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Feminisme

Ein Tag mit der Transfrau, die zum Drachen wurde

"Ich möchte nicht als Mensch sterben" – Eva Tiamat Medusa erzählt uns, warum sie sich mit der menschlichen Spezies nicht mehr identifizieren kann und lieber als Drache lebt.

Eva Tiamat Medusa beginnt jeden Morgen mit einem Joint. Mit ihrer gespaltenen Zunge befeuchtet sie das Paper. Dann steckt sie sich ihre Metallklauen an und bläst den Rauch genüsslich aus ihren flachen Nasenschlitzen. Tiamat – so möchte sie gerne genannt werden – ist die Drachen-Lady. Ich durfte sie einen Tag lang begleiten.

Das erste Mal höre ich vor zwei Jahren von Tiamat, als ein Online-Magazin einen reißerischen Artikel über sie veröffentlicht. Es ist offensichtlich, was Menschen an Tiamat fasziniert: Sie hat sich zahlreichen Operationen unterzogen, um zum Drachen zu werden. Sie hat sich die Ohren und Nasenflügel entfernen und die Augen grün färben lassen. Ihr gesamter Körper ist von implantierten Hörnern und tätowierten Schuppen bedeckt. Tiamat sieht nicht mehr menschlich aus.

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Ich finde sie sofort hübsch. Als ich erfahre, dass sie außerdem eine Transfrau ist, überlege ich, wie ihre körperlichen Veränderungen wohl Teil einer Identitätsfindung sind. Ich will sie unbedingt treffen.

Im Frühjahr ist es endlich soweit und ich fliege nach Houston in Texas, um Tiamat zu treffen. Im Vorfeld habe ich mir viele Artikel und Videoclips über sie angeschaut, aber sie alle sind oberflächlich und behandeln Tiamat lediglich als faszinierenden Freak. Ich will es anders machen: Ich möchte einfühlsam das Porträt schaffen, das Tiamat so zeigt, wie sie gesehen werden möchte.

Es wäre leicht, Tiamat als jemanden abzustempeln, der lediglich süchtig nach Körpermodifikationen ist – aber das wäre ganz schön naiv. Ich bin überwältigt, als mir klar wird, welche Bedeutung hinter jeder einzelnen ihrer Veränderungen steckt. Die Schuppen-Tattoos, die ihr Gesicht und ihren Körper bedecken, sind denen der Diamant-Klapperschlange nachempfunden. Als Kind wurde Tiamat in der Wüste ausgesetzt; die Klapperschlangen, die um sie herum durch den Sand glitten, sind zu einer symbolischen Elternfigur für sie geworden.

Die Autorin mit Tiamat in Houston.

Foto: Broadly

Tiamat hat Diskriminierung, Missbrauch und sexualisierte Gewalt erfahren – all diese Ungerechtigkeiten wurden ihr von Menschen zugefügt. Deshalb hörte sie irgendwann auf, sich mit unserer Spezies zu identifizieren. Als sie sich mir gegenüber öffnet und über ihre Vergewaltigung und die spätere HIV-Diagnose spricht, verstehe ich: Warum sollte Tiamat menschlich sein wollen, wenn Menschen ihr so viel Leid zugefügt haben?

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Wenn sie stirbt, möchte Tiamat nicht so aussehen, wie die Menschen, die sie verletzt haben. Darum begann Tiamat ihr menschliches Äußere abzulegen und sich somit von der Menschheit zu distanzieren. Auf diese Weise kann sie endlich neben Menschen leben, ohne sich unwohl zu fühlen, sagt sie.

Tiamat wirkt wie ein Drache, eine mystische Kreatur, der es gelungen ist, die Grenzen des menschlichen Körpers zu überwinden.

Mit Erfolg: Als ich Tiamat treffe, wirkt sie überhaupt nicht menschlich. Sie wirkt wie ein Drache, eine mystische Kreatur, der es gelungen ist, die Grenzen des menschlichen Körpers zu überwinden. Als Transfrau kann ich diesen Vorgang nachvollziehen. Tatsächlich glaube ich, dass es zwischen uns keinen großen Unterschied gibt. Als ich mir Brüste wachsen und mich operieren ließ, um mein Geschlecht anzugleichen, fühlte ich mich ähnlich von der Männlichkeit befreit, wie Tiamat sich nun von der Menschheit befreit fühlt.

Tiamat zeigt mir ihre Wohnung und dann das Taco-Restaurant, in dem sie jeden Morgen frühstückt. Ständig bitten Fremde sie um Selfies, die sie dann in Sozialen Netzwerken posten. Einige Menschen finden Tiamat vielleicht furchteinflößend, aber sie strahlt eine solch positive und magische Energie aus, dass viele sie anziehend finden.

Als Tiamat mir eine Fledermauskolonie zeigt, die unter einer nahegelegenen Brücke wohnt, kommen zahlreiche Menschen auf uns zu, wollen mit ihr Fotos machen oder einfach nur mit ihr reden. Besonders berührend sind die Begegnungen mit Kindern, für die Tiamat eine lebendig gewordene Märchenfigur verkörpert.

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Drachenlady Tiamat zeigt ihre gespaltene Zunge.

Foto: Broadly

Tiamat steht oben auf der Brücke, als die Fledermäuse aufwachen und zu Tausenden in den Himmel aufsteigen. Sie formen eine dunkle, flatternde Wolke, die aussieht, als ob sie aus der Drachen-Lady selbst strömt. Tiamat erzählt mir, dass sie gerne mit Fledermäusen zusammenleben würde. Eine Höhle wäre ihr ideales Zuhause.

Als ich Houston verlasse, merke ich, dass Tiamat mich tief beeindruckt hat. Vor unserem Treffen dachte ich, dass sie eine interessante Geschichte zu erzählen hätte – ich ahnte nicht, wie sehr ich mich mit ihrer Suche nach ihrer wahren Identität identifizieren können würde.

Meiner Meinung nach ist die Modifikation des eigenen Körpers etwas grundlegend Menschliches. Jede Veränderung, die wir an unserem Körper vornehmen, ist ein Kräftemessen zwischen unserem Willen und dem Körper, in den wir hineingeboren wurden – sei es durch Training, Diäten, Schönheitsoperationen, eine neue Haarfarbe, eine Geschlechtsumwandlung oder die Transformation in einen Drachen. Jeden Tag treffen wir Entscheidungen, um unserem inneren Ideal näherzukommen, Tiamats Methoden sind nur außergewöhnlicher als die der meisten Menschen.


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Tiamat hat mir gezeigt, was Selbstliebe für sie bedeutet. Sie hat es geschafft, die schrecklichen Erlebnisse hinter sich zu lassen und ihr Leben voll Freude und Hoffnung fortzuführen. Auf die Frage, wie sie das geschafft hat, antwortet sie:

"Du bist nur verloren, wenn du es selbst zulässt. Du musst dich selbst lieben, mehr, als jemand anderes es je verstehen könnte. Du hast etwas Besseres verdient – wenn du es nicht in deinem Umfeld findest, musst du danach suchen. Als Erstes musst du es in dir selbst finden."

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