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Politik

Rassismus in Frankreich ist auch nach Le Pens Niederlage ein Problem

Muslimische Frauen erklären, warum eine Wahl ihr Land nicht verändert – und weshalb sie den Glauben in Politiker aufgegeben haben.
Photo by Thomas Brémond

Am Sonntag mussten sich die Franzosen in der finalen Wahlrunde zwischen Emmanuel Macron, dem liberalen Kandidat der unabhängigen Partei En Marche! (zu Deutsch: "In Bewegung") und Marine Le Pen, der ehemaligen Vorsitzenden des rechten Front National, entscheiden.

Le Pen führte einen erschreckend einwanderungs- und islamfeindlichen Wahlkampf. In einer ihrer Reden bezeichnete sie Multikulturalismus als "die Waffe islamistischer Fundamentalisten, die von den nützlichen Idioten unter dem Deckmantel der Toleranz einfach hingenommen wird." Im Falle eines Wahlsiegs, hätte sie religiöse Symbole wie die Hidschab im gesamten öffentlichen Raum verboten und eine Obergrenze von jährlich 10.000 Zuwanderern eingeführt.

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Für die muslimischen Frauen des Landes waren Le Pens Forderungen allerdings nichts neues. Frankreichs anhaltender Rechtsstreit über die Hidschab begann 2004, als Vollverschleierungen wie die Burka und der Niqab verboten wurden. Menschen, die im öffentlichen Dienst arbeiten, wie zum Beispiel Lehrerinnen, dürfen derweil noch nicht einmal eine Hidschab tragen.

Sechs muslimische Aktivistinnen und Feministinnen haben mit uns vor der Wahl über ihre Sorgen und Hoffnungen gesprochen – und erklärt, warum manche von ihnen nicht wählen gehen.

Foto: Thomas Brémond

Imane Chinoune, 25, Sozialwissenschaftsstudentin, Paris

Wenn Frauen zu Sexobjekten gemacht werden und nackt in der Werbung oder in Musikvideos tanzen, dann ist das auch eine Form der Unterdrückung. Die Hidschab befreit mich von alldem. Andere sollten mich an meinen Ideen messen und nicht an meinem Körper. Allerdings möchte ich als muslimische Feministin für die Rechte aller Frauen kämpfen. Wenn sich eine Frau oben ohne zeigen oder einen Minirock tragen möchte, ist das nicht mein Problem. Sie kann tun, was sie möchte.

Hierzulande gibt es Frauen, die die Hidschab tragen wollen und in anderen Ländern gibt es Frauen, die dafür kämpfen, sie nicht tragen zu müssen. Das ist von Land zu Land unterschiedlich. Ich kenne leider einige Mädchen, die sich dazu gezwungen fühlen, das betrifft nur eine Minderheit – vielleicht zwei oder drei Frauen unter Dutzenden anderen, die die Hidschab aus freien Stücken tragen.

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Der Islam ist ein Teil von Frankreich. Französische Muslime sollten nicht als fremdartig angesehen werden. Erst wenn wir nicht mehr diskriminiert und marginalisiert werden, wird sich unsere Situation verbessern. Ich gehe wählen, weil ich es als meine Pflicht betrachte.

Foto: Thomas Brémond

Leyla Larbi, 27, Aktivistin, Bordeaux

In der letzten Generation wollten weniger Frauen die Hidschab tragen, als in unserer. Unsere Mütter und Großmütter wollten sich möglichst schnell in die französische Gesellschaft integrieren. Die Hidschab wurde immer wieder infrage gestellt und als Symbol der Unterdrückung dargestellt. Deswegen sind wir zu unseren religiösen und kulturellen Wurzeln zurückgekehrt.

Muslimische Feministinnen finden Trost darin, sich ihre religiöse Identität so bestätigen zu können. Wir tragen die Hidschab nicht, weil wir es Sarkozy oder Le Pen damit heimzahlen wollen. Die französische Integrations- und Assimilationsmodell erkennt die Vielfalt unserer Identitäten einfach nicht an. Keine politische Partei respektiert meine Identität, weswegen ich auch nicht wählen gehe. Ich respektiere aber jeden, der es tut.

Foto: Thomas Brémond

Hawa Ndongo, 25, Studentin, Seine-et-Marne

Ich habe angefangen die Hidschab zu tragen, als ich 20 war. Es war eine spirituelle Reise. Die Hidschab soll die Beziehung zu Gott symbolisieren und um diese Beziehung zu vertiefen, habe ich mich dafür entschieden. Ob andere es nun akzeptieren oder nicht, ich werde sie auch weiterhin tragen.

Uns wird immer wieder gesagt, dass die Hidschab ein Symbol der patriarchalen Unterdrückung sei. Dieses Argumente ist verdammt alt. Frauen sollten mit ihrem Körper machen dürfen, was sie wollen und sie sollten tragen dürfen, was sie wollen, ohne dafür verurteilt oder stigmatisiert zu werden.

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Ich habe lange gezögert, wählen zu gehen, weil wir uns die Mehrheit der Kandidaten nicht repräsentieren, sondern eher das Gefühl geben, Bürger zweiter Klasse zu sein. Schlussendlich habe ich mich doch entschieden, wählen zu gehen und gegen Le Pen zu stimmen. Ich möchte nicht, dass sich die Lage für die schwächsten Bevölkerungsgruppen Frankreichs noch weiter verschlechtert.

Foto: Addeli Falef

Nargesse Bibimoune, 25, Autorin und Aktivistin, Grenoble und Toulouse

Extreme Debatten sind inzwischen zur Normalität geworden. Frankreichs Frauenrechtsbeauftragte hat Muslima, die die Hidschab tragen, schon mal mit schwarzen Sklavinnen verglichen, die "Sklaverei befürworten." Wenn Politiker kein Problem damit haben, so über uns zu sprechen, warum sollte es dann bei den Menschen auf der Straße anders sein?

Ich begegne immer wieder Menschen, die mir sagen, dass ich die Hidschab nur aus Trotz gegen die französischen Werte tragen würde und dass sie nur ein Ausdruck meiner jugendlichen Rebellion sei. Ich habe auch schon gehört, dass Menschen die Hidschab mit einem Tanga verglichen haben. Man stößt immer wieder auf dieselben negativen Reaktionen, wenn Frauen selbst über ihren Körper entscheiden.

Ich gehe nicht wählen, weil ich glaube, dass es politisch nicht notwendig ist, alle fünf Jahre einen neuen Präsidenten zu wählen. Ich fühle mich von keinem von ihnen repräsentiert. Heutzutage hat keiner mehr Angst vor dem Front National. Selbst wenn Le Pen an die Macht gekommen wäre, hätte es sicher Menschen gegeben, die sich gegen sie gestellt hätten.

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Foto: Thomas Brémond

Hada Korera, 22, Pflegerin, Val D'Oise

Rassismus ist in Frankreich nach wie vor ein großes Problem. Vor ein paar Jahren habe ich mit meiner Familie Urlaub in Tréport gemacht, einer Küstenstadt im Norden Frankreichs. Ich saß in unserem Auto, das am Straßenrand geparkt war und habe auf meine Geschwister gewartet. Ein Auto kam vorbei, in dem ein Ehepaar mit seinen beiden Kinder saß. Sie kurbelten ihre Fenster runter und schrien: "Aus dem Weg, du dreckige Schwarze!" Zwei Jahre vorher wurden meine Schwester und ich in derselben Stadt von einem acht- oder neunjährigen Kind als "Affen" bezeichnet.

Ich gehe nicht wählen, weil ich mich von keinem der Kandidaten repräsentiert fühle. Es mag vielleicht hart klingen, aber: Es ist egal, wer gewinnt. Es wird sich so oder so nichts ändern.

Foto: Thomas Brémond

Hanane Karimi, 37, Soziologie-Doktorandin, Straßburg

Vergangenen Januar habe ich den Senat in Paris besucht und saß zufällig vor einer Gruppe von Feministinnen. Als ich mich für Frauen stark gemacht habe, die die Hidschab tragen, haben sie mich ausgebuht. Ich bin ruhig geblieben und erst in Tränen ausgebrochen, als ich wieder zurück in Straßburg war. Es macht mir allerdings Hoffnung, wenn ich erlebe, wie sich junge Muslima mit anderen Minderheiten solidarisieren – zum Beispiel mit homosexuellen Gruppen. Das wäre vor 15 Jahren noch undenkbar gewesen.

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Der derzeitige Anstieg von Islamfeindlichkeit ist ziemlich gefährlich. Wir befinden uns auf direktem Weg in eine faschistische Sackgasse. Einmal kam im Supermarkt ein Mann auf mich zu und meinte: "Eines Tages wird ein zweiter Hitler kommen und euch alle vernichten." Natürlich gibt es auch terroristische Gruppen, die die Demokratie gefährden, aber der Großteil der Muslime übt ihre Religion ganz individuell und unpolitisch aus. Sie mit Terroristen gleichzusetzen, kommt einer Hetzjagd gleich.

Politiker wollen uns überhaupt nicht verstehen. Wann werden wir endlich anfangen, Frankreich nicht als ausschließlich weißes, sondern vielfältiges Land zu sehen? So dramatisch die Folgen von einem Wahlsieg Le Pens auch gewesen wären – manchmal frage ich mich, ob wir so einen politischen Tsunami nicht bräuchten, um anschließend von vorne anzufangen.

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