Wenn in der Pubertät nur eine Brust wächst

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Gesundheit

Wenn in der Pubertät nur eine Brust wächst

Klar, Brüste sind niemals komplett gleich groß. Beim Poland-Syndrom ist der Unterschied aber ungleich dramatischer.

Lesli Robert begann sich Sorgen zu machen, als sie in die Pubertät kam und nur ihre rechte Brust größer wurde. Ihre linke Brust blieb unverändert. "Meine Mutter und mein Arzt haben meine Sorgen immer wieder abgetan. Sie dachten, die linke Seite würde schon noch aufholen", sagt die 24-Jährige. "Doch dem war nicht so."

Schließlich wurde bei ihr das Poland-Syndrom diagnostiziert, eine seltene Fehlbildung, die im Mutterleib entsteht und nur eine Körperhälfte betrifft. Bei Frauen hat das meist zur Folge, dass sie in der Pubertät auch nur eine Brust bekommen. Je nachdem, wie ausgeprägt die Störung bei den Betroffenen ist, kann es auch zu Fehlbildungen der Arme, der inneren Organe, der Brustmuskulatur oder den Fingern kommen, die zu kurz und/oder zusammengewachsen sein können.

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Dr. James H.W. Clarkson, dessen Großvater das Syndrom in den 1960er-Jahren entdeckt und benannt hat, ist Arzt und spezialisiert auf Plastisch-Rekonstruktive Chirurgie. Er erklärt, dass die Störung doppelt so oft an der rechten Körperhälfte auftritt und mehr Männer als Frauen betrifft. Allerdings bekommen die meisten Frauen ihre Diagnose auch erst, wenn sie in die Pubertät kommen, weil das Syndrom oft erst dadurch zutage tritt, dass nur eine Seite der Brust größer wird – eine Erfahrung, die schwere psychische Folgen für die betroffenen Frauen haben kann.

"Meine rechte Brust hat sich überhaupt nicht entwickelt. Das hat mich in meiner Jugend extrem verunsichert", sagt die Autorin Melissa Amaya, 36. "Niemand hat jemals etwas zu mir gesagt, aber ich hatte oft das Gefühl, dass es ziemlich offensichtlich wäre."

Im Gegensatz zu Lesli bekam Melissa ihre Diagnose schon als Kind und wurde an der rechten Hand operiert, um sie besser bewegen zu können. "Mir fehlt auch der rechte Brustmuskel", erklärt sie. "Meine komplette rechte Seite – mein Arm und meine Brust – sind ein wenig schwächer. Als Kind ist mir das nicht groß aufgefallen, aber als ich in die Pubertät kam, wurde es mir immer bewusster."

"Die anderen Kinder haben mich schikaniert und beschimpft. Das ging sogar so weit, dass sie mich begrabscht und unter mein T-Shirt geschaut haben."

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Wodurch die Störung auftritt, ist bisher noch nicht bekannt, sagt Dr. Clarkson. Man geht aber davon aus, dass das Syndrom durch eine willkürliche Gefäßverletzung oder ein Blutgerinnsel ausgelöst wird, wenn sich der Fötus noch im Embryonalstadium befindet. Das hat zur Folge, dass es zu einer sogenannten Hemmungsmissbildung in einer Körperhälfte kommt. Man geht nicht davon aus, dass das Syndrom eine erbliche oder genetische Ursache hat.

Das Poland-Syndrom ist vergleichsweise selten und tritt nur bei einer von 30.000 bis 100.000 Geburten auf. Umso unwahrscheinlicher ist aber auch, dass die betroffenen Frauen schon mal von dem Poland-Syndrom gehört haben, bevor sie ihre Diagnose bekommen. Dieser Umstand kann ihr Gefühl der Ausgrenzung und ihre Ängste zusätzlich verstärken. "Womöglich sind sie verunsichert und haben Angst, dass man sich über sie lustig machen könnte", sagt Professor Diana Harcourt, Vizedirektorin des Centre for Appearance Research von der University of the West of England in Bristol. "Vielleicht sind sie so verunsichert, dass sie Situationen wie Umkleidekabinen meiden, weil sie befürchten, wegen ihrem Körper vorgeführt zu werden."


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Tatsächlich erzählen viele Betroffene, dass sie in ihrer Jugend häufig von Gleichaltrigen gehänselt wurden. "Ich musste immer früher aus dem Schwimmunterricht gehen, damit mich niemand sieht", sagt Louise Knight, 27, aus England. "Ein Mädchen ist mir sogar mal nachgelaufen und hat mich mit Fragen gelöchert, [als sie gesehen hat] wie ich meine Silikonprothese gewaschen habe. Der schlimmste Tag meines Lebens war allerdings, als die Papiertaschentücher, mit denen ich meinen BH ausgestopft habe, während des Sportunterrichts herausfielen."

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Lesli musste ähnliche Erfahrungen machen. "Ich wurde in der Mittelstufe immer wieder gehänselt", erinnert sie sich. "Die anderen Kinder haben mich schikaniert und beschimpft. Das ging sogar so weit, dass sie mich begrabscht und unter mein T-Shirt geschaut haben."

Die meisten Frauen mit dem Poland-Syndrom unterziehen sich irgendwann einer Schönheitsoperation und lassen sich auf der betroffenen Seite ein Brustimplantat einsetzen. Auch die drei Frauen, mit denen ich mich unterhalten habe, haben eine Brust-OP vornehmen lassen.

"Als man entschieden hat, die OP bei mir zu machen, war ich noch viel zu jung, um zu wissen, was das tatsächlich bedeutet."

"Meine Operation hat mir geholfen, im Verlauf der Schulzeit selbstbewusster zu werden", sagt Lesli, die ihre Brust-OP schon mit 14 Jahren hatte. "Man konnte mir nicht mehr ansehen, dass ich einen Geburtsfehler hatte und ich musste auch keinem mehr davon erzählen, wenn ich nicht wollte. Nachdem ich die Schule gewechselt hatte, wurde es dann sogar noch besser, weil es niemanden mehr gab, der davon wusste. Inzwischen fühle ich mich viel wohler, wenn ich ein Tanktop oder einen Badeanzug trage. Ich muss aber auch zugeben, dass ich mir manchmal noch immer Sorgen darüber mache, dass jemand davon erfahren oder mich darauf ansprechen könnte."

Wie bei jeder anderen Operation können natürlich auch bei einer Brust-OP Komplikationen auftreten – und auch das Ergebnis ist nicht immer wie erhofft. Louise hat inzwischen ihre dritte OP hinter sich: Ihr wurde zweimal die falsche Implantatgröße eingesetzt. Außerdem hatte sie noch eine Operation, bei der ihr Rückenmuskel dazu verwendet wurde, um ihren Brustmuskel zu rekonstruieren und ihr ein Gewebe-Expander eingesetzt wurde. "Ich wünschte, ich hätte mich dagegen entschieden", sagt sie. "Ich habe jeden Tag Schmerzen. Als man entschieden hat, die OP bei mir zu machen, war ich noch viel zu jung, um zu wissen, was das tatsächlich bedeutet."

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Louise bekam als Teenager einen Gewebeexpander eingesetzt, um die Haut ihrer Brust zu dehnen. Doch auch heute, elf Jahre später, leidet sie noch immer unter Verhärtungen, die durch das vernarbte Gewebe und den konstant überdehnten Brustmuskel entstanden sind. Sie versucht momentan, ihre Ärzte dazu zu bewegen, den Expander und den Muskel wieder zu entfernen und eine andere Möglichkeit zu finden, um ihre Brust wiederherzustellen. "Meine Operation wird von der Krankenkasse allerdings als rein kosmetischer Eingriff eingestuft. Deswegen lassen sie lieber die Finger von mir", sagt sie. "Ich werde den Rest meines Lebens Schmerzen haben. Das macht mich zutiefst traurig. Ich muss im Moment Antidepressiva gegen meine Angststörung nehmen, die ich durch die ganzen Probleme mit meiner Brust entwickelt habe."

"Was man tatsächlich sieht, ist eigentlich nur die Spitze des Eisbergs. Darunter verbirgt sich meist ein noch viel größerer Kampf."

Melissa hat sich ebenfalls operieren lassen. Ihre Brüste sind inzwischen zwar symmetrisch, wie sie sagt, doch sie leidet an der Stelle, wo ihr großer Rückenmuskel sein sollte, noch immer unter einem ziehenden Schmerz – eine Folge davon, dass er zur Rekonstruktion ihrer Brust verwendet wurde. Außerdem wird sie nur noch bedingt in der Lage sein zu stillen, weil sie ihre gesunde Brust straffen lassen musste, damit beide Brüste symmetrisch aussehen.

"Ausgehend von dem, was ich heute weiß, bin ich nicht sicher, ob ich mich nochmal operieren lassen würde", sagt Melissa. "Ich glaube, ich würde stattdessen lieber eine Prothese nehmen, die ich im BH tragen kann."

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Die "inneren, emotionalen Angelegenheiten" sind in ihren Augen noch immer das Schwierigste am Poland-Syndrom. "Dieses Gefühl, nicht 'gut genug' zu sein oder weniger weiblich zu sein, weil die Brust beeinträchtigt ist. Die sozialen Unsicherheiten, wenn man jemandem die Hand geben muss und nicht weiß, wie der andere auf meine Hand reagieren wird. Was man tatsächlich sieht, ist eigentlich nur die Spitze des Eisbergs. Darunter verbirgt sich meist ein noch viel größerer Kampf."

Während des Studiums ist Melissa acht Monate lang zur Therapie gegangen. Auf diese Weise hat sie gelernt, mit ihren Schwierigkeiten umzugehen. "Ich habe mich zum ersten Mal verstanden gefühlt", sagt sie. "Ich habe viele Dinge zum ersten Mal laut ausgesprochen und mir selbst die Möglichkeit gegeben, meine Probleme anzuerkennen."

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Obwohl sie weiß, dass ihre Familie ihr Bestes getan hat, um sie zu unterstützen, hätten sie sich allerdings nicht besonders klug verhalten, sagt sie. "Sie hatten eher die Einstellung: 'Solange sie nichts sagt, ist alles in Ordnung.' Also habe ich all meine Ängste 18 Jahre lang unter Verschluss gehalten. Ich bin meinem Therapeuten unglaublich dankbar."

Lesli empfand die Therapie auch als überaus hilfreich. "Sie hat mir nicht nur dabei geholfen, mit dem Syndrom ins Reine zu kommen und mein Selbstbewusstsein zu stärken, sondern auch dabei, die Probleme zu betrachten, die darunter liegen", sagt sie.

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