Zwei Personen waschen sich gegenseitig die Hände
Hände: imago images | Panthermedia
Rahmen: imago images | Future Image
Menschen

Wenn das Coronavirus Ängste und Zwänge auslöst

Zwei Betroffene erzählen, wie das Virus ihr Psyche beeinflusst, und ein Psychiater gibt Tipps, was hilft.

Der Zwang kam nachts zurück. Vor zehn Tagen, als das Coronavirus noch als vereinzelt auftauchende Gefahr erschien, als am Weltfrauentag in allen Städten Menschen noch eng nebeneinander demonstrierten, als in Italien noch keine Ausgangssperre galt, lag Lea wach. Erst war da nur Unruhe, sagt sie. Dann startete das Gedankenkarussell, der Herzschlag, der immer schneller wurde. "Hab ich Corona?"

Sie googelte Symptome, sie googelte etwas anderes, um sich abzulenken, sie googelte wieder Symptome. Lavendel half ihr nicht zur Beruhigung, aus Herzklopfen wurde Herzrasen. "Kann man von einer Panikattacke einen Herzinfarkt bekommen?", sei ihr durch den Kopf gegangen. Sie schläft kaum, vielleicht zwei Stunden. "Irgendwann war die Nacht rum und ich wusste: Das ist nicht mehr gechillt", schildert sie am Telefon.

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"Normalerweise", sagt Lea, sei sie erfolgreich therapiert

Lea, der wir in diesem Artikel wie allen Betroffenen zu ihrem Schutz einen anderen Namen gegeben haben, hat eine Zwangsstörung. Wie knapp vier Prozent aller Erwachsenen in Deutschland. Die Zwänge können sich in Gedanken oder Handlungen zeigen, bei Lea sind es vor allem unsichtbare, gedankliche Zwänge. "Ich hatte Angst, eine Bedrohung für andere zu sein. Angst, dass ich eine weitere psychische Erkrankung entwickle und deswegen jemandem etwas antue." Vor Angst und Unfähigkeit, die Gedanken loszulassen, habe sie früher Nacht um Nacht wachgelegen. Bis Lea mit 26 Jahren eine Psychotherapie begonnen hat. Heute ist sie 28 und erfolgreich therapiert, sagt sie. "Normalerweise."


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Betroffene von Zwangs- oder Angststörungen haben irrationale Ängste und Gedanken. Sie handeln durch ihre psychische Krankheit manchmal anders als Gesunde, sie machen sich Sorgen, die Gesunde nicht kennen. Was vor zwei Monaten noch dystopisch erschien, ist plötzlich denkbar geworden: Isolation, Hamsterkäufe, Ausgangssperre, eine weltweite Pandemie. Medien machen Liveblogs, am Anfang wurde jeder neu Erkrankte per Push-Nachricht auf unsere Handys gejagt, ständig spricht die Kanzlerin. In Italien gilt eine Ausgangssperre, in Frankreich, Spanien, Belgien und Österreich. Auch in Deutschland ist das Szenario nicht mehr undenkbar. Der Umgang mit dem neuartigen Virus ist für uns alle eine Herausforderung. Besonders schlimm trifft er die sogenannte Risikogruppe, Menschen also, die aufgrund des Virus um ihre Gesundheit, gar ihr Leben fürchten müssen. Aber auch für diejenigen, die psychisch und nicht körperlich krank sind, ist das Virus eine ganz besondere Herausforderung. "Während alle verunsichert sind, haben die mit einer Angststörung noch mehr Angst", sagt Andreas Wahl-Kordon. Er ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, leitet die Oberberg Fachklinik im Schwarzwald und forscht unter anderem zu Angst- und Zwangsstörungen. "Manche fühlen sich durch ihre Krankheit ohnehin isoliert und werden jetzt tatsächlich isoliert." Die Angst wird Wirklichkeit.

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Du leidest an einer Angst- oder Panikstörung, an Depressionen oder sorgst dich um einen nahestehenden Menschen? Die Nummer der Telefonseelsorge in Deutschland ist 0800 111 0 111. In der Schweiz erhältst du in einem akuten Moment der Angst oder Panik Hilfe unter der Nummer 0848 80 11 09. Die Nummer der Telefonseelsorge in Österreich ist 142. Den Notfallpsychologischen Dienst erreichst du hier unter 0699 18 85 54 00. Speziell für junge Menschen gibt es eine E-Mail-Beratung: www.u25-deutschland.de oder www.jugendnotmail.de.


Amina hat im Dezember eine Psychotherapie begonnen, die wegen des Coronavirus jetzt pausieren muss. Sie studiert seit Oktober in Hamburg, hier macht sie auch ihre Therapie. Letzte Woche war sie noch auf einem Konzert in der Großen Freiheit, einem Veranstaltungsort auf dem Kiez, hat Freunde getroffen. "Ich hatte zwar ein mulmiges Gefühl, aber habe es gemacht", sagt sie am Telefon. Soziale Kontakte helfen ihr gegen die Gedanken. Der Punkt, an dem es für sie nicht mehr ging, war, als die Nachricht kam, dass die Schulen geschlossen werden, und auch ihre Universität verkündete, dass das Semester später beginnen wird.

"Allein sein ist für mich sehr schwer", sagt sie. Schon die fehlende Struktur in den Semesterferien war ein Problem für sie. Amina hat noch keine Diagnose, weist laut ihrer Therapeutin aber Tendenzen zur Angststörung auf. Ihr Grübeln sei das größte Problem, sagt sie. "Wie ein Gefängnis aus Gedanken." Entscheidungen lähmen sie: "Ich wollte zu einer Verabredung und wusste nicht, ob ich das Fahrrad nehme oder die Öffis. Da musste ich wahrscheinlich viel länger drüber nachdenken als andere."

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Hände waschen, Handy desinfizieren, nochmal Hände waschen – ein neuer Zwang

Vorsicht und Panik ist momentan schwer zu unterscheiden. Andreas Wahl-Kordon rät deswegen psychisch Erkrankten, sich an die Empfehlungen vom Robert-Koch-Institut, die Guidelines WHO und die von öffentlichen Gesundheitsbehörden kommunizierte Ratschläge zur persönlichen Hygiene und insbesondere zur Sozialen Distanz und Minimierung von sozialen Kontakten zu halten. Jemand mit einem Waschzwang solle, obwohl das sonst Therapieziel sein kann, sich jetzt an die angemessenen Hygieneregeln halten und nicht versuchen sich besonders wenig die Hände zu waschen. Auch wenn der Ratschlag sonst oft ist "Geh mal raus, mach doch mal was". Gerade jetzt ist es okay, drinnen zu bleiben – oder allein zu spazieren.

Lea hat eigentlich keinen Waschzwang. Aber Zwänge, darauf hat sie ihre Therapeutin schon vorbereitet, suchen sich gern "neue Themen". "Ich wasche mir jetzt sehr gerne die Hände", erzählt sie. Wenn sie nach Hause kommt, ist das das Erste, was sie tut, dann desinfiziert sie ihr Handy, um sich danach nochmal die Hände zu waschen. "Ich habe mit dem Ellbogen meine eigene Badezimmertür geöffnet." Auch Humor hilft. "Wir müssen es ja eh annehmen", sagt sie.

Trotzdem sind auch die Ängste zurück, eine Gefahr für andere zu sein. "Ich habe Angst, dass ich jemanden anstecke, der jemanden ansteckt, der jemanden ansteckt, der meine Eltern ansteckt." Eine Woche lang musste sie noch arbeiten gehen, bis es in ihrer Firma eine Homeoffice-Regelung gab. Im Büro zu sein, das sei OK gewesen, das Problem war die U-Bahn. "Die wird nicht täglich gereinigt und dann klebt da überall alles." Am letzten Morgen bevor sie im Homeoffice bleiben konnte, hatte sie eine Panikattacke in der Bahn.

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"Das Herz klopft, das Denken fällt schwer." So unnatürlich es sich auch anfühle, am meisten helfe Lea, die Zwänge, die Ängste, die Gedanken einfach da sein zu lassen. Der Zwang sage ihr immer: "Ich bin kein Zwang." In der Therapie hat sie gelernt zu erkennen, dass das nicht stimmt. "Das geht alles weg, ich muss es nur aushalten."

Lea arbeitet jetzt im Homeoffice, gemeinsam mit ihrem Verlobten. "Ich habe vor allem Angst, dass mir die Decke auf den Kopf fällt, wenn es eine Ausgangssperre gibt." An schlechten Tagen geht sie spazieren, das kann sie dann nicht mehr. Mit ihrem Zwang neige sie außerdem zum Katastrophendenken: "Ich spiele Szenarien durch, was passiert, wenn die Lebensmittelversorgung zusammenbricht, und denke schon an Plünderungen."

Weniger Nachrichten lesen, Videoanrufe mit Freunden – das kann helfen

Was sollte man da als Freundin oder Freund tun? Hilft es, wenn man Lea sagt: Das ist Quatsch? "Auf keinen Fall." Von ihrer Therapeutin habe sie gelernt, dass das Zwangs- oder Angstkranken vermittelt, ihre Gefühle seien nicht gerechtfertigt – und das sind sie immer. "Außerdem gibt das Verneinen dem Zwang Futter." Fast automatisch müsse man dann immer und immer wieder nachfragen, ob dieses Szenario denn nicht doch sein kann.

Amina hat sich am Samstag von ihren Eltern abholen lassen. "Die Möglichkeit, bald alleine in meinem 12-Quadratmeter-Zimmer zu sitzen, hat mir Angst gemacht", erzählt sie. Jetzt ist sie wieder zurück in ihrem Elternhaus. Ihr Bruder ist zu Hause, weil seine Schule geschlossen ist. Ihre Eltern machen Homeoffice. Wenn man jemanden hat, seien es die Eltern, der Partner oder enge Freunde, mit dem man eine Ausgangssperre oder Quarantäne wirklich durchstehen kann, dann ist es eine gute Idee, zusammen zu Hause zu bleiben.

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"Ich versuche, keine Nachrichten mehr zu lesen", sagt Amina. Ihre Eltern erzählen ihr schon, wenn etwas passiere. Auch Andreas Wahl-Kordon glaubt, dass das hilft: "Lieber einmal am Tag die Nachrichten gebündelt lesen, als sich damit die ganze Zeit zu sehr in Sorge und Panik zu versetzen." Wer allein zu Hause ist, der solle außerdem versuchen, so viel wie möglich über soziale Netzwerke mit Freunden in Kontakt zu bleiben. Wer selbst weniger schwer betroffen ist, könne sich öfter bei den Freunden melden, von denen man weiß, dass sie allein sind. Egal, wie sich die Situation entwickele: "Wir haben eine psychiatrische Notfallversorgung in Deutschland", sagt der Psychiater und Psychotherapeut. Diese dürfen und sollen alle in Anspruch nehmen, die merken, dass es nicht alleine geht. Es gibt Hotlines (siehe oben), Therapeuten bieten, wenn man Glück hat, telefonische Sprechstunden an und "bevor man etwas macht, das nicht rückgängig zu machen ist", gibt es die ambulante und stationäre Psychiatrie und Psychotherapie, die darauf vorbereitet ist.

Als die Situation in Deutschland noch nicht so angespannt war, hat Lea über die Hamsterkäufer gelacht. "Plötzlich haben sich viele so verhalten, wie wir Zwängler uns am liebsten immer verhalten würden."

Solange es noch möglich ist, geht Lea täglich raus, um kleine Einkäufe zu machen. Platz, um Vorräte zu horten, habe sie eh keinen. "Wer Risikogruppen beim Einkaufen helfen will: Unbedingt. Aber bitte kauft nicht für eure Freunde ein, weil sie Angst haben. Das macht es nur schlimmer." Besser sei zuzuhören, da zu sein, und zuzugeben, dass man auch verunsichert ist. Normalerweise hilft es ihr, sich mit Betroffenen auszutauschen, um sich nicht so allein zu fühlen. Aber auch wenn man nicht psychisch krank ist: Betroffen sind wir gerade alle.

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