurden."

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Dank Bells zahlreicher Briefe waren Oelbaum und Krayenbühl in der Lage, ein umfassendes Bild von ihr zu zeichnen. "Es war uns wichtig, sowohl ihre guten als auch ihre schlechten Seiten darzustellen und so objektiv zu sein wie möglich", sagt Krayenbühl. "Sie wurde schon immer sehr kontrovers betrachtet – damals wie heute."

Ganz abgesehen davon ist und bleibt es eine Ironie des Schicksals, dass Gertrude Bell es zwar gehasst hat, über ihr Geschlecht definiert zu werden, sie heutzutage aber dennoch meist als "weiblicher Lawrence von Arabien" bezeichnet wird.

"Man hat fast den Eindruck, wir hätten uns in den letzten hundert Jahren nicht groß weiterentwickelt", sagt Oelbaum. "Wir scheinen noch immer dieselben Diskussionen zu führen. Ihre Geschichte spielt dabei allerdings eine entscheidende Rolle – genauer gesagt sind all diese Geschichten entscheidend. Solange wir sie nicht in die Geschichtsbücher aufnehmen, wird jede Frau das Rad neu erfinden müssen, um Geschichte schreiben zu können."