Die Autorin steht mit einem schwarzen Hoodie in der Ostsee, wo sie hingefahren ist, um den glücklichsten Tag ihres Lebens zu erleben.
Alle Fotos: Philipp Sipos
Menschen

Ich habe versucht, den glücklichsten Tag aller Zeiten zu erleben

... und bin dafür nach Schleswig-Holstein gefahren.

Ich bin 23 Jahre alt. Und das ist jetzt unpraktisch, weil ich diesem Alter gar nichts abgewinnen kann. Ich hasse es, 23 zu sein. Vielleicht war es mein blödstes Lebensjahr bisher. Ich hasse Dreiundzwanzigsein, weil es ganz schön ist, negativen Gegebenheiten einen Grund zu geben. In diesem Fall ist der Grund mein Alter, das Dreiundzwanzigsein. Das Gute ist, dass das auch alles wieder vorbei ist, wenn ich in ein paar Wochen 24 werde. Ich weiß nicht genau, warum dieses Jahr alles schiefgelaufen ist. Ich weiß aber, dass es voll und ganz an mir liegt. Laut einer Studie eines Wirtschaftsprofessors erleben Menschen ihre glücklichsten Jahre mit 23 und 44 Jahre später im Alter von 67. Und vielleicht kann ich jetzt auf den letzten Metern das Steuer noch herumreißen. Ich brauche einen Tag des absoluten Glücks, um all das Naserümpfen der letzten elf Monate zu kompensieren. Und am besten geht das in Schleswig-Holstein, das teilt sich mit Hamburg nämlich den Titel des glücklichsten Bundeslandes Deutschlands.

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Ich stehe um 06:15 Uhr auf, weil Menschen, die zwischen vier und sieben aufstehen, statistisch glücklicher sind. Ich merke nichts davon. Mit einem Regionalzug fahre ich an die Ostsee. 13 Minuten Fahrt. Timmendorfer Strand.

Während ich zum Strand gehe, frage ich mich, warum ich es ausgerechnet hier suchen muss, das Glück. Ich hatte die letzten Wochen schlechte Laune. Mein Mitbewohner hat die Schleifmaschine entdeckt und dann nicht mehr aufgehört, die Tischplatte abzuschleifen. Einen ganzen Morgen war es laut. Ich habe mir ein bisschen gewünscht, dass er nie wieder aufhört, dass er weiter schleift, bis nichts mehr von allem übrig ist. Irgendwann hat er aufgehört, und es blieb doch noch ganz viel übrig. Zum Beispiel fast ein Monat, bis ich 24 werde, und Schleswig-Holstein und die Ostsee und ein leerer Strand um 7:30 Uhr.

Das Bild ist eine Collage aus zwei Fotos. Auf der linken Seite liegt die Autorin auf einem weißen Handtuch zwischen Strandkörben und auf der rechten Seite steht sie knietief in der Ostsee.

Ich setze mich in den Sand. Graue Hotels ragen in den Himmel und passen zu den Wolken. Ich stelle mir vor, wie in diesen Hotelklötzen nur 23-Jährige und 67-Jährige beim Frühstück sitzen und ihren Orangensaft mit Freudentränen verdünnen. 

Irgendwann ziehe ich meine Hose aus, um ins Wasser zu gehen. Es ist 14 Grad, ich hoffe, dass noch etwas Sommer im Meer steckt. In Rio de Janeiro oder Buenos Aires ist es gerade vier Uhr morgens, und irgendwelche Entrepreneure stehen auf, um glücklich zu sein, und bei ihrer eiskalten Dusche für die Durchblutung denken sie "Don't let your dreams be dreams" oder "If you do what you love you never work a day in your life". Die Ostsee bis zu meinen Oberschenkeln ist meine eiskalte Dusche, und ich denke dasselbe.

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Ich lege mich zwischen die abgeschlossenen Strandkörbe. Ein Tinderdate hat mir mal dazu geraten, LSD auszuprobieren: "Ich glaube, das würde dir helfen. Ich habe Dinge über mich gelernt." Am Ende habe ich dann nur gelernt, dass ich ein todunglücklicher Mensch bin. Also das hat mir mein Unterbewusstsein offenbart, während ich in einem fremden Zimmer fernsah. Vor mir starb Bruce Willis schon zum vierten Mal langsam, und an der Wand neben mir waren Fotos vom Schlagzeuger Louie Bellson. Vor diesen beiden war mir diese Erkenntnis ganz unangenehm. Jetzt liege ich hier. Hinter mir das Plaza Premium, vor mir die 14 Grad kalte Ostsee und in mir vielleicht das Glück. Wahrscheinlich habe ich gar nichts gelernt. Ich bin mir nicht mal sicher, ob das Stirb Langsam 4 war.

Das Bild ist eine Collage aus zwei Fotos. Auf der linken Seite steht ein Kinderwagen im Gebüsch und auf der rechten Seite sind Strandkörbe auf einen roten Anhänger aufgeladen worden.

Mit Sand in meinen Socken und Schuhen gehe ich die Promenade entlang. In einer Lokalzeitung steht, dass Udo Lindenberg immer in der Penthouse Suite im zehnten Stock des Maritim Hotels übernachte, wenn er in Timmendorfer Strand Konzerte gibt. Hier steht er auch als rostige Statue neben einem Kinderwagen, der aussieht, als hätte ihn das Meer angespült.

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Durch die getönten Scheiben sehen die Hotelgäste in den Frühstückssälen der 4- und 5-Sterne-Hotels ganz beige aus. Beige sitzen sie vor ihrem Marmeladenbrot, beige gehen sie über den klebrigen Boden, jemand hat wahrscheinlich Fruchtsalat verschüttet. Beige stopfen sie die kleine, rechteckige Butterverpackung in den kleinen Mülleimer auf dem Tisch. So ist es da wahrscheinlich. Und wahrscheinlich können sie ihr Glück kaum fassen.

Die graue Balkonfront eines Hotels aus der Froschperspektive, am unteren Ende gesäumt von Gebüsch.

Hier kommt mir alles widerwillig vor. Es scheint fast so, als wäre der Timmendorfer Strand hier gewesen, bevor es das Meer war. Irgendwann kam das Meer, und dann musste der Timmendorfer Strand ein Ferienort sein. Genervt bauten sie Hotels, weil sie nun plötzlich einen Strand hatten. Und ein Strand braucht Imbissbuden, und die Imbissbuden brauchten kreative Namen, zum Beispiel "Küsten Imbiss". Dann luden sie Touristen ein, und einpacken sollten die ihre abschätzigen Gesichter und Camp-David-Hemden. Obwohl ich diesen konsequenten Pragmatismus zu schätzen weiß, bin ich ganz froh, dass sie nicht auch für die Aussicht zuständig sind. Die ist nämlich schön.

Vielleicht muss ich pragmatischer sein. Ich bin traurig, weil es weh tut. Das ist jetzt so. Und hier steht das Hotel, weil hier das Meer ist. Das ist jetzt so. Und ich bin 23 im glücklichsten Bundesland Deutschlands und heute habe ich den glücklichsten Tag meines Lebens. Das ist jetzt so.

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Nach dem Mittagessen – Kartoffeln für meinen Serotonin-Haushalt – gehe ich am Strand das Meer entlang, weil es nichts anderes zu tun gibt. Wir alle tun das. Wir, die hierher gepilgert sind für das Glück. 

Die Autorin steht im Vordergrund des Bildes, der Fokus liegt jedoch auf dem Hotelklotz im Hintergrund.

Zigarettenstummel sehe ich keine im Sand. An italienischen Stränden sind überall Zigarettenstummel. Hier rauchen sie vielleicht nicht aus Respekt vor der Herzinfarkt-Reha, die zwischen den Hotels steht. 

Für einen Typen, den ich mochte, habe ich immer eine Zigarette in der Schachtel umgedreht, wenn er eine neue gekauft hat – so dass immer eine mit dem Filter-Ende nach unten zeigte. Die rauchte er dann immer als letztes, weil das Glück bringt. Mittlerweile reden wir nicht mehr. Ich frage mich, was er wohl gerade mit all dem Glück macht. Reichen müsste es eigentlich bis heute, er hat so viel geraucht. Bei mir zu Hause liegt eine Schachtel, die ich für Freunde gekauft habe. Eine Zigarette habe ich auch umgedreht. Leer scheint die Schachtel nicht zu werden. Aber irgendwie ist es ganz gut zu wissen, dass – wenn ich es brauche – das Glück nur sechs Zigaretten entfernt ist. Ich habe auch schon ausprobiert, ob sie alle gleichzeitig zwischen meinen Zeige- und Mittelfinger passen. Im Notfall könnte ich alle sechs gleichzeitig rauchen.

Ich überlege, mir selbst eine Postkarte zu schreiben. Die würde ich dann bekommen, wenn ich wieder zurück in Berlin bin, und das Glück schon seit dem Zugwechsel in Hamburg nachgelassen hat. "Liebe Grüße aus der Nebensaison-Tristesse zu dir in die Tristesse-Hauptsaison."

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Ich mache ein Video von mir für Instagram, während ich am Strand entlanggehe. Es ist windig. Ich finde mich darauf hässlich. Ich speichere es trotzdem. Vielleicht bin ich schon ein kleines bisschen beige geworden wie die Frühstückenden oder die Familien, die im "Café Wolkenlos" ein "Curry Wolkenlos" essen.

Das Bild ist eine Collage aus zwei Fotos. Auf der linken Seite stehen einige weiße Strandkörbe im Sand und auf der rechten Seite liegt ein kaputter Strandkorb im Sand.

Irgendwo habe ich gelesen, dass man, um glücklicher zu sein, immer eine Sonnenbrille dabei haben soll. Wenn man keine dabei hat und immer die Augen zusammenkneifen muss, denkt der Körper, dass man schlecht gelaunt ist. Ich habe meine vergessen und lasse mich blenden. Das Glück soll wenigstens ein bisschen wehtun.

Als es Zeit wird zu gehen, stelle ich mir vor, wie Udo Lindenberg ganz beige in der Penthouse-Suite des Maritim-Hotels weint. Vielleicht muss ich heute auch noch weinen. 

Am Bahnsteig fragt mich eine Frau, ob nur um 18:37 Uhr ein Zug fahre oder auch um 18:07 Uhr.

"Ich glaube nur um 18:37." 

Ein paar Meter neben uns meldet sich ein Mann zu Wort. 

"Nur 18:37. Jetzt ist keine Saison. Der Sommer ist vorbei." Der Sommer ist vorbei, wenn der Fahrplan es sagt. 

Das Bild ist eine Collage aus zwei Fotos. Auf der linken Seite sitzt die Autorin in einem abgeschlossenen Strandkorb und auf der rechten Seite sieht man sie von hinten, während sie ins Wasser watet.

Als ich im rail & fresh in Hamburg auf der Kloschüssel kauere und darüber nachdenke, ob die Ostsee mir eine Blasenentzündung gegeben hat, singt Phil Collins "Another Day in Paradise" aus dem Lautsprecher vor der Kabine.

Als ich vor ein paar Wochen meine Eltern besuchte, kam ich an einem Sonntag um acht Uhr nach Hause. Mein Vater saß auf dem Heimtrainer und hörte Jovanotti oder so. Ich musste mich an ihm vorbeischleichen, weil ich schon seit Stunden nicht mehr in den Spiegel geschaut hatte. Ich fühlte mich wie 18 und war zufrieden mit mir selbst. Dann ging ich schlafen mit dem Gedanken, dass ich morgen nur frühstücken muss. Vielleicht war ich da auch glücklich. Vielleicht erkenne ich das Glück gar nicht, wenn es mir begegnet. Am Timmendorfer Strand hätte ich es fast nicht erkannt. Aber es war da, wenn auch beige und durch getönte Scheiben und 14 Grad kalt. 23 zu sein, ist ganz einfach.

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