Menschen

Was nach einem sexuellen Übergriff mit mir passierte

Von Scham zur Wut.
Die Autorin steht vor ein paar Bäumen, sie teilt in diesem Text den sexuellen Übergriff, der ihr passiert ist.
Foto: Philipp Sipos

Als Kind habe ich in einer Zeitung mal die Kolumne einer Sexualtherapeutin gelesen. Eine Frau fragte, ob sie ein schlechtes Gewissen haben müsse, wenn sie sich beim Sex mit ihrem Mann einen berühmten Schauspieler vorstellt. Nein, natürlich nicht, das sei völlig normal. Ich denke an den Text, als mich ein Online-Date vergewaltigt. Ich denke an den Text, weil das einfacher ist, als mir bewusst zu machen, was gerade passiert. Mir fällt kein Schauspieler ein, mit dem ich Sex haben will, also frage ich mich, an wen die Ehefrau heimlich denkt. George Clooney vielleicht. Pierce Brosnan war zur Mamma Mia!-Ära noch nicht alt.

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Kurz stelle ich mir vor, wie ich aufstehe, aus der Tür gehe, die Treppe runterrenne und ein Taxi rufe. Doch ich kann mich nicht bewegen. Brad Pitt. Robert Downey Jr.. Ich weiß nicht, wie lange ich mich ablenken muss. Ich weiß nicht, wie lange es dauert, bis es vorbei ist. Irgendwann legt er sich neben mich, und ich kann nicht aufstehen, weil mir schwindelig ist. Vielleicht auch, weil ich nicht gehen will. Wenn ich jetzt gehe, ist es mir passiert. Er ruft mir ein Taxi, und ich sage eine falsche Adresse. Es ist Anfang Juni, und mir ist warm, während ich auf der Straße auf das Taxi warte.


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Ich war ein wütendes Kind. Es gibt viele Urlaubsfotos, auf denen ich als Einzige schlecht gelaunt aussehe. Sieben Jahre alt, mit zusammengezogenen Augenbrauen. Mein Vater nannte mich manchmal Stromboli, ein Vulkan auf einer gleichnamigen Insel bei Sizilien. Ich weiß nicht, wie es nun passiert ist, dass ich mich schneller schäme, als wütend zu werden.

Die Autorin Leslie Jamison zitiert in einem Essay über weibliche Wut eine Studie von 2016, die belegt, dass die Teilnehmenden länger brauchten, um das Geschlecht weiblicher Gesichter zu identifizieren, wenn sich darauf ein wütender Ausdruck zeigte. Wut ist männlich. Und das, obwohl zwei von drei Frauen in ihrem Leben sexuelle Belästigung erfahren. Jede siebte wird Opfer von schwerwiegender sexualisierter Gewalt.

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Schon 2009 identifizierten die Teilnehmenden einer ähnlichen Studie androgyne wütende Gesichter eher als Männer, während sie androgyne ängstliche Gesichter eher als weiblich einordneten. Die Angst scheint also mehr in meinen Gesichtszügen zu Hause zu sein als die Wut. Die Angst, dass mir etwas passiert ist. Die Angst, dass ich nicht oft genug "Nein" gesagt habe. Ich wurde vergewaltigt, und die Scham kommt schneller als die Wut.

In der Woche danach mache ich Witze darüber, weil es sonst nichts zu machen gibt. Meine Ärztin hat mich eine Woche krank geschrieben. Ich fahre in einen Stadtteil, in dem ich nie bin, weil er so weit weg ist von meiner Wohnung wie ich von mir. Manchmal bleibe ich stehen, weil ich Angst habe, dass ich, wenn ich zu schnell gehe, noch zu viel Tag vor mir habe.

Ich schäme mich dafür, dass ich den ganzen Tag nicht geweint habe. In meinem Kopf führe ich eine Liste darüber, wann ich geweint habe: Am Sonntag auf dem Weg vom Park nach Hause, vor dem indischen Restaurant, als ich auf mein Essen gewartet habe, nach dem Essen auf dem Platz vor meinem Haus. Am Montag nach dem Aufwachen dann im Zimmer meiner Mitbewohnerin, dann als ich meine Ärztin anrief. Am Dienstag im Sprechstundenzimmer meiner Ärztin und dann vor der Praxis auf der Straße. Und jetzt ist Mittwoch, und ich habe noch nicht geweint. Wenn ich heute nicht weine, kann es mir eigentlich fast nicht passiert sein. 

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Zweifeln ist einfacher, als etwas sicher zu wissen. Ich will zweifeln, wenn ich mit meiner Mutter telefoniere, weil ich nicht will, dass sie es weiß. Ich will zweifeln, als ich lese, dass in Basel einem Vergewaltigungsopfer eine Mitverantwortung an der Tat angelastet wurde, weil die Frau am selben Abend mit einem anderen Mann in einer Toilette rumgeknutscht hatte. Ich will zweifeln, als ich die Serie I May Destroy You schaue, in der eine Frau vergewaltigt wird, und ihr Leben außer Kontrolle gerät. Daran zu zweifeln ist einfacher, als einen sexuellen Übergriff erlebt zu haben. Nach diesem Mittwoch weine ich nur noch, wenn andere auf mein Erlebtes reagieren. Wenn meine Mitbewohnerin fragt, ob sie mitkommen soll zu einem Termin bei der Opferhilfe, oder wenn ein Freund schreibt: "Ich habe heute oft an dich gedacht und möchte nur noch mal sagen, dass ich immer für dich da bin." Ich brauche die Bestätigung anderer, um mir sicher zu sein.

Ich habe Angst zu übertreiben, obwohl ich ihn in den Gesichtern der Männer sehe, die vor einem Café sitzen oder mir entgegenkommen oder auf den Bus warten. Er ist es nie. Manchmal muss ich zwei- oder dreimal hinschauen, um sicher zu sein. Es fühlt sich dramatisch an, das Erlebte für mich zu beanspruchen oder gar darunter zu leiden. Ich nenne es erst Vergewaltigung, als der ehrenamtliche Mitarbeiter der Opferhilfe mir erklärt, dass ich vergewaltigt wurde.

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Wochen danach schickt er mir eine Nachricht und sagt, dass es ihm leidtue, falls er etwas getan oder gesagt hat, was mich verletzt haben könnte. Ich bin regelmäßig auf einem seiner Social-Media-Profile. Es fühlt sich an, als würde ich auf einem blauen Fleck rumstochern. Gruppenselfies, Urlaubsbilder. Ich frage mich, ob seine Freundinnen sich vorstellen können, dass er ein Vergewaltiger ist. Ich frage mich, ob ich da auch irgendwo bin in diesem Ferienort. Als schlechtes Gewissen hinter der guten Laune und dem Strand. Ich will es ihm ansehen. Das schlechte Gewissen.

Manchmal schaue ich in den Spiegel und sehe ganz anders aus. Vielleicht ist mein Gesicht schief. Vielleicht hängen meine Arme ganz anders an meinen Schultern. 

Mit meinem schiefen Gesicht lege ich mich ins Bett. Anders als sonst, nämlich mit dem Kopf ans Fußende, als würden sich die zwei Veränderungen – mein schiefes Gesicht und mein Kopf am Fußende – gegenseitig aufheben, als wäre ich dann wieder ich. 

Auf einer Party gehe ich die ganze Zeit an einem Spiegel vorbei, weil ich das Gefühl nicht loswerde, dass mein Gesicht anders aussieht als sonst.

Manchmal fahre ich mit Freunden an Orte, und wir liegen uns in den Armen, und manchmal lache ich. Dann schäme ich mich dafür. Es kann mir nicht passiert sein, wenn ich nur wenige Monate danach einen glücklichen Moment habe. 

Ich entschuldige mich bei einem Freund, dass ich mich nicht gemeldet habe in den letzten Wochen. Dann erzähle ich ihm die ganze Geschichte.

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"Weißt du, was Piloten machen müssen, nachdem sie mit dem Flugzeug abstürzen?"

Ich schüttle den Kopf.

"Sie werden direkt wieder in ein Flugzeug gesetzt." Er rät mir, nicht zu lange zu warten, bis ich das nächste Mal Sex habe. "Sonst hast du zu große Angst, dich je wieder in ein Flugzeug zu setzen."

Das Wichtigste für mich als Frau nach einem sexuellen Übergriff ist, sexfähig zu bleiben, klar.

Flugzeugabsturz. Der Aufprall kommt immer wieder. Ich pralle auf, als mich der Taxifahrer mehrmals fragt, ob alles OK sei. Der Aufprall kommt, als der Ehrenamtliche von der Opferhilfe "Vergewaltigung" auf die Linie neben "Tatbestand:" schreibt. Der Aufprall kommt, wenn ich das Wort Vergewaltigung nicht sagen kann, wenn mich jemand fragt, was passiert ist. Der Aufprall kommt, wenn ich es doch sage.

Der Aufprall kommt nicht, als ich mich das erste Mal wieder mit einem Typen treffe. Wir treffen uns schon seit Jahren immer dann, wenn ich mal wieder in der Stadt bin. Wir liegen auf seiner Couch und er fragt, ob ich gemerkt hätte, dass er abgenommen hat. "Summerbody." Ich habe nichts gemerkt. Ich will fragen, ob er findet, dass mein Gesicht schief sitzt.

Auf Dates spreche ich nicht über die Vergewaltigung. Einmal rutscht es mir doch raus. Wir knutschen auf der Straße. Vor einer Gruppe Teenager, die Bierdosen rumkicken, ist mir das peinlich. Ihm nicht. Das finde ich gut. Später liegen wir nackt in seiner viel zu großen Wohnung, und ich fühle mich ehrlich. Nachdem ich es ausgesprochen habe, fühle ich mich zu nackt und zu ehrlich.

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Im Urlaub habe ich einen Videocall mit einer Anwältin. Ihre Stimme klingt nicht nach Mitleid. Sie klingt steril, und ich bin froh. Sie kann mir weder zu einer Anzeige raten, noch davon abraten. Die Chance, dass Aussage gegen Aussage stehen wird, sei groß. Ich solle mir überlegen, ob ich der mentalen Belastung standhalten kann. Laut Daten, die von 2014 bis 2016 erhoben wurden, wird nur einer von hundert Vergewaltigern verurteilt. Ich denke an den Flugzeugabsturz. Da ist er nämlich schon wieder, der Aufprall. Draußen ist Rom 32 Grad warm. Hier drinnen pfeift die Klimaanlage, und ich will nicht weinen, weil ich die ganze Zeit schon zu wenig trinke.

Aussage gegen Aussage, I May Destroy You, "mit dem Feuer spielen". Es bleibt mir nichts anderes übrig, als wütend zu werden. Ich denke an das Wutmonopol in männlichen Gesichtern. Im Treppenhaus meiner Therapeutin hängt ein Bild von Marilyn Monroe. Es hängt da wahrscheinlich schon, seit es das Haus gibt. Die Nachmieter haben es immer da gelassen. Als das Haus gebaut wurde, mussten Bauarbeiter Backsteine auftürmen, Maler mussten die Wände streichen, Elektriker mussten Kabel verlegen und jemand musste vorbeikommen und dieses Foto aufhängen. Es gehört zum Treppenhaus. Vielleicht ist es bei mir und meiner Wut genauso. Ich habe in der Fruchtblase ein schlagendes Herz ausgebildet und Nervenstränge und meinen Drang, immer zu spät zu kommen. Und die Wut. Die Wut ist in männlichen Gesichtern zu Hause. Sie nehmen uns die Möglichkeit, uns frei zu bewegen im öffentlichen Raum, Sätze zu Ende zu sprechen, auf Dates zu gehen, ohne einen Übergriff zu erleben. Sie nehmen uns die Wut. Das ist ein Versuch, sie mir zurückzuholen. 

Manchmal muss ich noch weinen. Wahrscheinlich, weil ich jetzt monatelange Übung habe, und es ganz praktisch ist, etwas gut zu können. Manchmal fragen mich Freunde noch, ob alles OK sei, oder sagen, dass ich mich melden solle, wenn ich etwas brauche. Und dann schäme ich mich nicht dafür, Leute zu brauchen. Manchmal lache ich wieder und schäme mich nicht dafür. Manchmal fühlt es sich an, als würde es für mich für immer Juni bleiben. Aber jetzt sieht man mir die Wut an. Ich kann nicht lauter schreien als so. Mit einem Text. Der Herbst kommt.  

Bist du sexuell belästigt worden oder hast sexualisierte Gewalt erlebt? In Deutschland bekommst du Hilfe unter der Telefonnummer 0800 22 55 530. Mehr Infos findest du auf dem Hilfeportal der Bundesregierung. Wer in der Schweiz sexualisierte Gewalt erlebt hat, findet bei der Frauenberatung Links zu Beratungsstellen, betroffene Männer erhalten Hilfe im Männerhaus. In Österreich wird ein 24-Stunden-Hilfenotruf unter 01 71 719 angeboten. In jedem Fall gilt: Wende dich auch an die Polizei in deiner Nähe und zeige den Täter oder die Täterin an.

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