"Nichts ist super!": Halsey über Liebe, Schmerz und manische Phasen
Alle Fotos: Grey Hutton

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Musik

"Nichts ist super!": Halsey über Liebe, Schmerz und manische Phasen

"Jeder Künstler ist unsicher. Wenn sie dir etwas anderes erzählen, lügen sie dich an."

Zwei Jahre ist es her, dass die damals 20-jährige Halsey mit der melancholischen Pophymne "New Americana" ihren internationalen Durchbruch feierte. Seither lieben ihre Fans die Musikerin nicht nur für ihre eingängigen Songs, sondern auch für ihre Ehrlichkeit. Von Anfang an sprach die Sängerin offen über ihre persönlichen Kämpfe: über einen Selbstmordversuch als Teenager, über ein Leben mit bipolarer Störung und darüber, eine "unbequeme Frau" zu sein.

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Auch auf ihrem neuen Album Hopeless Fountain Kingdom will die mittlerweile 22-Jährige nicht nur die schönen, sondern auch die düsteren Seiten des Lebens abbilden und widmet es der wohl dramatischsten Liebesgeschichten aller Zeiten: Romeo und Julia. Wobei sie selbst die Rolle des Romeos übernimmt. Anlass genug, sich mit Halsey in Berlin zusammenzusetzen, um zu reden. Über Geschlechterrollen in der Musikindustrie, den Zusammenhang von Liebe und Schmerz und ihr Leben als bipolare Künstlerin.

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Broadly: Du hast Romeo und Julia ein ganzes Album gewidmet. Was hat dich an der Geschichte so interessiert?
Halsey: In der Zeit als ich an diesem Album gearbeitet habe, war ich vollkommen besessen von Romeo und Julia, genauer gesagt von der Baz-Luhrmann-Verfilmung mit Leonardo DiCaprio und Claire Danes. Ich wusste erst nicht, warum mich dieser Film so mitgenommen hat. In der gleichen Zeit habe ich dann auch eine sehr lange Beziehung beendet. Danach ist mir klar geworden, dass ich in dieser Beziehung die ganze Zeit eine Version meiner selbst habe sterben lassen — und er hat, glaube ich, dasselbe getan. Wir kamen einfach aus unterschiedlichen Welten. Wir konnten deshalb nicht zusammen sein, etwas stand zwischen uns, obwohl wir uns geliebt haben. Und eines Tages habe ich es dann realisiert, dass ich den Film deshalb so sehr liebe. Weil ich das Gefühl hatte, selbst in dieser Geschichte zu leben. So hat sich Romeo und Julia langsam in mein Album gearbeitet.

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Es ist so befreiend, mir nicht ständig Sorgen darüber machen zu müssen, ob man mich dabei erwischt, 'echt' zu sein.

Ich fand es total spannend, dass du die Geschlechterrollen im Video zu "Now or Never" umgedreht hast. Du hast einmal Luna, die du selbst spielst, die Romeo repräsentiert, und dann Solis, gespielt von Don Lee, der Julia darstellt.
Ich wollte die Geschlechterrollen aus zwei Gründen vertauschen. Der Erste ist: Ich wollte den Spieß umdrehen. Ich habe Don Lee auf meinem Album-Cover und in meinem Video wie eine Art Requisite benutzt — einen Körper, den ich brauche, um meine Geschichte zu erzählen. Das ist nichts, was Musikerinnen oft tun, andersrum aber ständig passiert. Männer nutzen schöne Frauen fast immer in Nebenrollen, um ihre eigene Geschichte zu erzählen, warum sollte ich das also nicht umdrehen? Der zweite Grund ist, dass ich mich einfach mehr mit Romeo identifiziere.

Leonardo DiCaprio spielt Romeo als sehr emotionalen, gequälten Charakter, der schon viel durchgemacht hat. Er hat viel Gewalt erlebt und kommt aus einer schwierigen Familie, aber glaubt auch an Gerechtigkeit und steht dafür ein, was er als richtig empfindet, egal was seine Familie sagt. Sogar optisch passt das besser: Ich kann manchmal leicht maskulin aussehen, wohingegen Don Lee einfach ein schöner Mann ist und auch femininer und ruhiger als ich. Ich habe mich sehr darauf gefreut zu sehen, wie das auf der Kamera wirkt. Er als reservierter, weiblicherer Charakter und ich als aggressiverer, maskulinerer Charakter.

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Alle Fotos: Grey Hutton

Du redest öfter davon, eine "unbequeme Frau" zu sein, gleichzeitig sprichst du immer wieder offen über deine eigenen Unsicherheiten. Hast du das Gefühl, dass du deinen Fans damit hilfst? Dass sie sich dadurch weniger alleine fühlen?
Das ist einer der Gründe dafür, warum ich immer so ehrlich war. Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, sollen immer ein bestimmtes Bild abgeben. Mir war es aber wichtig, ehrlich über Dinge zu sprechen, die viele Menschen durchmachen: Ob das jetzt eine psychische Erkrankung ist oder eine andere Krankheit, eine verrückte Familie oder das Herz gebrochen zu bekommen — das sind alles normale Dinge. Aber wenn berühmte Menschen so etwas durchmachen, wird das immer so glatt präsentiert. Die sagen dann: Ich hatte ein Problem, aber ich habe das durchgestanden und jetzt ist alles wieder super. Ich sage: Nichts ist super!

Ich mag zwar eine erfolgreiche Musikerin sein, mit einem Album und einer Welttour, aber ich kämpfe immer noch mit diesen Dingen. Ich will meinen Fans zeigen, dass nicht immer alles so perfekt ist, wie es auf den ersten Blick aussieht. Vergleicht euch nicht mit Menschen, die berühmt sind oder auf Instagram scheinbar das perfekte Leben haben, denn das hat nichts mit der Realität zu tun. Wenn du dich mit jemandem vergleichst, dessen Fotos bearbeitet sind oder dir schlichtweg ein anderes Leben vormachen, setzt du Standards für dich selbst, die kein Mensch erreichen kann.

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Macht dich diese Ehrlichkeit nicht auch verletzbar?
Im Gegenteil. Wenn ein Fan ein Foto mit mir machen will, sage ich nicht mehr Nein, egal ob ich ungeschminkt bin oder gerade aus dem Krankenhaus komme. Ich weiß, dass das ihre einzige Chance sein könnte, mich zu treffen und ich werde ihnen das nicht nehmen, nur weil ich mich gerade unsicher fühle. Das ist die beste Entscheidung, die ich seit langem getroffen habe. Es ist so befreiend, mir nicht ständig Sorgen darüber machen zu müssen, ob man mich dabei erwischt, "echt" zu sein. Wenn Fans heute auf mich zukommen und ich zum Beispiel ungeschminkt bin, bekomme ich keine Panik mehr, weil es mittlerweile Tausende solcher Fotos im Netz gibt. Seit ich aufgegeben habe, eine perfekte Fassade zu erhalten, bin ich viel entspannter und selbstbewusster.


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Als du herausgefunden hast, dass du bipolar bist, gab es da jemanden für dich, zu dem du aufsehen konntest? Der dir das Gefühl gab, weniger allein zu sein?
Eine Person, die mich wirklich beeinflusst hat, ist Sia. Als ihr Song "Brave Me" veröffentlicht wurde, war ich mir meiner selbst komplett unsicher und habe nach einem Ort gesucht, an dem ich akzeptiert werde und an dem mir geholfen wird. In diesem Song habe ich mich wiedergefunden. Eines Tages bin ich dann auf Tumblr über ein Video gestoßen, in dem Sia "Diamonds" singt. Im ersten Moment dachte ich, sie covert einfach Rihannas Song. Dann habe ich aber gelesen, dass Sia das Lied geschrieben hat. Plötzlich habe ich am ganzen Körper Gänsehaut bekommen.

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Mittlerweile habe ich Sia mehrmals getroffen und auch mit ihr zusammengearbeitet. Zum Glück ist sie genau so, wie ich sie mir vorgestellt habe. Sie ist ein echtes Vorbild für mich, auch weil sie selbst so offen mit ihrem Kampf gegen die Sucht umgegangen ist.

Du hast einmal gesagt, dass bipolar zu sein für dich auch bedeutet, empfänglicher zu sein, was Emotionen um dich herum angeht. Wie wirkt sich diese Empfänglichkeit auf deine Kunst aus?
Ich denke manchmal, dass ich vielleicht abgerutscht wäre, wenn ich keine Musik machen könnte. In meinen manischen Phasen bin ich tagelang wach, manchmal wochenlang. Dann fühle ich mich verängstigt, rede zu schnell und vergesse meine Verantwortungen. Das Geschirr stapelt sich, ich vergesse, meine Wäsche zu waschen und ich komme ständig zu spät. Wenn ich aber im Studio bin, sind meine manischen Phasen etwas positives, denn in diesem Kontext heißt das, dass ich kreativ sein kann. Die Leute sagen dann: "Wow, du bist toll, du warst jeden Tag bis drei Uhr morgens im Studio!" Und ich antworte ihnen: "Das ist so, weil ich manisch bin! (lacht) Du denkst vielleicht, dass ich gerade einfach hart arbeite, aber in Wirklichkeit mache ich gerade etwas durch". Und wenn ich dann das Studio nicht hätte, die Musik nicht hätte, wer weiß, wo ich dann wäre? Die Musik gibt mir einen Fokus, in den ich meine Energie leiten kann.

Ich habe so viel Zeit und Energie darin investiert, andere zu lieben und habe dabei vergessen, dasselbe für mich zu tun.

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Auf der Bühne zu stehen bedeutet auch, von der stärksten Droge der Welt abhängig zu sein. Es macht süchtig. Ich bin eineinhalb Jahre nonstop getourt und habe mich danach gefühlt, als ob ich einen Entzug mache. Wenn ich auf der Tour einen schlechten Tag hatte, konnte ich meine Wut auf der Bühne loslassen. Jetzt hatte ich plötzlich all diese Emotionen in mir und all diese freie Zeit und wusste nicht mehr, wohin damit. Es hat ein paar Wochen gedauert um zu realisieren, dass ich wirklich eine depressive Phase hatte, weil die Tour zu Ende war. Wenn Fans mir sagen, dass ich ihnen geholfen habe, sage ich ihnen, dass sie genau das gleiche für mich tun. Manchmal verstehen die Menschen nicht, wie unsicher Künstler sind. Jeder Künstler ist unsicher. Wenn sie dir etwas anderes erzählen, lügen sie dich an. Wenn Künstler nicht unsicher wären, hätten sie gar nicht dieses Bedürfnis nach ständigem Applaus, dem Gefühl zu gefeiert und gemocht zu werden. Manchmal wenn es mir nicht gut geht und ich eine Weile nichts auf meinen Social Media Kanälen poste, schreibt mir ein Fan, weil ihm aufgefallen ist, dass ich die letzten Tage ruhig gewesen bin und fragt mich, ob es mir gut geht. Und das ist ein schönes Gefühl zu wissen, dass es jemandem auffällt, dass es jemanden kümmert, auch wenn das eine fremde Person ist.

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In vielen Songs auf dem Album geht es um eine tiefe Sehnsucht und die Hingabe für diese eine andere Person, die aus irgendeinem Grund nicht erreichbar ist. Die Geschichte von Romeo und Julia hat ja auch kein Happy End. Glaubst du, dass Liebe immer Schmerz bedeuten muss? Oder kann Liebe auch einfach sein?
Ich glaube, dass Liebe einfach sein kann — aber erst dann, wenn man davor lernt, sich selbst zu lieben. Das ist der wichtigste Punkt, den wir alle zu lernen haben: dass man sich nicht vollkommen einer anderen Person widmen kann, wenn man sich davor nicht selbst akzeptiert hat. Das war immer mein größtes Problem. Ich habe so viel Zeit und Energie darin investiert, andere zu lieben und habe dabei vergessen, dasselbe für mich zu tun. Ich habe mich immer gefragt, warum Liebe so schwer sein musste und warum ich mich so unterdrückt gefühlt habe. Und dann habe ich angefangen, an meiner Beziehung mit mir selbst zu arbeiten und mich selbst kennenzulernen. Wenn ich jetzt Leute date, ist alles viel leichter, weil ich an einem Punkt angekommen bin, an dem ich sage: "Du musst mich so akzeptieren, wie ich bin. Ich werde mich nicht für dich verändern."

Ich muss mich in meiner Haut wohl fühlen, ich kann es mir nicht leisten, mich ständig selbst zu hinterfragen. Auch durch meinen Lifestyle ist Liebe eine sehr komplizierte Sache, weil es nie nur um mich geht oder um die andere Person, oder um uns beide. Es geht immer um eine Million andere Menschen, die eine Meinung dazu haben und die bestimmte Dinge von mir erwarten. Wenn man in unserer Zeit in der Öffentlichkeit steht und private Informationen teilt, hat die Gesellschaft das Gefühl ein Recht auf eine Erklärung zu haben: Warum datet sie diese Person? Wie lange? Wie war die Trennung? Vielleicht ist das auch mein persönlicher Preis dafür, dass ich so ehrlich bin.

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