"Es war ein wundervolles Abenteuer": Wenn sich Sexarbeiterinnen zur Ruhe setzen
Illustration by Grace Wilson

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Beruf

"Es war ein wundervolles Abenteuer": Wenn sich Sexarbeiterinnen zur Ruhe setzen

Früher schwang Mistress Suz unerbittlich die Peitsche, heute wendet die ehemalige Domina ihre Bondage-Kenntnisse an Truthahnbrüsten in einer Klosterküche an.

Nach zehn Jahren als professionelle Domina wurde Mistress Suz bewusst, dass es an der Zeit war, einen neuen Weg einzuschlagen. "Ich bin alt geworden", sagt sie. Ihre Stammkunden hatten zwar nichts dagegen, dass ihre Domina 40 Jahre alt ist, aber die körperlichen Strapazen ihres Berufs wurden ihr selbst einfach zu viel.

Mittlerweile ist Mistress Suz 50, erinnert sich aber trotzdem noch lebhaft an ihre Zeit in der Erotikbranche. "Ich hatte einen Tennisarm, weil ich zehn Jahre lang die Peitsche geschwungen habe und dann kam noch eine Verletzung in der Schulter dazu." Mistress Suz befand sich an einem Scheidepunkt in ihrem Leben und wusste nicht genau, wie es weitergehen sollte. Also tat sie das, was schon viele frisch geschiedene Frauen und ausgebrannte Autorinnen vor ihr getan haben: Sie ging in ein buddhistisches Kloster.

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Nach knapp zwei Monaten leitete sie die Küche des Klosters. Die professionelle Sadistin hatte ihre neue Berufung als professionelle Köchin gefunden.

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Mistress Suz hatte ein Talent, dass sie zu einer Bereicherung in jeder Küche machte: ihre geschickter Umgang mit Seilen. Als sie vom Küchenchef gebeten wurde, die Truthahnbrust zu binden, war er beeindruckt, wie schnell sie seine Anleitung umsetzen konnte. Ihre neuen Kollegen wussten nicht, dass es einen Grund hatte, warum Mistress Suz so viel Erfahrung beim Binden von Fleisch hatte: Es war dieselbe Technik, die sie über Jahre an unzähligen unterwürfigen Klienten angewandt hatte.

Nicht alle Sexarbeiter können die Fähigkeiten aus ihrem vorherigen Beruf so eindrucksvoll zur Anwendung bringen. Allerdings schnappen sie Fähigkeiten auf, die sich auf ihre berufliche Zukunft übertragen lassen. Nur wenige bleiben ein Leben lang in der Branche, die Gründe, weshalb sie aufhören, sind allerdings sehr vielfältig. Manche von ihnen kehren auch zeitweise in ihren alten Beruf zurück.

"Sie gehen aus ganz unterschiedlichen Gründen", erklärt Raven Bowen von der Universität von York. Vor ihrer akademischen Laufbahn hat Bowen über mehrere Jahrzehnte für eine Organisation gearbeitet, die die Sexarbeiter im Westen Kanadas vertritt. "Wenn sie schwanger werden oder sich verlieben, hören die meisten direkt auf. Mittelständische Sexarbeiter legen sich hingegen oft einen Plan zurecht, wie sie den Übergang gestalten wollen: Sie arbeiten nebenbei in ganz alltäglichen Berufen und hören dann nach und nach auf."

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Ich hoffe, dass ich mich mit 45 Jahren als Millionärin zur Ruhe setzen kann.

Ein weiterer Grund sind Kinder, die langsam, aber sicher das Teenageralter erreichen. Gerade Personen, die ihren Beruf vor ihrer Familie geheim halten, bekommen oft Angst, dass ihre Kinder (oder deren Klassenkameraden) herausfinden könnten, in welcher Branche sie tätig sind. Dass Klienten ihre Pretty-Woman-Fantasie ausleben und sich mit ihrer Lieblingshure niederlassen, kommt hingegen eher selten vor – obwohl es auch das schon gab, wie Bowen weiß. "Klienten spielen eine zentrale Rolle beim beruflichen Wechsel vieler Sexarbeiter", erklärt Bowen. "Sie verweisen sie an bestimmte Arbeitgeber oder investieren manchmal sogar in ihren Berufswechsel."

Viele Sexarbeiter betrachten die Branche als kurzfristiges Sprungbrett hin zu einem geregelten (oder "konventionellen") Beruf. Die Meisten wollen dann aufhören, wenn sie genug Geld gespart haben, um beispielsweise ihre Studiengebühren zu zahlen oder ein eigenes kleines Unternehmen zu gründen.

"Manche Frauen arbeiten ein oder zwei Jahre lang als Sexarbeiterin. Sie wissen, dass sie danach wieder aufhören wollen und sparen deswegen ihr Geld", erklärt Laura Watson vom English Collective of Prostitutes. "Sie halten ihre Ausgaben so gering wie möglich, weil sie für die Zeit danach sparen."

In welche Berufe wechseln die Sexarbeiter? "Viele von ihnen machen etwas mit Kosmetik, eröffnen Nagelstudios oder ähnliches", sagt Watson. Entscheidend dabei ist, dass sie keine Einträge im Vorstrafenregister haben – was insbesondere in Ländern, in denen Prostitution verboten ist, schwierig werden kann. Wer vorbestraft ist, hat manchmal einfach keine Möglichkeit mehr, die Branche zu verlassen. "Wir hatten schon mal eine Sexarbeiterin bei uns, die eigentlich nur vorübergehend in der Branche arbeiten wollte, weil sie eine Tochter mit einer Behinderung hatte und nicht wusste, wie sie ihre Rechnungen zahlen sollte", erinnert sich Watson. "Das Geld war also für ganz ganz bestimmten Zweck gedacht und sollte ihr lediglich über einen gewissen Zeitraum hinweg helfen. Doch dann bekam sie einen Eintrag im Vorstrafenregister und konnte im Grunde nicht mehr anders, als als Sexarbeiterin zu arbeiten. Genau aus diesem Grund ist es so wichtig, Sexarbeit zu entkriminalisieren."

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"Ich habe ein spezielles Ruhestandskonto, das nicht besteuert wird und mir bestimmte Konditionen bietet. Einer meiner Kunden hat mir geholfen, jede Menge Geld einzuzahlen und für die Zukunft zu sparen", schreibt Shay in einer E-Mail. Sie arbeitet als Prostituierte an der amerikanischen Westküste. "Ich hoffe, dass ich mich mit 45 Jahren als Millionärin zur Ruhe setzen kann", sagt sie. Allerdings ist das ziemlich unwahrscheinlich, wie sie selbst zugeben muss. Shay verlangt umgerechnet rund 370 Euro die Stunde und 1.800 Euro die Nacht. Sie hat sich schon einen konkreten Plan zurechtgelegt, wie sie ihren Ausstieg aus der Sexarbeit gestalten wird. Wie bei jedweder Art von Freiberuflichkeit ist ein guter Finanzberater dabei schon die halbe Miete. "Buchhaltung ist ein Muss, allerdings bin ich ziemlich schlecht darin. Außerdem kann man leicht den Überblick verlieren. Das Steuerrecht ist eine komplizierte Angelegenheit. Ich kenne eine Steuerberaterin, die sich auf Sexarbeiterinnen spezialisiert hat. Sie ist ein echter Engel."

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Dass auch Menschen aus der Sexbranche Geld für ihre Rente zurücklegen oder auf ein Eigenheim sparen, weiß Marie Thomasson. Die 37-jährige Finanzberaterin aus LA hat sich darauf spezialisiert, Sexarbeitern bei der Verwaltung ihrer Finanzen zu helfen. "Das größte Kapital von Sexarbeiterin ist in der Regel ihr Körper – allerdings kann ihr Vermögen ziemlich schnell an Wert verlieren. Deswegen ist es gerade für Sexarbeiter so wichtig, etwas zur Seite zu legen. Wenn sie die Branche dann eines Tages verlassen oder sich zur Ruhe setzen wollen, kommt es darauf an, dass sie einen Plan haben. Entscheidend ist dabei ein entsprechender Finanzplan und ausreichende Rücklagen." Bewahre einen kühlen Kopf, aber mach dir einen Kopf, rät Thomasson. Wer als Sexarbeiter umsichtig mit seinen Finanzen umgeht, könnte sich dann schon mit 35 oder 40 Jahren zur Ruhe setzen.

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Ein wichtiger Aspekt dabei ist allerdings auch die psychische und physische Gesundheit. "In den neun Monaten, die ich als Escort gearbeitet habe, habe ich miterlebt, wie unglaublich schöne und kluge Frauen einfach ihr Leben weggeworfen haben, weil sie nicht mit Geld umgehen konnten", erklärt Shay.

"Wer sich um seine Altersvorsorge kümmern möchte, muss sich auch um seine Gesundheit kümmern. Das umfasst regelmäßige Besuche beim Zahnarzt, Massagen, gesunde Ernährung und regelmäßige Bewegung. Außerdem trinke ich kaum Alkohol. Das ist ein entscheidender Bestandteil meiner Altersvorsorge und gibt mir auch die nötige Energie, um stressige Zeiten durchzustehen."

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Viele, die die Branche verlassen, wechseln in angrenzende Berufsfelder – zum Beispiel in eine akademische Laufbahn oder in Organisationen, die sich für Sexarbeiter einsetzen. "Ich bin gerade mitten in meinem zweiten Studium und habe ein Angebot für eine Doktorandenstelle", sagt Laura Lee, die selbst als Prostituierte arbeitet und sich darüber hinaus auch als Fürsprecherin einsetzt. Sie hat die Regierung von Nordirland verklagt, nachdem sie ein Gesetz verabschiedet hat, das Männer kriminalisiert, die für Sex bezahlen. Lee kann bestätigen, dass viele ihrer Kollegen aus der Branche ähnliche Wege einschlagen wie sie. "Manche von ihnen haben ganz konkrete, finanzielle Ziele, die sie erreichen wollen: eine Hypothek abzuzahlen oder das Studium ihrer Kinder zu finanzieren."

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Ob man seinen bisherige berufliche Laufbahn offen anspricht oder nicht, kann einen immensen Einfluss auf die zukünftigen Optionen haben. Selbstständig zu sein hat da seine Vorteile, wie Kristy Lin Billuni festgestellt hat. "Ich habe fünf Jahre in der Sexindustrie gearbeitet und muss sagen, dass es eine sehr positive Zeit für mich war", erzählt sie. "Um meinen 30. Geburtstag herum war ich dann aber bereit für einen beruflichen Wechsel. Ich wollte, dass mein Körper wieder nur mir gehört."

Billuni setzt ihre Vergangenheit als Sexarbeiterin mittlerweile als Verkaufsstrategie ein: Sie leitet ein Unternehmen namens Sexy Grammar, das Redaktions- und Lektorendienste anbietet. Wie alle anderen Sexarbeiter, mit denen ich für diesen Artikel gesprochen habe, sagt auch sie, dass sie in dieser Zeit viele Dinge gelernt hat, die ihr in anderen Berufsfeldern weiterhelfen.

Als Domina musste ich immer die Verantwortung übernehmen. Heute muss ich tun, was mein Chef sagt.

"Als Sexualerzieherin habe ich gelernt, Menschen nicht zu verurteilen, sondern ihnen die Möglichkeit zu geben zu sein, wer sie sind und sie dort abzuholen, wo sie gerade stehen. Das sind Fähigkeiten, die ich schon als Sexarbeiterin lernen musste", erklärt Billuni. "Außerdem hat mir meine Arbeit einige wertvolle Werkzeuge an die Hand gegeben, um Menschen durch ihre kreativen Prozess zu helfen."

Doch nicht jede Karriere in diesem Gewerbe hat ein glückliches und planmäßiges Ende. In einigen Fällen ist der Ausstieg aus der Branche eine chaotische und langwierige Angelegenheit. Allein das Stigma abzulegen, dass die Arbeit in der Sexindustrie nach wie vor umgibt, kann sich zum Teil sehr schwierig gestalten. Noch schwieriger kann es allerdings werden, wenn man ungewollt geoutet wird – eine Erfahrung, die viele Frauen machen müssen.

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"Ich habe schon mit Sexarbeiterinnen gesprochen, die gezwungen waren, ihre Arbeitsstelle aufzugeben und in zwielichtigeren oder gefährlicheren Berufen zu arbeiten", sagt Bowen. "Wenn Leute herausfinden, dass sie in der Sexindustrie gearbeitet haben, schaffen es viele nicht, das Stigma hinter sich zu lassen und ihre Erfahrungen in ihren neuen Beruf zu integrieren. Stattdessen werden sie als sozial unangepasst und unzuverlässig abgestempelt, obwohl sie sich genau wie alle anderen für ihren Beruf qualifiziert haben."

Wie bei jedem Berufswechsel blicken auch viele ehemalige Sexarbeiter auf ihre Zeit in der Sexindustrie mit gemischten Gefühlen zurück. Manche sahen darin schon immer ein Mittel zum Zweck: eine Möglichkeit, ihre Studienschulden zu begleichen, ein Darlehen abzuzahlen oder in schwierige Zeiten ihre Rechnungen zu bezahlen, wenn alle anderen Optionen ausgeschöpft sind. Andere betrachten ihre Zeit als Sexarbeiter als positive Erfahrung, aus der sie mit der Zeit herausgewachsen sind. Wie viele andere Sexarbeiter frustriert es auch Billuni zu sehen, mit welchen Augen unsere Gesellschaft sie sieht. "Menschen betrachten Sexarbeit als etwas, dem man entkommen muss", sagt sie. "Für mich war es vielmehr ein wundervolles Abenteuer, das mich zu der Person gemacht hat, die ich heute bin und das ich auch genossen habe."

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Auch Mistress Suz blickt gern auf ihre Zeit als Domina zurück, auch wenn sich seither einiges verändert hat. "Als Domina musste ich immer die Verantwortung übernehmen", erinnert sie sich. "Heute muss ich tun, was mein Chef sagt und er hat die ganze Verantwortung."

Trotz des Rollentauschs fühlt sich Mistress Suz ziemlich wohl. Sie genießt es, mal die andere Seite eines Machtverhältnisses kennenzulernen. Zumindest im Moment: "Wie in jeder Dom/Sub-Beziehung funktioniert das nur solange, wie es der Sub zulässt. Wenn ich mich irgendwann weiterentwickeln möchte, dann werde ich eben die Sous-Chefin und sage anderen, was zu tun ist."