Ein Orca taucht vor einem Regenbogen aus dem Wasser, die Wale haben in letzter Zeit vermehrt Segelboote angegriffen.
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Unsere Faszination für den Orca-Aufstand hat etwas Trauriges

Warum wünschen wir uns so sehr, einen orcanisierten Widerstand zu erleben?

Die Orcas sind gerade komisch drauf. Vor der Küste Gibraltars hat eine Gruppe Orcas dieses Jahr mehrere Segelboote gerammt, mit den Zähnen ihre Ruder abgerupft und die Schiffe damit manövrierunfähig gemacht – einige sind durch die Schäden sogar gesunken. Andernorts tauchen die Tiere diesen Sommer in ungewöhnlich großer Zahl auf: sowohl im Westatlantik vor der Küste Nantuckets als auch im Ostpazifik vor Kalifornien. Und niemand weiß warum. Natürlich.

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Für Meme-Accounts sind die Meldungen ein gefundenes Fressen. Die Vorstellung ist auch einfach zu schön: Nach Jahrzehnten der Überfischung, Ausbeutung und Vermüllung der Meere schlägt die Natur endlich zurück. Die Tiere wehren sich. Wer Frank Schätzings Der Schwarm gelesen hat, kommt eh schon seit der ersten Meldung nicht mehr aus der Schnappatmung. Aber auch so haben Killerwale mehr als genug Gründe, uns Menschen nicht zu mögen – und die wenigsten würden es den Riesendelfinen verübeln, wenn sie sich jetzt rächen würden.

Orcas sind intelligente und komplexe Wesen. Entsprechend schwierig ist es, ihr Verhalten zu erklären. Dabei sind die vermeintlichen Angriffe auf Boote nichts Neues. Segler berichten seit Jahren von Vorfällen mit Schwertwalen vor Gibraltar. 2022 erschien eine Studie in der Fachzeitschrift Marine Mammal Science, die sich speziell mit dem Verhalten der Orcas in dem Gebiet befasst.

Der Bootskapitän Dan Kriz erlebte bereits 2020, wie Orcas das Ruder seines Schiffs zerstörten. Im April dieses Jahres passierte es wieder. "Wir waren dabei, unseren Kurs gen Süden in Richtung der kanarischen Inseln zu ändern, als wir dachten, wir wären von einer ungünstigen Welle getroffen worden. Beim zweiten Treffer wurde uns aber klar, dass dasselbe wie 2020 passierte", sagte er gegenüber Newsweek. "Meine erste Reaktion war. 'Bitte, nicht schon wieder!' Man kann da nicht viel machen. Sie sind sehr stark und schlau."

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Eine beliebte Theorie zum ungewöhnlichen Verhalten der Orcas stammt aus der oben genannten Studie: Es könnte eine Reaktion auf ein traumatisches Erlebnis mit einem Boot sein, das sich in diesem Gebiet ereignet hat.

"Die Orcas machen das natürlich mit Absicht. Wir kennen ihr Motiv nicht, aber ein durch ein Trauma ausgelöstes Verteidigungsverhalten scheint uns mit jedem Tag wahrscheinlicher", sagte der Biologe und Co-Autor der Studie Alfredo López Fernandez gegenüber Live Science. Eine Orca-Kuh, die die Forscherinnen und Forscher White Gladis getauft haben, hat möglicherweise eine besonders schmerzhafte Begegnung mit einem Boot gehabt. "Dieser traumatisierte Orca hat dann begonnen, seinen Körper gegen die Boote einzusetzen", sagt der Biologe.

Das könnte die Antwort sein, muss aber nicht. Die Mehrheit der Forscherinnen und Forscher ist sich eher einig, dass die Killerwale nicht auf Rache aus sind, sondern eher einer Art Orca-Trend nachgehen.

Wir haben ein paar Killerwalexpertinnen gefragt, was sie von dem vermeintlichen Orca-Aufstand halten. Überraschung: Die finden das alles eher so mäßig witzig. Online sind die Tiere, denen sie ihre ganze Karriere widmen, zum Symbol für Anarchismus und Umweltproteste geworden. In Wahrheit treiben sie wahrscheinlich einfach Schabernack mit teurem Menschenspielzeug. Solche Sperenzchen sind allerdings für die Natur in der Vergangenheit eher schlecht ausgegangen.

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Genau das bereitet auch Deborah Giles Sorgen. Sie ist wissenschaftliche Direktorin der Tierschutzorganisation Wild Orca. "Ich befürchte, dass Menschen die Sache früher oder später selbst in die Hand nehmen", sagt sie, "und Wale verletzen oder gar töten, um so einen Angriff aufzuhalten, wenn er passiert."

Sie vermutet, dass es sich bei den Vorfällen mit den Segelbooten in Wahrheit um spielerisches oder soziales Verhalten handelt. Ein junger Wal könnte damit angefangen haben und es innerhalb seiner Gruppe weitergegeben haben. 

Die Traumatheorie ergibt für Giles nicht viel Sinn: "Wenn das der Fall wäre, dann würden sie Fischerboote angreifen – und das tun sie nicht. Sie haben es nur auf Boote mit Kiel abgesehen. Für Motorboote scheinen sie sich gar nicht zu interessieren." 

Menschen, die so eine Orca-Boot-Begegnung miterlebt haben, berichten, dass sie den Eindruck hatten, die Tiere würden zielgerichtet handeln. Eine Seglerin, deren Boot vor der französischen Küste von Killerwalen attackiert wurde, sagte gegenüber NPR: "Sie haben uns wiederholt gerammt und den Eindruck gemacht, dass das ein koordinierter Angriff ist."

Wenn eine Gruppe Orcas ernsthaften Schaden anrichten wollen würde, könnte sie das auch. Die Tiere sind schlau und stark genug, um sich wirklich zu wehren. "Wenn die Wale das wirklich wollten, dann würde das auch passieren", sagt Monica Bacchus vom Killer Whale Research and Conservation Program der National Fish and Wildlife Foundation. "Aber das beobachten wir momentan nicht." In den Fällen, die seit 2020 gemeldet wurden, haben die Wale immer nach einiger Zeit wieder von den Booten abgelassen. "Es hat nur mit dem Ruder und dem Rumpf zu tun. Sie springen nicht aus dem Wasser und reißen Menschen vom Schiff."

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Trotz ihres Namens ist in der freien Natur bislang kein tödlicher Killerwalangriff auf einen Menschen dokumentiert worden. Dabei hätten ein paar von uns es durchaus verdient! Giles erinnert an die unfassbaren Grausamkeiten, die Wale im nordwestlichen Pazifik der 1960er und 70er Jahre vor allem durch die Walfangindustrie erleben mussten. Ein Wal habe mitangesehen, wie seine Mutter vor seinen Augen erschossen, dann harpuniert und schließlich kilometerweit durch den Ozean geschleppt wurde, sagt die Wissenschaftlerin Deborah Giles. Aber dieser Wal habe niemals die Menschen angegriffen, die das getan haben – auch die Gruppe, die alles mitbekommen hatte, habe nichts getan.

"Wenn eine Gruppe Killerwale Grund zur Rache gehabt hätte, dann diese", sagt Giles. "Und trotzdem kam es weder zu Aggressionen gegenüber Schiffen noch Menschen."

Aber machen die Wale das vielleicht doch aus Selbstverteidigung? Walschützerin Monica Bacchus geht nicht davon aus. "Das ist nichts Neues", sagt sie. "Was ist mit dem Buch Moby Dick? So etwas hat sich im Laufe unserer Geschichte immer wieder abgespielt. Jetzt passiert es halt wieder, so wie eine Mode, die neu aufflammt." Verhaltensforscher sind auf jeden Fall sehr fasziniert davon und beobachten die Wale mit großem Interesse. In den 1990ern war es in einer Orca-Gruppe angesagt, Fische zu töten und dann mit ihnen auf dem Kopf rumzuschwimmen.

"Es ist immer cool zu beobachten, wie Tiere neue Dinge tun", sagt Bacchus. "Ich finde, dass man an diesem Beispiel sehr gut sehen kann, dass wir uns gar nicht so sehr von den Tieren im Meer und an Land unterscheiden."

Und gerade weil Orcas so clever sind, sind sie eine großartige Projektionsfläche für unsere Zukunftsängste und Hoffnungen, seien sie noch so fantasievoll. Wir Menschen wollen immer alles in eine Geschichte packen und suchen nach Analogien in die Natur, auf die wir unsere Ängste zur Wohlstandsungleichheit oder der voranschreitenden Zerstörung unseres Planeten projizieren können. Aber leider können die Orcas höchstwahrscheinlich weder uns noch sich selbst vor diesen Problemen retten. 

Am Ende ist vielleicht auch alles supersimpel: Laut einer anderen Theorie stehen die Killerwale auf den Wasserdruck von sich drehenden Schiffsschrauben. Das Rumgerupfe am Ruder eines Segelbootes könnte also eine Aufforderung sein, den Motor einzuschalten. Orcas bringen nicht die Revolution. Orcas mögen einfach Whirlpools.

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