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Anatomiebücher haben jahrhundertelang weibliche Genitalien zensiert

Scheinbar ist die Angst vor der Klitoris kein Phänomen des 21. Jahrhunderts.
Photo by Wellcome Images via Wikimedia Commons

Forscher der University of Cambridge haben vor Kurzem ein Anatomiebuch aus dem 16. Jahrhundert entdeckt, das eine einzigartigen Besonderheit hatte: An der Stelle, an der die Vagina zu sehen sein sollte, war ein kleines Dreieck ausgeschnitten – ein perfektes Sinnbild für die Verleugnung der weiblichen Sexualität in der westlichen Welt. Doch dieses kleine Dreieck ist weitaus mehr, als eine treffende Metapher: Tatsächlich wurden Vulven in medizinischen Büchern und anatomischen Darstellungen jahrhundertelang wortwörtlich ausradiert und zensiert.

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Der Großteil unseres medizinischen Kenntnisse im ersten Jahrtausend nach Christus stammten von dem bekannten griechischen Arzt Galen, der die menschliche Anatomie an Hunden, Schweinen und Affen erforschte. Doch selbst als Anatomen anfingen, menschliche Leichen zu präparieren, waren die meisten von ihnen männlich, sagt Dr. Brandy Schillace, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Dittrick Medical History Center. Andreas Vesalius, der Vater der Anatomie und der Autor des 1543 erschienenen Buchs Über den Bau des menschlichen Körpers, glaubte sogar, dass die Klitoris nur bei Hermaphroditen vorkommen würde. Außerdem hat er Gefäße zwischen der Vagina und den Brüsten eingezeichnet, weil er dachte, dass Menstruationsblut in der Schwangerschaft zu Milch werden würde.

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Schillace hat noch von keinen anderen Zeichnungen gehört, aus denen Körperteile ausgeschnitten wurden. Allerdings gab es in der Zeit der Renaissance Anatomiebücher, die gewisse Körperteile mit "herunterfallenden Blättern" überdeckten. Einige ließen die reproduktive Anatomie auch komplett weg oder entschuldigten sich schon vorab für den Fall, dass das Buch in die falschen Hände geriet, sagt Scottie Hale Buehler, Doktorand an der geschichtlichen Fakultät der University of California in Los Angeles. Die Entscheidung, die Bücher in der jeweiligen Landessprache und nicht mehr nur in Latein zu verfassen, war höchst umstritten, weil das auch bedeutete, dass sie jeder lesen konnte.

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Während einige Forscher alles daran setzten, die weiblichen Sexualorgane zu verstecken, gingen andere dazu über, den weiblichen Körper in ihren Zeichnungen extrem zu sexualisieren. "Sie sollten möglichst lebensecht aussehen und wurden mit Gesichtern, Frisuren und sogar Schmuck dargestellt. Wenn die Zeichnungen farbig waren, bekamen sie einen rosigen Teint", sagt Schillace. Das Buch De conceptu et generatione hominis zeigt beispielsweise eine Frau mit langen, wallenden Haaren und einem offenen Torso, der dem Betrachter die Sicht auf ihre Geschlechtsorgane ermöglicht.

Sie gingen davon aus, dass die Gebärmutter keine echte Funktion hatte.

Im Verlauf des 18. Jahrhunderts mussten diese überhöhten Darstellungen einfachen Schaubildern weichen. Geburtshelfer verdrängten Frauen damals immer weiter aus dem Beruf der Hebamme. Einer von ihnen war William Hunter, der den holländischen Künstler Jan Van Rymsdyk beauftragte, um Zeichnungen einer schwangeren Frauen zu erstellen. "Die beiden Darstellungen verzichteten auf Gesichter und einen lebendigen Körper", erklärt Schillace. "Die Frau wurde fortan nur noch fragmentarisch dargestellt – meist sah man nur den Uterus."

Die Zeichnungen spiegelten auch die kulturelle Wahrnehmung des weiblichen Körpers wider, der als passives Gefäß betrachtet wurde, das vor allem dem Gebären von Kindern diente. William Smellie, einer der einflussreichsten Geburtshelfer des 18. Jahrhunderts, war der Erste, der darüber schrieb, dass sich die weibliche Beckenmuskulatur während der Geburt eines Kindes bewegt. "[Die anderen Anatomen] hatten die Frau immer nur als Gefäß betrachtet. Sie gingen davon aus, dass die Gebärmutter keine echte Funktion hatte", sagt Schillace. "Stattdessen glaubten sie, der Fötus würde sich bei der Geburt bewegen und sich aus der statischen Gebärmutter freikämpfen."

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Doch auch als die Darstellung der weiblichen Anatomie akkurater wurden, wurde ein entscheidender Teil der Vagina noch immer ausgelassen: die Klitoris. "Die Klitoris wurde im Verlauf der Geschichte immer wieder 'neu entdeckt'", erklärt Buehler. Eine der entscheidendsten Entwicklungen fand im späten 16. Jahrhundert statt: Ärzte brachten die Klitoris nicht länger ausschließlich mit Hermaphroditismus und Lesbianismus in Verbindung, sondern begannen, sie als normalen Bestandteil der weiblichen Anatomie zu betrachten.

Um 1901 erschien eine Ausgabe von Gray's Anatomy, die eine Klitoris zeigt. Allerdings wurde sie in der Ausgabe von 1948 schon wieder zensiert, weil man sich "Sorgen um die soziale Hygiene und die Moral machte", sagt Dr. Alicia D. Bonaparte, Professorin für Soziologie am kalifornischen Pitzer College. "Sie hatten Angst vor der Klitoris, weil sie ein Zentrum der Lust darstellt."

Laut Buehler verkörperte die Klitoris „viele frauenfeindliche Ängste, die die Menschen gegenüber dem sexuellen Lustempfinden hatten; zum Beispiel, dass Frauen auch ohne Penetration und Penisse zum Höhepunkt kommen können."

Inzwischen wird die Klitoris in anatomischen Schemazeichnungen dargestellt, aber auch nicht komplett. Man sieht nur selten, dass sie eine Haube und Verästelungen hat, die weit in die Vagina hineinragen. Ganz unabhängig von unserem limitierten Verständnis von sexuellem Lustempfinden, können solche fehlenden Informationen auch sehr gefährlich sein, sagt Buehler. Viele Ärzte sind sich beispielsweise überhaupt nicht bewusst, dass bei einem Dammschnitt – also einem Einschnitt in den Damm und die hintere Scheidenwand während der Geburt – auch klitorales Gewebe verletzt werden kann.

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Auch die Versorgung des weiblichen Genitalbereichs nach operativen Eingriffen wie der Entfernung der Gebärmutter oder Kaiserschnitten bleibt ein großes Fragezeichen, sagt Dr. Debby Herbenick, Professorin für Gesundheitswissenschaften an der Indiana University und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kinsey Institute. "Wir wissen noch viel zu wenig über die Klitoris. Das macht es auch so schwer, alle möglichen Folgen und Komplikationen korrekt abzuschätzen", ergänzt Buehler.

Wir wissen noch viel zu wenig über die Klitoris.

Herbenick zufolge werden auch andere Teile der Vulva werden nach wie vor nur sehr ungenau abgebildet. So werden beispielsweise die Schamlippen noch immer symmetrisch dargestellt, obwohl sie das in der Regel nicht sind. Außerdem sieht die Vagina in den meisten Fällen wie ein klaffendes Loch aus, das nur darauf wartet, das etwas hineingesteckt wird. Tatsächlich berühren sich die Scheidenwände aber normalerweise.

Manchmal wird die Klitoris auch noch immer als verkümmerter Penis bezeichnet. Männliche Körperteile werden hingegen nie mit weiblichen verglichen, sagt Herbenick. Einige Biologen gehen sogar davon aus, dass sich die Klitoris aus dem Penis entwickelt hat. Dr. Robert James King, Wissenschaftler an der Hochschule für Angewandte Psychologie am University College Cork, findet diese Theorie irreführend, weil der Fötus zunächst weibliche Merkmale besitzt. Außerdem, sagt er, ist die Klitoris größer als ein schlaffer Penis, sehr viel komplexer, mit verschiedenen Regionen im Gehirn verbunden und die Harnröhre führt auch nicht durch sie hindurch.

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Die Auffassung, Frauen seien andersartige Männer, "setzt den chronischen Mythos fort, der weibliche Körper sei unnatürlich oder anormal. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass Normalität nur dem männlichen Körper zugeschrieben werden kann", sagt Bonaparte. "Das zeigt mal wieder ganz deutlich, wie und warum der weibliche Körper noch immer als profan und zum Teil auch krankhaft betrachtet wird."

Es mag sich viel verändert haben, seit man in Wissenschaftler davon ausging, dass die Klitoris nicht weiter als eine Missbildung und die weibliche Beckenmuskulatur unbeweglich sei. Trotzdem spukt die Auffassung, Frauen seien im besten Fall nur unterentwickelte Männer und im schlimmsten Fall nichts weiter als Brutkästen, noch immer durch die Fachliteratur.

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Foto: Wellcome Images | Wikimedia Commons | CC BY 4.0