Jessie Hickman – Australiens vergessener weiblicher Outlaw

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Verbrechen

Jessie Hickman – Australiens vergessener weiblicher Outlaw

Ihr Leben war so rasant und eindrucksvoll wie das von Ned Kelly oder Billy the Kid. Dennoch geriet die Geschichte von Jessie Hickman, Australiens berühmt berüchtigtster Banditin, weitestgehend in Vergessenheit.

Sie hatte fünf verschiedene Decknamen und war der Kopf einer Bande. Man sagt, sie habe ihren eigenen Mann umgebracht, trotzdem ist sie der Polizei immer wieder entkommen. Als Jessie Hickman Anfang des 20. Jahrhunderts zum ersten Mal ihren Fuß in die australische Stadt Kandos setzte, machten die Einwohner einen großen Bogen um sie.

Sie nannten sie den „weiblichen Bushranger."

Jessie lehnte alle Vorstellung, wie eine Frau zu sein hatte, ab und verzichtete auf ein Leben als Ehefrau und Mutter, um als Outlaw durch die Gegend zu ziehen. Sie entkam den Behörden immer wieder, terrorisierte die ländlichen Gemeinden in der Gegend um New South Wales und war mindestens genauso außergewöhnlich wie der berühmt berüchtigte Bushranger Ned Kelly—einer der bekanntesten Volkshelden Australiens.

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Trotzdem geriet ihre Geschichte weitestgehend in Vergessenheit. Australien hatte bereits einen berühmten Banditen—wozu also eine Banditin?

Stattdessen wurde Jessie in einem anonymen Grab bestattet, wo ihre Geschichte gemeinsam mit ihrem Körper über 60 Jahre lang vor sich hin rottete. Die berühmten männlichen Bushranger Australiens wurden dagegen durch die zeitgenössische Popkultur zu Nationalhelden der ärmlichen Bevölkerung Australiens erhoben.

Ned Kelly, Australiens berühmtester Bushranger, wie er in einem Film aus dem Jahr 1906 dargestellt wurde. Foto: Charles Tait | National Film & Sound Archive

Ähnlich wie die amerikanischen Viehdiebe und die britischen Wegelagerer waren auch die australischen Bushranger Gesetzlose, deren Leben aus Betrug und Schießereien bestand. Sie klauten Vieh, überfielen Städte und brachten jeden um, der ihnen in die Quere kam. Am Ende kamen viele der Outlaws selbst gewaltsam zu Tode, weil sie entweder erschossen oder gehängt wurden.

„Die australischen Bushranger waren sehr erfahrene Reiter. Sie waren ein ganz anderer Menschenschlag als die Polizisten und wurden in der Regel locker mit ihnen fertig", sagt Carol Baxter, Historikerin und Lehrbeauftragte an der Universität von New England. Das lag zum Teil auch daran, dass die offiziellen australischen Polizeitruppen eine militärische Reitausbildung erhielten, die „für den australischen Busch vollkommen ungeeignet war."

Aufgrund des Analphabetismus und des Patriarchats tauchen weibliche Bushranger kaum im nationalen Bewusstsein Australiens auf, sagt Baxter. „Die Geschichte von Frauen ist weitestgehend unsichtbar geblieben, weil wir vorwiegend Geschichten von Eroberungen hören—und die Eroberer waren immer Männer."

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Doch in gewisser Weise war auch Elizabeth Jessie Hickman, geboren 1890, eine Eroberin. Mit acht Jahren gaben ihre Eltern sie an einen Wanderzirkus, wo sie mehr und mehr aufblühte. Im australischen Bundesstaat New South Wales waren die Zukunftsaussichten für ein Mädchen von Jessies Klasse und Herkunft in der Regel ziemlich schlecht—und das Vorstrafenregister ihres Vaters war dabei auch nicht besonders hilfreich.

Als ihr Ziehvater, der Besitzer des Zirkus, bei einem tragischen Unfall ums Leben kam, begann Jessies Leben aus den Fugen zu geraten. Der Zirkus wurde 1910 geschlossen und die 20-Jährige fing an, auf Pferde- und Hunderennen zu wetten, um ihre Trauer zu betäuben. Ihr Schulden glich sie aus, indem sie stahl.

Das häusliche Leben bot ihr weder Zuflucht, noch reizte es sie sonderlich. Als sie 1913 mit Benjamin Walter Hickman einen Sohn zur Welt brachte, gab sie das Baby weg. Kurze Zeit später holten sie ihre Diebeszüge der Vergangenheit ein: Zwischen 1913 und 1916 saß sie zweimal in Long Bay Gaol ein, einem von Australiens berüchtigtsten Gefängnissen.

Im Jahr 1916 kam sie auf Bewährung frei und wurde die Haushälterin von John Fitzgerald, einem Viehhändler im Westen Sydneys. Dort lernte Jessie, wie man Vieh von „unbekannter Herkunft" (was in der Regel hieß, dass es gestohlen war) verkaufte. Obwohl es keine Aufzeichnungen gibt, die belegen, dass die beiden je geheiratet haben, sagt Pat Studdy-Clift, Autorin von The Lady Bushranger: The Life of Elizabeth Jessie Hickman, dass Jessie John Fitzgerald ihren „Ehemann" nannte. Außerdem sei er ein ziemlich unangenehmer Zeitgenosse gewesen, der „in den Pub ging, sich betrank und dann gewalttätig wurde".

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Um Jessie Hickman ranken sich viele Legenden. Sie soll auf der Flucht vor der Polizei mehrfach mit ihrem Pferd über eine Klippe in einen Fluss gesprungen sein und ein ziemlich aufwendiges Ablenkungsmanöver inszeniert haben, um der Polizei Vieh zu entwenden. Anschließend entkam sie über die abgeschlossene Toilette eines fahrenden Zuges aus dem Gewahrsam. Eine der dramatischsten Geschichten ist allerdings die, nach der sie ihren Arbeitgeber und potentiellen Ehemann mit einem Stuhlbein umgebracht hat.

„Er hob den Stuhl hoch, um sie damit zu schlagen. Der Stuhl zerbrach und sie wurde an der Schulter getroffen. Sie wollte ihn nicht umbringen. Sie versuchte nur, sich zu verteidigen", erklärt Pat. Es gibt keine Sterbeurkunde von John Fitzgerald und seine Leiche wurde nie gefunden. „Sie hat sie sehr, sehr gut versteckt."

Im Jahr 1920 floh Jessie nach Kandos, einem verschlafenen Städtchen in der Nähe des heutigen Wollemi-Nationalparks. Kurz bevor sie Sydney verließ, heiratete sie allerdings noch Benjamin Hickman—scheinbar ohne jede Verpflichtung, bei ihm zu bleiben. Vielleicht hatte Jessie einen neuen Namen gebraucht, um neu anfangen zu können und ihre kriminelle Vergangenheit in Sydney hinter sich zu lassen.

Das Paar wurde im Oktober 1928 formell geschieden. Benjamin gab vor Gericht an, dass seine Frau „ziemlich vernarrt in Tiere—Pferde und Kühe—ist und auf dem Land leben möchte", was allerdings sehr kryptisch klingt.

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Die Viehzuchtgebiete von Rylstone und Kandos lagen drei Stunden von Syndey entfernt und grenzten an eine unwegsame und wilde Gegend voller Klippen und Felsspalten, die sich tief in die Berge gruben. Für Bushranger wie Jessie die perfekte Gegend um unterzutauchen. „Ihr reiterisches Können ermöglichte es ihr, das Vieh durch bergige Gegenden zu treiben, wo selbst Männer keinen Fuß hinzusetzen wagten", sagt Pat.

„Die Berge waren sehr gefährlich und tückisch, doch sie schaffte es, in Gegenden zu überleben, wo sich kein Mensch hinwagte."

Die raue Gegend, in der Jessie einen Teil ihres Lebens verbracht hat. Foto: Jennifer Gheradi

Jessie durchquerte tief in der Nacht steile Schluchten und trieb das gestohlene Vieh im Schutze der Dunkelheit mit ihrem Pferd. Sie ging in den Augen ahnungsloser Menschen als einfacher Viehzüchter durch, weil ihr Reitstil nicht mit dem übereinstimmte, was man für gewöhnlich mit Frauen assoziierte. Außerdem „trug sie meistens Männerhosen", sagt Pat.

Jessie führte ein Einsiedlerleben und schlief in einer Höhle im Wollemi-Nationalpark, hoch oben an einem steilen Hang. Doch ihre Eskapaden erregten schon bald die Aufmerksamkeit junger Männer aus der Gegend, die sich unbedingt ihren wilden Abenteuern anschließen wollten. „Sie nannte sie ihre jungen Böcke", erzählt Pat.

Mit der Unterstützung dieser „jungen Böcke" überfiel Jessie Farmen in der gesamten Mudgee-Region und hielt das gestohlene Vieh an einem weit entfernten Bergkamm, bevor sie es weiterverkaufen konnte. Die meisten Einheimischen schwiegen—aus Angst oder weil es Jessie nur auf bestimmte Farmen abgesehen hatte.

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Die Überreste von Jessies Küchenschrank in ihrem Versteck in einer Höhle auf dem Nullo Mountain. Foto: Jennifer Gheradi

Obwohl sie in dem, was sie machte, unübertrefflich war, erregte Jessies Kompromisslosigkeit gegenüber Viehbesitzern irgendwann die Aufmerksamkeit der Polizei, die enorm Druck machte, um sie hinter Gitter zu bringen. Jessie spielte derweil öfter mit dem Gedanken, „den Handel mit streunendem Vieh" an den Nagel hängen, doch sie war nun die Anführerin eines ganzen Netzwerkes aus Bushrangern und hatte ein Händchen dafür, der Strafverfolgung zu entgehen. Als die Polizei sie 1928 schließlich schnappte, wollten sie ein Exempel an ihr statuieren.

Zu Jessies Glück wurde das Vieh, das der Polizei als Hauptbeweis diente, am Tag ihrer Gerichtsverhandlung gestohlen. Sie wurde freigesprochen und setzte sich auf einer Farm, die tief in einer Gebirgsschlucht versteckt lag, „zur Ruhe."

Nicht einmal zehn Jahre später, im Jahr 1936, starb Jessie im Alter von 46 Jahren an einem Gehirnturmor. Sie wurde in einem anonymen Armengrab auf dem Friedhof von Sandgate im australischen Newcastle bestattet, wo sie bis heute liegt.

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Obwohl sich Jessies verstorbene Enkelin vor einigen Jahren dazu geäußert hatte, erklärt Pat, dass kaum etwas über Jessies letzte Ruhestätte bekannt ist: „Sie liegt in einem Armengrab. Kein Gras, nur nackter Boden. Die Atmosphäre dort ist ziemlich gespenstisch, finde ich."

Pat ist heute 90 Jahre alt. Sie stellt seit zwanzig Jahren Nachforschungen zu Jessies Leben an. Da sie blind ist, kann sie selbst nicht mehr zu Jessies Grab fahren. Allerdings könnte der Film über Jessies Leben, an dem die westaustralische Regisseurin Jennifer Gherandi derzeit arbeitet, den Ort in eine Pilgerstätte verwandeln—so wie Old Melbourne Gaol, dem Gefängnis, in dem der berüchtigte Bushranger Ned Kelly saß.

Vielleicht erfährt so endlich auch die Welt von Australiens vergessener Banditin.