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Ist es möglich, depressiv zu werden, ohne es zu merken?

Und wo liegt die Grenze zwischen gesund und depressiv? Ein Experte klärt auf.
Foto: Gerald Gabernig

Das Leben ist meist nicht nur schwarz oder weiss. So sind auch Dinge, die uns passieren nicht immer grundsätzlich nur gut oder schlecht. Als gut angesehene Dinge können schlechte Konsequenzen nach sich ziehen und umgekehrt. Wenn du etwa eine Million im Lotto gewinnst, geht ein grosser Teil davon gleich mal an den Staat—und du läufst vielleicht kerzengerade in Richtung Schuldenfalle. Solche Dinge machen unser Leben kompliziert und sind Grund dafür, wieso wir auf simple Fragen wie ein „Wie geht es dir?" kaum mit einem einfachen „Gut" oder „Schlecht" antworten können.

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Denn wir alle wissen: Eigentlich geht es uns ja gut. Trotzdem bleibt der Hass, sich Montag bis Freitag jeden Morgen zur Arbeit zu zwingen bestehen—ohne dass es Ende Monat finanziell wirklich rosiger aussieht. Aber eben: Eigentlich ist ja alles gut. Wir leiden nicht an einer tödlichen Krankheit, wir müssen nicht bei winterlicher Kälte draussen schlafen und wir können sogar auswählen, mit was wir uns beim Mittagessen den Bauch vollschlagen.

Aber wann würden wir mit einem „Schlecht" auf die Frage nach unserem Wohlbefinden antworten? Klar, wenn wir körperlich krank sind, erübrigt sich diese Frage. Da gibt die Wissenschaft die Antwort vor: Ab 38.5 Grad Körpertemperatur akzeptieren alle, dass wir jammernd im Bett liegen. Aber nicht alle Krankheiten lassen sich auf so eindeutige Weise messen. Depressionen zum Beispiel.

Eine Freundin erzählte mir einmal, dass sie sich besser fühle seit sie die Pille nach mehreren Jahren abgesetzt habe. Sie sei viel aktiver, habe mehr Energie und ihr gehe es schlicht und einfach gut.

Ich fragte mich, was an ihrer Geschichte dran ist. Immerhin nehmen in der Schweiz täglich etwa 400.000 Frauen die Pille. Das ist nicht ganz ungefährlich. Die Pille und andere hormonelle Verhütungsmittel haben oft Nebenwirkungen, derer wir uns nicht bewusst sind. Aber wie beeinflussen sie unsere Psyche? Wieso schweben manche Männer genauso in diesem alltäglichen Zustand zwischen den Antworten „gut" und „schlecht"? Und wo liegt die Grenze zwischen gesund und depressiv?

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Fragen über Fragen, die mir nur jemand beantworten kann, der sich mit unserer Psyche auskennt. Ich traf mich mit Jan Wielopolski, auf Depressionen spezialisierter Oberarzt am Universitätsspital Zürich. Er erklärte mir, welche psychischen Nebenwirkungen hormonelle Verhütungsmittel haben können und wie du (oder: ob überhaupt) merkst, dass du depressiv bist:

VICE: Guten Tag Herr Wielopolski, sind Depressionen wirklich Kopfsache?
Dr. Jan Wielopolski: Letztendlich ist die Entstehung von Depressionen nicht vollständig geklärt, jedoch wird eine multifaktorielle Entstehung angenommen, wobei man nicht sagen kann, dass Depressionen alleine Kopfsache sind. Insgesamt haben sich integrative bio-psycho-soziale Entstehungsmodelle durchgesetzt, die biochemische, psychologische wie auch soziale Aspekte zusammenbringen.

Können Sie mir die Entstehungsweise genauer erklären?
Von psychologischer Seite gibt es Annahmen, dass Depressionen durch typische Denkfehler, sogenannte negativ verzerrte Kognitionen, ausgelöst werden können, da diese zu einer verzerrten Selbstwahrnehmung und negativen oder pessimistischen Interpretation der Umwelt führen. Auch das Gefühl oder die Überzeugungen, bestimmte negative Erfahrungen nicht beeinflussen zu können und ihnen ausgeliefert zu sein, also eine erlernte Hilflosigkeit, können sich depressionsfördernd auswirken.

Dr. Jan Wielopolski. Foto von der Autorin.

Gibt es noch andere Hypothesen?
Auf biochemischer Ebene stellt die Mangel-Hypothese der Monoamine, also der Glückshormone (zum Beispiel Serotonin, Noradrenalin oder Dopamin), einen Erklärungsansatz dar. Ein relativer Mangel der Monoamine im Körper kann schlussendlich zu Depressionen führen. Aber auch andere Erklärungsmodelle existieren.

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Welche sind das?
Es gibt Hinweise, dass Depressionen eine Störung in der neuronalen Plastizität sein könnten. Unser Gehirn hat ja eine Regenerationsfähigkeit, das bedeutet, dass auch im erwachsenen Gehirn neue Nervenzellen gebildet werden. Es gibt Hinweise, dass bei depressiven Personen eine Störung dieses Mechanismus vorliegt. Möglicherweise aufgrund von Mangel an neurotrophen Wachstumsfaktoren, die für die Neubildung von Nervenzellen zuständig sind. Eine weitere Hypothese besagt, dass Depressionen auf Veränderungen der hormonellen Regelkreise, zum Beispiel im Stresshormonhaushalt, zurückzuführen sind. Beispielsweise wirkt sich ein langfristig erhöhter Cortisolspiegel negativ auf die Nervenzellen aus und kann dadurch zu Depressionen führen.

Können auch positive Ereignisse zu Depressionen führen?
Ja, die Geburt eines Kindes oder eine Hochzeit sind an sich positive Ereignisse. Aber jeder Mensch hat eine gewisse Labilität und Anfälligkeit. Diese Anfälligkeit ist bei jedem verschieden ausgeprägt. Bestimmte biologische und psychosoziale Faktoren haben Einfluss darauf, wie gut jemand mit Stress umgehen kann. Bei manchen ist die Schwelle eher niedrig, weswegen sich eine depressive Erkrankung viel schneller äussern kann.

Foto: bailey.foster | Flickr | CC BY 2.0

Ich habe schon öfters gehört, dass die Anfälligkeit für Depressionen geschlechterabhängig ist. Neigen Frauen wirklich eher zu Depressionen als Männer?
Es zeigt sich in der Tat, dass Frauen doppelt so häufig von unipolaren Depressionen betroffen sind wie Männer. Dafür gibt es auch verschiedene Erklärungsmodelle. Ein möglicher Grund dafür ist, dass Frauen bei Problemen früher Hilfe suchen als Männer. Auch in der Gesellschaft verankerte Rollenbilder könnten zu dieser Spaltung führen.

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Gibt es auch nicht-gesellschaftliche Gründe?
Ein anderer möglicher Grund sind hormonelle Faktoren. Dem Östrogen wird ein neuroprotektiver Effekt zugesprochen. Progesteron (oder auch Gelbkörperhormon) hat hingegen einen eher zentral sedierenden Effekt, der zu Verstimmungen führen kann. Frauen können eben auch durch ihre hormonellen Schwankungen, die im Rahmen von Menstruationszyklus, der Schwangerschaft oder der Menopause auftreten können, ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer depressiven Störung aufweisen.

Sie haben die Bedeutung von gesellschaftlichen Rollenbildern angesprochen. Wäre es auch denkbar, dass sich Depressionen bei Männern einfach anders zeigen?
Die Kernsymptome einer Depression wie bedrückte Stimmung, Antriebslosigkeit, Interessens- oder Freudeverlust unterscheiden sich nicht wesentlich. Untersuchungen zeigen aber, dass Frauen vermehrt mit Schuldgefühlen und einem verminderten Selbstwertgefühl zu kämpfen haben. Aber auch andere Symptome wie ein grösseres Schlafbedürfnis, Gewichtszunahme oder Schmerzen äussern sich bei Frauen eher, wogegen depressive Symptome bei Männern eher durch Unruhe, Gereiztheit, Ärger oder Aggressivität gekennzeichnet sind. Deswegen scheinen Männer auch mehr von einer lösungsorientierten Therapie zu profitieren, während Frauen eine supportive Therapie bevorzugen.

Foto: Mateus Lucena | Flickr | CC BY 2.0

Welchen Einfluss haben hormonelle Verhütungsmittel auf die Anfälligkeit für Depressionen?
Hormonelle Verhütungsmittel haben das Ziel, den Hormonhaushalt der Frau zu verändern. Dabei gibt es verschiedene Präparate: Zum einen Östrogen-betonte Verhütungsmittel und zum anderen Gestagen-betonte Verhütungsmittel. Es hat sich aber gezeigt, dass gar nicht die Hormone selbst für die Depressionen verantwortlich sein müssen, sondern dass Frauen allgemein während hormonellen Schwankungen oder Umstellungsphasen anfälliger für psychosoziale Belastungen sind.

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Ist es also möglich, dass man sich nach dem Absetzen einer langjährig eingenommen Pille schlagartig besser fühlt?
Das kann sicherlich einen Einfluss auf die Stimmung haben, denn hormonelle Verhütung kann diese Gefühlsschwankungen verstärken. Vor allem auf Gestagen basierende Verhütungsmittel können die Bildung von Depressionen begünstigen, da Gestagen am GABA-Rezeptor bindet und Symptome wie Müdigkeit oder depressive Verstimmung hervorrufen kann. Durch hormonelle Kontrazeption greifen sie in das gegebene Gleichgewicht ein, wodurch Stimmungsschwankungen ausgelöst werden können, die bis hin zu richtigen Depressionen führen können.

Foto: Victor | Flickr | CC BY 2.0

Kann man depressiv werden, ohne es zu merken?
Nun ja, Sie werden wahrscheinlich merken, dass Sie gereizter auf bestimmte Dinge reagieren oder weniger Interesse an Dingen zeigen, die Ihnen sonst Freude bereitet haben. Auch möglich ist, dass Sie sich schlechter konzentrieren oder schlechter schlafen können. Diese Symptome werden meist nicht auf Anhieb als eine Depression erkannt, sondern nach und nach von Ihrem Hausarzt diagnostiziert.
Depressionen können zudem auch lediglich periodenweise auftreten. Drei bis fünf Prozent der Frauen leiden beispielsweise am prämenstruellen dysphorischen Syndrom (PMDS). Dabei fühlen sich Betroffene kurz vor dem Einsetzen der Regel schlecht gelaunt, ängstlich, angespannt und gereizt bis hin zu depressiv, wobei circa 90 Prozent aller Frauen mindestens eines dieser Symptome vor der Menstruation zeigen.

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Manche Depressionen sind auch von Jahreszeiten abhängig, zum Beispiel die weit verbreitete Winterdepression. Wie entsteht diese?
Im Winter geht die Sonne früher unter als im Sommer. Da wir dadurch weniger Sonnenlicht aufnehmen können, wird im Körper weniger Serotonin, aber mehr Melatonin produziert. Melatonin ist das sog. Müdigkeitshormon, welches nachts bei Dunkelheit vermehrt gebildet wird, um den Körper evolutionsbiologisch zu signalisieren, dass Schlafenszeit ist. Mehr Melatonin führt dazu, dass wir uns müder und kraftloser fühlen und kann dadurch depressive Zustände erzeugen.

Lassen sich Depressionen irgendwie vorbeugen?
Wichtig ist, auf Entspannung zu achten. Man sollte möglichst Dinge tun, die einem Freude bereiten und Spass machen, sich auch mal etwas gönnen. Körperliche Aktivitäten können ebenfalls vorbeugend wirken, da sportliche Aktivitäten zu Cortisol- und somit zum Stressabbau führen. Auch Entspannungstraining kann dazu führen, dass man weniger anfällig für affektive Erkrankungen wird. Ein geregelter Tag-Nacht-Rhythmus ist für ein ausgewogenes Wohlempfinden ebenfalls bedeutend, damit der Körper beispielsweise genug Sonnenlicht bekommt.

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Titelbild: Gerald Gabernig | Flickr | CC BY 2.0