Gewitter im Kopf eines ADHS-Patienten
Bild: Kopf: IMAGO / Panthermedia | Wolke: IMAGO / ingimage Collage: VICE 
Menschen

Warum haben auf TikTok plötzlich alle ADHS?

Brauchen die Aufmerksamkeit oder sind die wirklich alle krank?

Wenn TikTok die Realität abbilden würde, wären wir alle krank und müssten ärztlich verschriebene Amphetamine nehmen. Dann hätten wir alle ADHS. Denn das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ist dort gerade in sehr vielen Videos präsent.

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Sind wirklich so viele Menschen auf diese Medikamente angewiesen, um ein normales Leben zu führen, oder wird die Krankheit für Likes auf TikTok künstlich gepusht? Ich habe mit dem Psychotherapeuten Robert Willi gesprochen, der sich darüber freut, dass die Krankheit endlich in diesem Ausmaß thematisiert wird. 


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VICE: Was sind typische Symptome von ADHS?
Robert Willi:
ADHS und ADS sind Krankheiten, die häufig vorkommen, aber vergleichsweise selten entdeckt werden. ADHS erkennt man öfter, weil das Leitsymptom – die Hyperaktivität – auch von der Umgebung der Erkrankten bemerkt und rückgemeldet wird. Diese Hyperaktivität kann man schon im Kindesalter beobachten. Das sind vielleicht Kinder, die man als "Zappelphilipp" bezeichnet, die vom Stuhl fallen, viel reden und Konzentrationsprobleme haben. Diese Unruhe kann auch bis ins Erwachsenenalter bestehen bleiben. ADHS wird deutlich öfter und einfacher erkannt als ADS. Bei der Form ohne "H", also ohne Hyperaktivität, ist die Aufmerksamkeitsproblematik der Hauptteil der Krankheit. Davon sind oft Mädchen betroffen. Typisch wäre hier das Mädchen in der Schule, das ständig aus dem Fenster guckt, träumt und nicht dem Unterricht folgt. Da denkt man nicht an ADHS, weil das Klischee dieser Krankheit der kippelnde Junge ist. 

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Im Erwachsenenalter sind klassische Anzeichen, dass Betroffene den Briefkasten nicht leeren, Rechnungen nicht bezahlen und Aufgaben bis zur Deadline aufschieben. Häufig schaffen sie es dann doch irgendwie, lernen auf den letzten Drücker und schneiden zum Beispiel in Klausuren dann doch gut ab. Aber sie stehen ständig unter Druck. Und teilweise gelingt es eben doch nicht und sie fallen durch. Menschen mit ADHS können sich teilweise so sehr anstrengen, wie sie wollen. Sie kommen gegen diese innere Hemmung einfach nicht an und können bestimmte Aufgaben nicht ausführen. 

Was halten Sie davon, dass man auf TikTok gerade einen regelrechten ADHS-Trend beobachten kann, bei dem sich immer mehr Creator selbst diagnostizieren und über ADHS "aufklären"?
Ich rate Laien von Diagnosen über alle psychiatrischen und psychosomatischen Krankheiten ab. Gerade ADHS und ADS sind höchst komplexe Diagnosen, die man nur schwierig stellen kann. Die Symptome Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität kann man bei allen Menschen in bestimmten Situationen beobachten. Natürlich in mehr oder weniger starker Ausprägungsform. Es können auch einzelne Symptome relativ stark auftreten und trotzdem hat man kein ADHS. Von einer Depression kann man auch Unruhe haben und unaufmerksam sein. Hier ist das Unterscheidungsmerkmal, dass die Symptome bei ADHS bereits im Kindesalter begonnen haben. 

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ADHS ist eine ausgesprochen komplizierte Diagnose, meiner Erfahrung nach eine der anspruchsvollsten Diagnosen der Psychiatrie überhaupt. Man muss so viel beachten, die Krankheit hat so viele Formen und so viele Besonderheiten. Erwachsene Menschen haben sich viele Symptome, wie zum Beispiel das Zappeln, häufig abtrainiert und strengen sich bewusst an, ruhig zu bleiben. Damit ist die Krankheit weniger sichtbar. Dann gibt es noch Menschen, die aus ganz anderen Gründen unaufmerksam sind. Das heißt, dass ich für eine ADHS-Diagnose sämtliche andere Diagnosen im Kopf haben muss. Ich muss wissen, wie eine Depression aussieht oder wie das Störungsbild einer bipolaren Störung aussieht. Erst wenn ich diese Diagnosen ausschließen kann, kann ich ADHS diagnostizieren.

Also müssen Sie im Ausschlussverfahren vorgehen, weil die Symptomatik alles Mögliche sein kann?
Genau. Und dann gibt es ja auch noch Patienten, die beides haben. Sie können ja auch eine Depression haben und ADHS. Ich habe ganz viele Patienten und Patientinnen, die von sich überhaupt nicht denken, dass sie ADHS haben könnten und sich dann sehr wundern.

Der Kern einer ADHS-Diagnose besteht in fachärztlichen Gesprächen. Ich sehe mir auch Schulzeugnisse an, kläre eine mögliche Erkrankung von Eltern, Großeltern, Geschwistern oder eigenen Kindern und frage ab, wann die Symptome jeweils angefangen haben. 

Im zweiten Teil füllt der Patient standardisierte Fragebögen aus. Das sind ganz bestimmte Fragebögen, aus denen man nach der Beantwortung einen Wert ablesen kann, der besagt, ob man von ADHS sprechen kann oder nicht. Dieser Fragebogen soll aber nur den Arzt unterstützen und ist nicht für sich allein gültig.

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"Dass ein Bewusstsein für ADHS geschaffen wird, ist wünschenswert. Nicht wünschenswert ist es, dass sich Menschen selbst diagnostizieren."

Warum erlebt das Interesse für ADHS gerade jetzt so einen Trend?
Also erstmal muss ich sagen, dass ich diesen Trend sehr begrüße. Bei ADHS und ADS muss man noch sehr viel Aufklärungsarbeit leisten, viel zu oft bleibt die Diagnose unentdeckt. Die Betroffenen müssen sich mit vielen Vorurteilen herumschlagen und sich immer wieder anhören, dass sie sich nicht so anstellen und einfach ihre Aufgaben erledigen sollen. Daran sieht man, dass eine große Unwissenheit besteht. Die Betroffenen können schlicht und ergreifend nicht anders. Viele Eltern haben auch immer noch Angst vor so einer Diagnose und wollen ihre Kinder mit den Medikamenten nicht "ruhigstellen". Ich erkläre dann, dass die Kinder nicht sediert werden, sondern Hilfe bekommen. 

Dass ein Bewusstsein für ADHS geschaffen wird, ist wünschenswert. Nicht wünschenswert ist es, dass sich Menschen selbst diagnostizieren. Wenn sie die Krankheit gar nicht haben und sich ADHS als Diagnose zurechtlegen, finden sie eine Erklärung von Symptomen, die vielleicht durch etwas ganz anderes ausgelöst wurden. In der Regel bedeutet eine ADHS-Diagnose eine Medikation. Wenn Sie diese Medikamente nehmen und eine ganz andere Krankheit vorliegt, ist das natürlich schlecht. 

Ich habe bei TikTok von einer Pilzkur in Tablettenform gehört, die gegen ADHS helfen soll. Was sagen Sie dazu?
Wenn man sich die Datenlage ansieht, ist sicher, dass Methylphenidat und spezielle Amphetamine gegen ADHS und ADS helfen. Von einer Pilzkur, die wirklich hilft, habe ich in meiner Laufbahn noch nichts gehört. Und gerade bei ADHS ist die richtige Medikation ausschlaggebend und unglaublich wichtig. Die Krankheit hat nämlich eine starke neurobiologische Komponente. Oder anders gesagt: Der Dopaminstoffwechsel im Gehirn verläuft bei Menschen mit ADHS anders als bei Menschen ohne die Krankheit. Ich möchte keine Medikamente verherrlichen, aber bei dieser Krankheit sind sie oft ein wahrer Segen für die Betroffenen. Die Patienten fühlen sich teilweise so, als wäre ein Schalter in ihrem Gehirn umgelegt worden. 

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Eine meiner Freundinnen findet sich in vielen bekannten ADHS-Symptomen wieder. Sie schreibt gerade ihre Doktorarbeit. Ihr Arzt hat sie nur belächelt und gesagt "Ja ja, derzeit denken alle, sie hätten ADHS. Außerdem sind Sie doch sehr erfolgreich im Leben." Wozu soll ich meiner Freundin raten?
Erfolg schließt ADHS auf keinen Fall aus. Es gibt sehr viele erfolgreiche Menschen mit ADHS. Wolfgang Amadeus Mozart hatte wahrscheinlich ADHS. Er konnte sich unglaublich gut auf seine Musik konzentrieren und komponieren, aber er hat es nicht geschafft, seine Rechnungen zu bezahlen. Liebesbeziehungen und seinen Alkoholkonsum konnte er auch nicht gut steuern. Tendenziell kann man zwar beobachten, dass Menschen mit ADHS viele Aufgaben vor sich herschieben und deswegen eher Probleme damit haben, schulische oder berufliche Erfolge zu erzielen. Aber das kann man auf keinen Fall so verallgemeinern, wie im Beispiel ihrer Freundin. Ich sehe in unserer Praxis ausgesprochen viele Menschen mit ADHS, die sehr erfolgreich sind. Ein Symptom von ADHS ist ja diese ständige Unruhe. Für Unternehmer ist es eine sehr gute Eigenschaft, nicht innezuhalten, ständig aktiv zu sein und immer weiter nach vorne zu streben. 

Das ist das eine. Zum anderen kann man ADHS nicht einfach so auf einen Blick ausschließen. Für eine Diagnose sind lange Gespräche zwischen Arzt und Patient notwendig, in denen man auf die Familiengeschichte und die eigene Biographie schaut. Ich brauche für eine Diagnose ein Vorgespräch über 25 Minuten und zwei ausführliche Sitzungen mit jeweils 50 Minuten plus die Fragebogendiagnostik. Es ist eigentlich nicht möglich, dass der Arzt ihrer Freundin so schnell sicher wusste, ob ADHS vorliegt oder nicht. 

Konnten Sie in Ihrer Laufbahn als Psychotherapeut schon andere "Trend-Diagnosen" beobachten?
Burn-out. Über diesen Zustand wurde jahrelang sehr viel berichtet. Da haben sich auch sehr viele Menschen selbst diagnostiziert und ratzfatz war das Thema riesig. Ein anderes Thema, das immer wieder aufkommt, ist die Hochsensibilität. Diese beiden "Trend-Diagnosen" sind übrigens keine ärztlichen Diagnosen, sondern eher Begriffe über Zustände, unter denen sich viele Menschen etwas vorstellen können. 

Warum versuchen überhaupt so viele Menschen, eine psychische Störung diagnostiziert zu bekommen?
Menschen mit ADHS entlastet es oft erheblich, eine Erklärung für ihr Verhalten zu haben. Sie wissen dann, dass sie nicht einfach nur faul sind, wie es ihnen ihr Umfeld teilweise vorwirft. Das hilft der Psyche enorm. Wenn über TikTok viele Menschen für das Thema sensibilisiert werden und Ärzte mehr Diagnosen stellen, ist das also gut. Auf Selbstdiagnosen sollte aber trotzdem nochmal ein Arzt ein Auge werfen. Am besten erkundigt sich ihre Freundin noch einmal bei einem ausgewiesenen Spezialisten für ADHS.

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