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geschichte

Die wegweisende Feministin, die mit schwarzer Magie Männer ermordet haben soll

Ärztin, Vegetarierin, Mörderin? Wie Anna Kingsfords Wegbegleiter das Andenken an die Frauenrechtlerin zerstören wollte.
Die Ärztin Anna Kingsford und Claude Bernard, der Physiologe, den sie angeblich mit ihrer Willenskraft tötete | Fotos: Wikimedia Commons | Gemeinfrei

Medizinerin, Tier- und Frauenrechtlerin, Okkultistin und Katholikin – Anna Kingsford führte ein ungewöhnliches Leben für eine Frau Ende des 19. Jahrhunderts. In Erinnerung bleibt aber vor allem ein böswilliges Gerücht: Die Engländerin soll im Februar 1878 den großen Physiologen Claude Bernard, ihren Professor an der Pariser Faculté de Médecine, mit ihren übernatürlichen Fähigkeiten ermordet haben.

Damals studierte Kingsford seit mehreren Jahren Medizin an der prestigeträchtigen Institution. Sie verfolgte ihre Ambition entgegen der frauenfeindlichen Einstellung im 19. Jahrhundert – Frauen, so waren sich die männlichen Mediziner damals einig, hatten in dem Beruf nichts zu suchen. Doch Kingsford sollte eine der ersten britischen Ärztinnen der Geschichte zu werden. Die überzeugte Vegetarierin wollte damit auch ihren Kampf gegen die Vivisektion vorantreiben – dass Tiere im Namen des Fortschritts bei lebendigem Leib seziert wurden, war ihr ein Gräuel.

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Mit der Faculté de Médecine hatte sie die Höhle des Löwen betreten. Das Institut sprach sich für die Vivisektion aus, Professor Claude Bernard war damals ihr bekanntester Befürworter in ganz Europa. (Bernards Frau ließ sich von ihm scheiden, als sie eines Tages nach Hause kam und feststellte, dass er den Hund seziert hatte.) In einem Artikel für die Zeitung The Heretic beschrieb Kingsford ihr Entsetzen, als sie erfuhr, woher die markerschütternden Schreie in den Labors der Faculté kamen: von Hunden, die unaussprechliche Qualen litten, während man sie bei lebendigem Leib aufschnitt. "Unter Tränen der Qual betete ich um die Kraft und den Mut, mich erfolgreich gegen ein so schreckliches Unrecht einzusetzen", schrieb sie. "Zumindest wollte ich alles tun, was ein Herz und eine Stimme vermögen, um die Welt vom Fluch der Folter zu erlösen."

Ihre Leidenschaft für Tierrechte trieb sie immer weiter an, und im Dezember 1877 setzte Kingsford angeblich übernatürliche Kräfte ein, um Bernard auszuschalten. Später, im November 1886, soll sie dasselbe mit dem Physiologen Paul Bert getan haben. All das behauptete zumindest Edward Maitland, Kingsfords langjähriger Mitstreiter gegen die Vivisektion und okkulter Weggefährte.

Maitland schrieb von einem "spirituellen Blitz", mit dem sie ihre Widersacher niederstrecken konnte.

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Maitlands Behauptungen über Kingsford stammen aus der Biografie, die er 1896 über sie schrieb: Anna Kingsford, Her Life, Letters, Diary and Work. Dass er sie in dem Buch als rachsüchtige Okkultistin zeichnet, ließ für lange Zeit Kingsfords Rolle als frühe Kämpferin für Tierrechte in Vergessenheit geraten – auch wenn sie sich daneben tatsächlich mit Esoterik beschäftigte. Sie hielt zahlreiche Vorträge über Vegetarismus und Vivisektion, schrieb erfolgreiche esoterische Bücher sowie Romane und Zeitungskolumnen, gab eine feministische Zeitschrift heraus und kämpfte für Frauenrechte. Doch die meisten Erwähnungen findet Kingsford heute lediglich als Fußnote im Bereich der Schwarzmagie.

Dabei reichte ihr Einfluss so weit, dass Mahatma Gandhi ihre Mystik-Bücher in Südafrika verkaufte, und auch ihre Vegetarismus-Abhandlung De l'alimentation végétale chez l'homme ("Von der vegetarischen Ernährung beim Menschen") las er "mit großem Nutzen und Dankbarkeit". Der berüchtigte Okkultist Aleister Crowley sagte, sie habe "mehr für die Welt der Religion getan als sonst jemand seit Generationen". Die heute lebende Tarot-Meisterin Mary Greer bezeichnet Kingsford als geistige Mutter der Hermetic Order of the Golden Dawn, der berühmtesten esoterischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts.


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Aber was hat es mit Maitlands Behauptungen auf sich? Kingsford sah sich selbst zwar als übernatürlich begabt, ging mit dieser Fähigkeit aber nicht hausieren. Maitland schrieb von einem "spirituellen Blitz", mit dem sie ihre Widersacher niederstrecken konnte, doch davon hatte sie selbst zu Lebzeiten nichts erwähnt.

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Laut Alan Pert, der 2007 eine neue Kingsford-Biografie namens Red Cactus schrieb, ist Maitlands Buch "voller Fehler" und lässt viele Details aus Kingsfords Leben aus. Kingsfords gute Freundin Florence Miller sagte über das Buch: "Es handelt von Maitland selbst statt von ihr. Er widmet Seite um Seite seinem spiritistischen Gewäsch, seiner Seele und seiner großen Bedeutung für das Universum!" Eine Rezension in der Zeitschrift Theosophy in Australia nannte die Biografie 1896 "eine der verblüffendsten und seltsamsten Veröffentlichungen des Jahres". Weiterhin hieß es darin: "Als Racheengel, der allein durch Willenskraft Vivisezierer tötet, kannte sie bis dato wohl niemand."

Dann ist da noch die verdächtige Tatsache, dass Maitland nach getaner Arbeit alle Werke, Manuskripte, Tagebücher und Briefe verbrannte, die Kingsford ihm vermacht hatte. Somit kann niemand seine Behauptungen überprüfen.

"Anna war Maitlands 'ideale Frau', außer in einer Hinsicht: Er konnte sie nicht dominieren, wie er es sich wünschte."

Maitland behauptete unter anderem, dass Kingsford angeblich gern auf Fuchsjagd ging und eine "wilde Freude" daran hatte zuzusehen, wie die Hunde den Fuchs in Stücke rissen. Ihre eigenen Aussagen in ihrem Buch Health, Beauty and the Toilet stehen dagegen: "Ich bin keine Befürworterin des Jagens für Frauen. Das Spektakel des Todes sollte die Herzen englischer Mädchen nicht mit Freude erfüllen." Weiterhin nannte sie die Praktik "gänzlich abstoßend und verachtenswert".

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Verriet Maitland Kingsford absichtlich, um ihr Erbe in den Dreck zu ziehen? Es gibt zumindest Hinweise darauf, dass die Beziehung für Maitland eine Art Machtkampf war. Alan Pert schreibt: "Anna war Maitlands 'ideale Frau', außer in einer Hinsicht: Er konnte sie nicht dominieren, wie er es sich wünschte." In seiner Beschreibung der ersten Begegnung mit Kingsford geht Maitland wortreich auf ihre Schönheit ein: "Groß, schlank und von graziler Figur, mit hellem und wunderschönem Teint, das Haar lang und golden …" Zufällig sieht die Heldin seiner Romane genauso aus – allerdings ist die Romanfigur stets unterwürfig und wird häufig vom Helden sadistisch misshandelt. In seinem Buch England and Islam schrieb Maitland: "Die ideale Frau nähert sich dem Mann wie ein Bogen völlig blanken Papiers, auf dem er schreiben kann, wie es ihm beliebt."

Kingsford stellte Maitland mit ihrem Erfolg in den Schatten. Sie war eine Anführerin der neu entstandenen theosophischen Bewegung und wird in den Annalen des Vegetarismus und der Tierrechtsbewegung für ihren unermüdlichen Kampf geehrt. Mit seiner Biografie konnte Maitland das Blatt wenden. Nicht nur verzerrte er ihre Persönlichkeit, er vermittelte außerdem den Eindruck, sie wäre ohne seine Führung verloren gewesen: Sie sei "dazu bestimmt, wie ein zerstörtes Schiff auf dem Ozean zu treiben, ohne Steuer, Kompass oder Steuermann". Er ging sogar so weit zu behaupten, Kingsfords Geist sei ihm erschienen um zuzugeben, dass sie bei einer Meinungsverschiedenheit mit Maitland Unrecht gehabt habe.

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Eine mörderische Ader zeigte sich weder in Kingsfords Handlungen, noch in den Überzeugungen, die sie immer wieder deutlich darlegte. Jemandem Schaden zuzufügen – geschweige denn Menschen zu ermorden – widersprach all ihren Prinzipien. In ihrem Vortrag "Sorcery in Science" sagte sie: "Wer gut mit Magie umgehen möchte, muss unweigerlich ein reines Herz und ein gutes Gewissen besitzen, und gerecht handeln."

Was würden die Physiologen Claude Bernard und Paul Bert uns sagen, wenn wir sie mit einer Séance aus dem Jenseits holen könnten? Einen übernatürlichen Meuchelmord hat es garantiert nie gegeben. Bert starb in Hanoi an Dysenterie, Bernard war vor seinem Tod bereits seit 17 Jahren krank gewesen. Ironischerweise versagten bei ihm genau die Organe, die er seine gesamte Karriere über studiert hatte: die Bauchspeicheldrüse und die Leber. Vielleicht gibt es ja doch so etwas wie Karma.

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