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Menschen

Auch Frauen vergewaltigen Männer – und wir müssen endlich darüber reden

In einer neuen Studie gaben zwei Drittel der Männer an, dass sie bereits Opfer eines sexuellen Übergriffs durch eine Frau geworden sind.
Symbolbild eines Mannes der nach einer Vergewaltigung durch eine Frau in der Dusche sitzt und weint
Photo by Rachel Bellinsky via Stocksy

Die Umfrage zum Thema sexuelle Gewalt des amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) hat viele gute Seiten, sagt die Rechtsprofessorin Lara Stemple von der University of California in Los Angeles. „Der Interviewer wird dazu ausgebildet, viele Fragen zu stellen und sicherzustellen, dass sich die Teilnehmer während der Befragung wirklich wohlfühlen", erklärt sie. „Außerdem bietet die Gesundheitsstudie den Leuten einen passenden Anlass, um über ihren Körper und ihr persönliches Wohlbefinden nachzudenken."

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Ein Problem gibt es allerdings mit den Ergebnissen: Das CDC lässt Männer, die durch Nötigung, körperliche Gewalt oder fehlenden Konsens zur Penetration einer anderen Person gezwungen wurden, vollkommen außer Acht. Die Statistiken zu diesem Verbrechen werden einfach unter der Kategorie „andere Viktimisierung" aufgelistet. Was noch unter diese Kategorie fällt? „Berührungsfreie ungewollte sexuelle Erfahrungen."

„Verbrechen wie diese werden auf dieselbe Stufe gestellt wie Menschen, die einem Exhibitionisten über den Weg laufen oder sich von Fremden irgendwelche anstößigen Kommentare anhören müssen", sagt Stemple. „Es gibt keinen Kontext und bagatellisiert den Missbrauch komplett."

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Die lasche Sprache, die das CDC adaptiert hat, um über männliche Opfer von sexueller Gewalt zu sprechen, verdeutlicht eine beunruhigende Tendenz unter Forschern, Strafverfolgungsbehörden und dem allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs, sagt Stemple. Es wird impliziert: „Für Männer ist jede Form des sexuellen Kontakts positiv."

„Die Art, wie wir über Männer und Sex sprechen, muss sich ändern", sagt Stemple. „Solange es solche Klischees über Männer gibt, wird es ihnen immer schwer fallen, sich zu Wort zu melden, wenn sie Opfer eines Übergriffs wurden."

Stemples Forschungsarbeit konzentriert sich seit Langem auf die Untersuchung der lückenhaften Dokumentation von sexueller Gewalt gegen Männer. Im Rahmen einer Arbeit über männliche Opfer sexueller Gewalt aus dem Jahr 2014 analysierte sie mehrere US-amerikanische Untersuchungen. Dabei stellte sie fest, dass die Zahlen von nicht einvernehmlichen sexuellen Kontakten bei Männern und Frauen grundsätzlich gleich sind, wenn auch die Fälle berücksichtigt werden, in denen Männer zur Penetration einer anderen Person gezwungen wurden: 1.267 Millionen Männer gaben an, dass sie Opfer von sexueller Gewalt geworden sind, während es bei den Frauen 1.270 Millionen waren.

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Auch in Deutschland gibt es kaum repräsentative Untersuchungen, die sich mit dem Thema sexuelle Gewalt gegen Männer beschäftigen, wie eine Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend festgestellt hat. Den einzigen Hinweis auf die Zahl der sexuellen Übergriffe gegen Männer bietet die polizeiliche Kriminalstatistik. Im Vergleich zu den Fallzahlen weiblicher Opfer sind diese sehr gering, allerdings muss auch bei den Männern mit einer hohen Dunkelziffer gerechnet werden, da viele Fälle nicht zur Anzeige gebracht werden.

Ich habe mal einen Mann getroffen, der als Kind von einer Frau missbraucht wurde und bis heute Angst davor hat, mit einer Frau allein in einem Raum zu sein.

Die Kategorie „erzwungene Penetration" ist nicht die Art von Gewalt, die wir uns vorstellen, wenn wir an sexuelle Übergriffe denken, wie Hanna Rosin in einem Artikel für das Onlinemagazin Slate über Stemples Untersuchung aus dem Jahr 2014 schrieb. Allerdings kann es dieselben psychologischen und körperlichen Folgen haben—darunter sexuelle Funktionsstörungen, Depressionen, Verlust von Selbstbewusstsein und Schwierigkeiten in langfristigen Beziehungen.

Um zu verstehen, welche Auswirkungen sexuelle Übergriffe auf männliche Opfer haben, sind allerdings noch viele weitere Untersuchungen notwendig. Stemples aktuelle Untersuchung konzentriert sich auf die Täter selbst. Im Rahmen einer neuen Studie, die im November erschien, hat sie gemeinsam mit zwei weiteren Forschern vier groß angelegte Studien des CDC und des Bureau of Justice Statistics untersucht, um mehr über das Verhalten von weiblichen Sexualstraftätern zu erfahren. Hierzu wurden sowohl männliche als auch weibliche Opfer analysiert. Die Ergebnisse widersprechen der weit verbreiteten, stereotypen Vorstellung, dass Frauen selten sexuelle Gewalt ausüben.

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Foto: Spencer Selover | Pexels | CC0

„Die Öffentlichkeit glaubt, weibliche Täter wären eine Seltenheit", sagt Stemple. „Sie behandeln es wie eine Art Glücksfall—wie eine Lehrerin, die ein Verhältnis mit einem Schüler hat. Es ist aber ziemlich weit verbreitet und niemand scheint das zu wissen. Das erstaunt mich."

Die Gefahr, die von weiblichen sexuellen Triebtäter ausgeht, wurde lange Zeit über missverstanden und von der Forschergemeinde bagatellisiert. Obwohl über die Möglichkeit in der Fachliteratur bereits in den 1930er-Jahren zum ersten Mal diskutiert wurde, begann man erst in den 1990er-Jahren damit, systematische Studien zu sexuellen Übergriffen durch weibliche Täter durchzuführen. Allerdings blieb die Forschungsarbeit nach wie vor rückständig und hat sich zunächst vor allem auf den sexuellen Missbrauch von Kindern konzentriert. Erst in den vergangenen zehn Jahren begann die Forschung in diesem Bereich aufzuholen.

Stemples neue, breit angelegte Studie präsentiert die Ergebnisse einer aktuellen Telefonumfrage des CDC, bei der festgestellt wurde, dass 68,8 Prozent der Männer, die angaben, Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden zu sein, von weiblichen Tätern berichten. Gleichzeitig führten 79,2 Prozent der Männer, die zur Penetration gezwungen wurden—„die Art von nicht einvernehmlichem Sex, den Männer im Laufe ihres Lebens mit erhöhter Wahrscheinlichkeit erleben", so die Studie—einen weiblichen Täter an.


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Die Autoren der Studie haben sich auch angesehen, wie weibliche Triebtäter hinter Gittern agieren. Laut Umfragen des Bureau of Justice Statistics—die im Unterschied zu anderen Studien keine Probleme mit Begriffen wie „Blowjobs" hat, wodurch laut Stemple die Genauigkeit erhöht wird—werden weibliche Insassen sehr viel öfter von anderen weiblichen Insassen missbraucht als von der männlichen Belegschaft. Unter den erwachsenen Gefängnisinsassen, die berichteten, dass sie Opfer eines sexuellen Übergriffs wurden, gaben 80 Prozent ausschließlich weibliche Täter an. Unter Jugendlichen war die Zahl mit 89,3 Prozent sogar noch höher. Angesichts des Bildes, das die Popkultur vom Gefängnisalltag zeichnet, dürfte aber wohl am überraschendsten sein, dass dieselbe Studie auch festgestellt hat, dass die Zahl der sexuellen Übergriffe unter weiblichen Gefangenen grob überschlagen dreimal höher war als unter männlichen Insassen.

Die Öffentlichkeit glaubt, weibliche Täter wären eine Seltenheit", sagt Stemple. „Sie behandeln es wie eine Art Glücksfall—wie eine Lehrerin, die ein Verhältnis mit einem Schüler hat.

Angesichts dieser Statistik wirk es umso erstaunlicher, dass es nur so wenige Frauen gibt, die im Verzeichnis für Sexualstraftäter landen. Im Rahmen einer Studie, die in fünf amerikanischen Bundesstaaten durchgeführt wurde, stellten die Forscher fest, dass lediglich 0,8 bis drei Prozent der registrierten Sexualstraftäter weiblich sind. Andere Studien kamen auf einen Anteil von weniger als zwei Prozent.

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Darüber hinaus gibt es zahlreiche Hürden für Männer, die eine Vergewaltigung melden wollen. Laut Stemples Studie schämen sich viele, einen solchen Vorfall zu melden, weil es die weitverbreitete Vorstellung gibt, dass Frauen keine Bedrohung darstellen würden. Manche lügen auch und sagen, dass sie in Wirklichkeit von einem anderen Mann sexuell missbraucht worden wären. Wieder andere werden dazu gezwungen, ihre Viktimisierung zu einer Art „Übergangsritus" umzudeuten. Studien zeigen, wenn Männer älter werden, wird ihnen sehr viel eher die Schuld für den Übergriff gegeben als weiblichen Opfern.

Geschlechterstereotypen, die Männer im Grunde als „nicht missbrauchbar" darstellen, tragen auch nicht zur Verbesserung dieses Umstands bei. Die Mehrheit der College-Studenten, die 1992 an einer Umfrage teilnahmen, glaubte nicht, dass „ein großer, starker Mann von einer Frau missbraucht werden könnte." Eine vergleichbare Gruppe von jungen Erwachsenen, die 2012 im Rahmen einer Studie befragt wurde, gab an, dass ein Mann, der von einer Frau missbraucht wird, nicht „besonders schockiert" sein dürfte.

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Über die Viktimisierung von Frauen durch andere Frauen ist sogar noch weniger bekannt „als über die Übergriffe von Frauen auf das andere Geschlecht", so die Studie. „Heterosexismus kann Lesben und bisexuelle Opfer in den Augen von Fachleuten unsichtbar für die Gefahr von sexuellen Übergriffen durch weibliche Täter machen", merkt die Studie an. „Es gibt zwar einige Opferberatungsstellen, die Angebote speziell für lesbische Frauen ins Leben gerufen haben, grundsätzlich haben lesbische und bisexuelle Frauen aber nach wie vor das Gefühl, dass Hotlines, Selbsthilfegruppen und rechtliche Hilfsorganisationen primär auf sexuelle Gewalt mit einem weiblichen Opfer und einem männlichen Täter ausgerichtet sind."

„Ich habe mal einen Mann getroffen, der sich mit diesem Problem auseinandergesetzt hat. Er wurde als Kind von einer Frau missbraucht", sagt Stemple, „und hat bis heute Angst davor, mit einer Frau allein in einem Raum zu sein. Wie man sich vorstellen kann, fällt es ihm ziemlich schwer, sich anderen mitzuteilen, weil er denkt, dass er sich dann blamieren würde. Mittlerweile sieht er sich selbst als Überlebenden und nicht mehr als Opfer—das kommt sehr selten vor. Umso mehr kann man sich vorstellen, dass es mit Sicherheit noch viele andere Männer gibt, die diese Angst teilen und sich deshalb nicht zu Wort melden—vor allem wenn der Täter weiblich ist."