Wenn Religion psychisch kranke Menschen zu "Besessenen" macht
Illustration by Eleanor Doughty

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Psychische Gesundheit

Wenn Religion psychisch kranke Menschen zu "Besessenen" macht

Als Nadia ihren tief gläubigen Eltern von ihrer Depression erzählt, bringen die sie zu einem religiösen Heiler. Um den anschließenden "Exorzismus"zu verarbeiten, brauchte sie Jahre.

Nadia* hatte ihre gesamten Jugend hinweg Schwierigkeiten, Freude im Leben zu finden.

"Im Laufe der Zeit bekam ich das Gefühl, als würde ich den Boden unter den Füßen verlieren", sagt sie. "Es fühlte sich an, als wäre mein Leben eine vollkommene Verschwendung, weil die Gesellschaft der Meinung war, dass ich nichts wert wäre. Der Druck, jemand zu sein, der man nicht ist, ist unglaublich groß."

Um ihren 18. Geburtstag herum wurde aus ihrer Angst eine vollausgewachsene Depression. Sie fühlte sich wertlos, litt unter Angstzuständen und manchmal schaffte sie es kaum, aus dem Bett aufzustehen. Nadia wurde klar, dass sie sich Hilfe suchen musste, also wandte sie sich zur Unterstützung an ihre Eltern – was sich als Fehler herausstellte. Ihre Eltern brachten sie zu einem religiösen Heiler (auch bekannt als Wunder- oder Naturheiler), der einen Exorzismus an ihr durchführte. Sie glaubten, Nadia wäre besessen. Der Heiler sah das ähnlich und erklärte, dass aufgrund ihres mangelnden Glaubens böse Geister Besitz von ihr ergriffen hätten.

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"Er gab mir irgendetwas Komisches zu trinken und ließ mich aus dem Koran zitieren. Anschließend würgte er mich mit zwei Fingern, bis ich ohnmächtig wurde", sagt Nadia. "Als ich wieder zu mir kam, überzeugte er meine Eltern davon, dass ich eindeutig besessen sei, denn wenn ich es nicht wäre, dann wäre ich nicht ohnmächtig geworden. Dabei konnte man die Würgemale an meinem Hals deutlich erkennen." Ihre Eltern dachten, es sei Teil der Rituals.

Nach dem Exorzismus behauptete der religiöse Heiler, dass sie noch zehn weitere solcher Sitzungen bräuchte, um die Dämonen auszutreiben. Nadia weigerte sich und drohte ihren Eltern damit, sich umzubringen, wenn sie versuchen würden, sie wieder zu dem Heiler zu bringen. Sie beschreibt die Sitzung als "die reinste Hölle".

Mittlerweile kann sie die Situation allerdings mit Humor sehen. "Da bin ich nun, zehn Jahre später und ganz offensichtlich noch immer 'besessen'", lacht Nadia. "Ich musste lernen, allein durch den Tag zu kommen."

Ob es sich nun um Schamanen in Ecuador und Russland handelt oder christliche Religionsführer in den USA: religiöse Heiler gibt es in allen möglichen Religionen auf der ganzen Welt. Meistens haben sie kaum oder überhaupt kein psychologisches oder medizinisches Hintergrundwissen und verdienen ihren Lebensunterhalt mit der Durchführung von religiösen Ritualen und dem Heilen von Menschen, die unter übernatürlichen Problemen wie zum Beispiel einer Besessenheit leiden. Ein Forscher der Universität von Stanford formulierte: "Das Konzept und die Praktik von Exorzismen finden sich in allen Kulturen und in der gesamten Geschichte."

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Auch muslimische Gemeinden im Mittleren Osten greifen auf Wunderheiler zurück: Laut dem Pew Research Center geht knapp die Hälfte der Bevölkerung im Irak (47 Prozent), in Ägypten (44 Prozent), den Vereinigten Arabischen Emiraten (45 Prozent) und Jordanien (42 Prozent) zu traditionellen muslimischen Heilern. "Der Volksglaube in den Kulturen des Mittleren Ostens", heißt es in einem Bericht des International Journal of Social Psychiatry, "betrachtet psychische Erkrankungen traditionell als Strafe Gottes, das Resultat einer Besessenheit durch böse Geister (Dschinn), die Effekte des 'bösen Blicks' oder böser Geister, die sich in bestimmten Objekten befinden und auf den Menschen übergehen können."

Abdul Majeed Ali Hasan, ein Imam im Ministeriums für Islamische Angelegenheiten der Regierung der Vereinigten Arabischen Emirate, sagte in einem Interview, dass es sich bei der Mehrzahl der Fälle um psychologische Erkrankungen handle, die "fälschlicherweise für eine Besessenheit gehalten werden." Er meinte auch, dass der Aberglaube der Menschen oft dazu führe, dass sie denken, dass sie selbst besessen seien.

"Viele Menschen, die zu einer [spirituellen] Behandlung kommen, sind weder krank noch besessen. Ihre Krankheiten sind lediglich eingebildet, weil sie sich Horrorfilme ansehen und Romane lesen, die diese Vorstellung verbreiten", sagt Hasan.

Das fehlende Bewusstsein für psychische Erkrankungen in muslimischen Gemeinden hat die klinische Psychologin Dr. Nafisa Sekandari dazu veranlasst, ein Webseite zu gründen, die die Menschen über psychische Erkrankungen aufklären soll.

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"Wir glauben, dass Aufklärung der Schlüssel ist. Das ist der Hauptgrund, warum wir unsere Webseite gegründet haben: Mentalhealth4muslims.com", sagt Dr. Sekandari. "Viele [religiöse Heiler] nutzen die Menschen, denen das entsprechende Wissen fehlt, finanziell aus."

Dr. Sekandari lebt in den USA. Auch dort hat sie schon erlebt, dass sich Menschen nicht in ärztliche Behandlung begeben, weil sie eine psychische Erkrankung für eine Besessenheit halten. Sie sagt, dass sich Betroffene oft darauf konzentrieren, böse Geister auszutreiben, anstatt an den tatsächlichen zugrundeliegenden Problemen zu arbeiten. Ihr ist es wichtig ihren Patienten klarzumachen, dass der Koran nicht nur über übernatürliche Besessenheit spricht, sondern auch lehrt, dass es psychische Erkrankungen gibt. Anschließend bietet sie ihnen einen "multimodalen Ansatz" an, der sicherstellt, dass sie die psychologische Unterstützung bekommen, die sie brauchen und den Islam dennoch mit in die Behandlung einschließt.

"Ich denke nicht, dass es notwendig ist, Religion von der Behandlung zu trennen. Ich glaube, dass man jeden Anknüpfungspunkt für eine erfolgreiche Behandlung nutzen kann", sagt Dr. Sekandari. "Für einige ist es das Gebet, also setzt man das Gebet zusätzlich zu den traditionellen Behandlungsmethoden wie Medikamenten und einer Therapie ein. Die größten Erfolge sehe ich bei meinen Patienten, wenn ich sie da abhole, wo sie stehen, anstatt von ihnen zu erwarten, das sie sich komplett ändern."

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Alle meine Freunde aus dem Ausland sprechen über psychische Erkrankungen, als wäre es ganz normal. In meiner Kultur ist es aber ganz und gar nicht normal.

Die Aufklärung der Leute ist für eine angemessene Behandlung allerdings unerlässlich, sagt Dr. Sekandari. Entsprechend müssen auch Imame (muslimische Religionsführer) aufgeklärt werden, da sie oft ein Vorbild für die gesamte Gemeinde sind. Das betrifft auch den Umgang mit religiösen Heilern, sagen Dr. Sekandari und ihre Kollegen von Mentalhealth4muslims.com, weswegen sie Fortbildungen über psychische Erkrankungen für Imame abhalten.

Nadia wurde klar, dass sie unter Depressionen leidet, nachdem sie sich bei den entsprechenden Quellen informiert hat. Allerdings ist sie nicht in der Lage, ihre Probleme mithilfe eines Arztes oder eines Psychologen zu bearbeiten oder zu bewältigen, weil die Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen in Saudi Arabien nach wie vor extrem groß ist. Nur bei ihren internationalen Freunden hat sie das Gefühl, offen über ihre Depression sprechen zu können. Von ihnen fühlt sie sich nicht verurteilt.

"Alle meine Freunde aus dem Ausland sprechen über psychische Erkrankungen, als wäre es ganz normal", sagt Nadia. "In meiner Kultur ist es aber ganz und gar nicht normal, sondern 'verrückt'."

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Nadia arbeitet in einem internationalen Unternehmen und hat so auch ihre Freunde kennengelernt. Doch allein zur Arbeit zu gehen, fällt ihr wegen ihrer Erkrankung oft unglaublich schwer. Sie leidet mittlerweile schon seit zehn Jahren unter Depressionen – ein langer und "dunkler" Kampf, der es ihr oft schwer macht, aus dem Bett aufzustehen. An Tagen, an denen es ihr besonders schlecht geht, hat sie oft das Gefühl, als würde sie "zerbrechen". Dennoch konnte sie bisher noch keine Beratungsstelle finden, die "aufhört, alles zu spiritualisieren".

"Religion und Psychologie müssen voneinander getrennt werden – ganz besonders für uns Frauen, die wegen dieser schrecklichen Umstände unter Depressionen leiden und keine Hilfe finden können und werden", sagt Nadia. "Die Gesellschaft muss sich auch von dieser Scham gegenüber psychischen Erkrankungen lösen und aufhören zu sagen, dass Menschen der Glaube fehlt, ihr Glaube zu schwach ist oder dass sie besessen sind! Spiritualität ist wichtig, aber es bedeutet nicht, dass man leugnen kann, was wirklich vor sich geht. Das macht alles nur noch schlimmer."


*Name wurde geändert.